„Toxisch, das sind immer nur die anderen“
Jede dritte Frau ab dem Alter von 15 Jahren in Österreich hat körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Pro Monat werden durchschnittlich drei Frauen ermordet. Die Täter kommen in den meisten Fällen aus dem familiären Umfeld, sind Partner oder Ex-Partner und haben nicht gelernt, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Hier setzt die Täterarbeit an. Ein Gespräch mit Psychotherapeut Alexander Haydn von der Männerberatung Wien über toxische Männlichkeit, Primärprävention und Männergewalt als tief verwurzeltes Gesellschaftsproblem.
Gewaltdelikte gehen zum Großteil von Männern aus. Bisher hatten Kampagnen zu Gewalt gegen Frauen den Opferschutz im Fokus, zuletzt gab es mit Mann spricht’s an eine Kampagne, in der die Täter angesprochen werden. Ist das hilfreich?
Bei Gewalt in Beziehungen oder Familien stehen so oft die Frauen im Mittelpunkt, weil das der wichtigste Faktor ist. Täterarbeit funktioniert aus meiner Sicht nur mit einem opferbasierten Ansatz. Das bedeutet, dass wir mit einer Beratungsstelle Kontakt haben, bei der das Opfer in Beratung ist, und wir uns fallbezogen mit dieser Beratungsstelle ganz individuell über das einzelne Familiensystem austauschen. Täterarbeit isoliert betrachtet ist aus meiner Sicht nicht sehr zielführend, weil Männer wiederum sehr schnell dazu neigen, die Dinge auf die Seite zu schieben, zu bagatellisieren, mit anderen Dingen abzulenken, die sie gerade beschäftigen.
In den 2000er Jahren war es so, dass alles in die Opferschutzeinrichtungen, in Frauenhäuser investiert wurde. Wir haben aber gesehen, dass das alleine nicht reicht. Dass es genauso wichtig ist, mit Tätern zu arbeiten, ist mittlerweile State of the Art. Inzwischen arbeiten alle internationalen Programme mit diesem opferschutzorientierten Täteransatz.
Wie sieht die Arbeit mit gewalttätigen Männern aus?
Wir haben in der Männerberatung ein Trainingsprogramm für Männer, die Gewalt in der Familie ausüben. Wir testen Männer vorher klinisch-diagnostisch und sehr ausführlich. So haben wir ein klares Bild, mit wem wir es zu tun haben. Das ist wichtig, weil es z.B. wenig Sinn macht, jemanden mit einer Suchtproblematik in ein Antigewalttraining zu schicken, wenn er sich nicht parallel oder vorher um sein Suchtthema kümmert. Ein Mann, der in der Gruppe nüchtern ist, versteht alles und kann alles nachvollziehen – am Samstag am Abend, wenn er betrunken nach Hause kommt, schaut die Welt ganz anders aus. Da selektieren wir aus und bieten andere Lösungen an. Auch Männer mit Persönlichkeitsstörung, insbesondere narzisstisch oder antisozial, sind nicht für solche Veränderungsprogramme geeignet. Da braucht es Einzeltherapien.
Und dann arbeiten wir mit einer Opferschutzeinrichtung gemeinsam, aktuell ist es die ambulante Opferschutzeinrichtung der Wiener Frauenhäuser. Das heißt, Männer sind bei uns im Antigewalttraining angebunden, in einer wöchentlichen Gruppe. Die Frauen sind bei der Opferschutzeinrichtung angebunden, und wir tauschen uns regelmäßig über das Familiensystem aus. Also wenn am Abend gestritten wird und der Mann schmeißt wieder sein Handy an die Wand – da muss es noch gar nicht zu körperlicher Gewalt gekommen sein – dann werden wir ganz konkret darüber informiert, und in der nächsten Gruppensitzung wird dem Mann in der Eröffnungsrunde die Möglichkeit geboten, über sein Aggressionsverhalten in dieser Woche zu sprechen. Wenn er das nicht macht, wird er damit konfrontiert.
Männer in unserem Trainingsprogramm sind rund ein Jahr bei uns, und das braucht es auch, um eine nachhaltige Verhaltensänderung auszulösen.
Welche Männer kommen zu Ihnen? Gibt es auch welche, die das freiwillig machen?
Rund 30 Prozent der Männer kommen über das Justizsystem zu uns. Der zweite Zugang ist über die Kinder- und Jugendhilfe. Wenn Betretungsverbote ausgesprochen werden und Kinder im Haushalt sind, werden Männer verpflichtet, ein Antigewalttraining zu absolvieren. Das sind wieder rund 30 Prozent. Und rund 40 Prozent, also der Rest, kommt zu uns „eingeschränkt freiwillig“. Weil entweder die aktuelle Partnerin oder die Mutter, der Vater, der beste Freund auf den Mann einwirken und sagen: Du hast ein Problem, da gibt’s eine Beratungsstelle, lass dir helfen. Der tatsächlich freiwillige im Sinne von reflektierte Mann, der sagt, „Ich habe ein Problem, ich muss das ändern“, den muss man mit der Lupe suchen.
Etwa ein Drittel der Männer, die bei uns als Täter ankommen, waren als Kind selbst Opfer. Egal ob es sozusagen physisch die Schläge selber bekommt oder nur zuschaut. Das sind Narben, die 30 Jahre später wieder aufspringen. Das sind dann Zehnjährige, die mit 18 möglicherweise vor dem Richter sitzen, weil sie dasselbe mit ihrer Freundin gemacht haben. Auch das ist ein interessanter Faktor – dass Männer, die sich als Kind geschworen haben, ich möchte nie so werden wie der Papa, dass die in bedrängten Situationen dasselbe Verhaltensmuster anwenden. Männer sagen dann: Bevor ich noch einmal Opfer werde, werde ich zum Täter. Und das ist ganz unbewusst, das ist keine kognitive Entscheidung.
Das Budget gegen Männergewalt wurde von der Regierung von bisher jährlich 4 Millionen auf 7 Millionen Euro für das Jahr 2023 erhöht. Ist Ihre Finanzierung damit auch längerfristig gesichert? Wird Täterarbeit vom Staat genügend unterstützt?
Wir finanzieren uns grundsätzlich über öffentliche Förderungen, wir sind eine NGO. Männer müssen bei uns aber auch einen Selbstkostenbeitrag bezahlen. Nicht nur zur Finanzierung, sondern auch damit es einen Wert darstellt: Wir haben die Erfahrung gemacht, wenn etwas kostenlos ist, dann ist es auch in den Köpfen der Männer nichts wert. Der Selbstkostenbeitrag ist sozial gestaffelt, wir schicken also niemanden weg, weil er nichts zahlen kann.
Ansonsten werden wir von verschiedenen Ministerien direkt gefördert: vom Innen-, vom Familienministerium und seit letztem Jahr vom Sozialministerium mit einem großen Block. Also da rede ich jetzt vom Dachverband für ganz Österreich, da bekommen wir zwei Mal eine Million Euro. Also wir haben rund eine Million für gewaltpräventive Männerarbeit im DMÖ (Dachverband für Männer-, Burschen- und Väterarbeit in Österreich, Anm.) und rund eine Million für gewaltpräventive Jugendarbeit im DMÖ, die auf 22 oder 23 Einrichtungen österreichweit aufgeteilt wird. Und auch die Stadt Wien fördert einen großen Anteil an Antigewaltarbeit.
Hier hat es ein massives Umdenken gegeben. Wenn ich mich erinnere, vor zehn Jahren hat es in Österreich generell für Täterarbeit knapp eine halbe Million Euro an Bundesförderung gegeben. Mittlerweile ist auch in der Regierung angekommen, dass Täterarbeit ein wichtiger und wesentlicher Beitrag zum präventiven Opferschutz ist.
Und damit wird genug getan?
Was mir in diesem Punkt noch wichtig erscheint, ist, dass es gerade in der Arbeit mit Männern klar wird, dass es ein langfristiges Veränderungsprogramm ist, das heißt, es braucht auch langfristige Maßnahmen. Im Gewaltschutzgesetz ist eine verpflichtende Beratung für sechs Stunden in einem Gewaltpräventionszentrum vorgeschrieben. Aber damit ist es nicht getan. Das ist ein ganz wichtiger Anfang, aber es braucht für einen Teil der Männer, die in diesen Zentren andocken, weiterführende, finanzierte Programme: Nämlich für den Teil, der als Hochrisikofälle eingestuft wird. Da sind diese sechs Stunden bei weitem nicht genug.
Da braucht es ein langfristiges Veränderungsprogramm, und das muss auch von der öffentlichen Hand finanziert werden, weil das ein Gesellschaftsproblem ist. Wir müssen auch die Zahl der Femizide verringern. Jede einzelne Frau, die durch Gewalt in der Familie stirbt, weil sie eine Frau ist, ist zu viel. Und da muss auch die öffentliche Hand etwas dafür tun, also sprich Geld in die Hand nehmen und sagen: Es gibt Fachleute, es gibt erfolgreiche, fundierte Programme, wir müssen sie nur anwenden.
Österreich gilt als ein Land mit einer relativ hohen Zahl an Femiziden. Woran liegt das?
Es ist leider so, dass diese patriarchalen Strickmuster auch im autochthonen Österreich tief verankert sind. Ich komme aus Kärnten, da gibt es in den Tälern ein tief verwurzeltes patriarchales System. Also das ist kein importiertes Problem. Ja, natürlich ist das auch etwa im arabischen Raum, im Iran, tief verwurzelt. Vielleicht ein Stück weit anders als bei uns. Die Ergebnisse sind aber leider dieselben – dass nämlich am Ende Frauen auf der Strecke bleiben. Da braucht es andere Ansätze, nämlich primäre Präventivarbeit, und die kann nur im Erziehungssystem ansetzen.
Wir müssen junge Männer, in Wahrheit ab dem Kindergartenalter, zu einer caring masculinity heranziehen. Dass Männer sich nicht nur über Wettbewerb definieren, sondern über Kooperation. Dass Männer im Familiensystem mithelfen, dass sie in der Kindererziehung mitarbeiten. Dass es nichts Ungewöhnliches ist, wenn ein Mann in Karenz geht. Das ist bei uns leider immer noch die Ausnahme, es gibt aber keinen guten Grund dafür. Dafür braucht es die Primärprävention, die in Schulen, in Kindergärten, aber vor allem auch in der pädagogischen Ausbildung stattfindet. In erster Linie müssen einmal die Pädagogen dahingehend geschult werden, dass dieses patriarchale System „Vater-Mutter-Kind“ ein Bild von vorgestern ist. Dass wir einfach in einer neuen Zeit leben, und dass wir diese Zeit auch in der Erziehung abbilden müssen.
Wie sieht es mit der Ausbildung bei der Exekutive aus? Zuletzt hat es ja einen Fall gegeben, wo eine Frau vom Notruf quasi abgewimmelt wurde und später Opfer eines Mordversuchs wurde. Wie leicht haben es Frauen, bei Gewalt Hilfe von der Polizei zu bekommen?
Die Polizei ist in den letzten 15 Jahren sehr gut ausgebildet, es gibt in jeder Dienststelle speziell geschulte Präventionsbeamte. In der Grundausbildung der Polizisten gibt es einen großen Gewalt-in-der-Familie-Block, ich bin da auch selbst in der Ausbildung tätig. Junge Polizisten haben da sehr viel Wissen, und es ist auch sehr leicht für Frauen, hier Zugang zu finden. Die Exekutive nimmt Gewalt in der Familie sehr ernst, und ist auch konsequent im Ausspruch von Betretungsverboten oder anderen polizeilichen Maßnahmen.
Sie haben caring masculinity angesprochen, quasi als Gegenpol zum derzeit gerne verwendeten Begriff toxic masculinity. Diese toxische Männlichkeit sehen viele Männer, auch wenn sie ein grundlegendes Bewusstsein für die Problematik haben, nur bei anderen. „Ich bin nicht so, nicht alle Männer sind so.“ Was sagen Sie so jemandem?
Ich glaube, da scheitert es in erster Linie an dem Bild, das von Gewalt in der Familie vermittelt wird. Wenn Medien über Gewalt in der Familie berichten, dann ist es in erster Linie ein Femizid, eine Körperverletzung, Knochen brechen, Blut spritzt. Tatsächlich ist es so, dass es zwar einen Anteil an Männern gibt, die körperlich gewalttätig sind, aber der viel größere Teil der Männer übt andere Gewaltformen aus. Psychische Gewalt, Abwertung, Erniedrigung, ökonomische Gewalt – also Frauen sozusagen kurzhalten, sich das Wechselgeld und den Kassabon vom Supermarkt zurückgeben lassen, die Bankomatkarte einbehalten, der Frau gar keinen Überblick über die Familienfinanzen geben. Das sind alles keine körperlichen, aber viel tragendere, subtilere Formen von Gewalt.
Und wenn Sie einen Mann mit toxischer Männlichkeit konfrontieren, dann sieht der in erster Linie: Nein, ich breche niemandem die Knochen, ich schlage niemandem ins Gesicht. Aber manchmal sind es genau diese Männer, die über Jahre und Jahrzehnte ihrer Frau gegenüber abwertend sind, die Frauen erniedrigen, die versuchen, Frauen zu manipulieren und zu steuern, etwa über den Zugang zu den Kindern. Das, was wir an körperlicher Gewalt sehen, ist meist nur die Spitze des Eisbergs. Dahinter ist tatsächlich ein riesiger Block an Gewaltformen in der Familie, die ähnlich wie ein steter Tropfen auf einen Stein auch ein großes Loch machen. Die sehr nachhaltig sind, und die auch für eine Frau schwer beschreibbar sind. Etwa wenn sie erzählt, wie sie sich vor ihrem Mann fürchtet, der immer wieder Andeutungen macht, der sie in ihrem Selbstwert systematisch erniedrigt, der sie von ihrer Familie und Freunden isoliert – da müssen Opferschutzeinrichtungen Frauen oft davon überzeugen, dass das, was sie erleben, tatsächlich Gewalt ist.
Und im Gegenzug müssen auch wir in der Männerberatung Überzeugungsarbeit leisten. Da sitzen oft Männer vor mir, die sagen: Ich weiß gar nicht, warum ich da bei Ihnen bin. Ich hab noch nie eine Frau körperlich angegriffen. Und erst dann beginnt die Arbeit, dem Mann das auch klarzumachen. Dann löst sich das Bild, dass toxische Gewalt immer körperliche Gewalt ist. Toxische Gewalt ist viel mehr psychisch, das sind subtilere Gewaltformen. Und das kann auch ein Grund sein, warum Männer dieses Bild von sich weisen. Toxisch, das sind immer nur die anderen.
Wie kooperativ sind denn dann solche Männer, oder generell die Männer, die zu Ihnen kommen?
Anfangs einmal gar nicht. Eine Veränderungskurve beginnt mit Abwehr, also Widerstand. „Ich war das nicht, die Frau übertreibt, das war gar nicht so schlimm.“ Bagatellisieren, die Schuld jemand anderem geben, „Ich wurde provoziert“. Diesen Widerstand zu überwinden, ist die erste Aufgabe in einem therapeutischen oder verhaltensändernden Kontext.
Wenn dieser Widerstand überwunden ist, dann sind Männer sehr kooperativ. Dann sind sie im ersten Moment kognitiv einsichtig, sie verstehen, was sie gemacht haben, sie verstehen dann auch meistens, was sie angerichtet haben – und viele sind auch bereit, sich zu ändern. Aber das braucht eben seine Zeit, deshalb diese langfristigen Programme. Das ist ein Prozess, der immer wieder Reflexion braucht.
Wie sieht es mit dem österreichweiten Angebot aus? Gibt es in allen Bundesländern niederschwelligen und ausreichenden Zugang?
Zu Beratung gibt es in allen Bundesländern Zugang. Zu langfristigen Veränderungsprogrammen ist es sehr unterschiedlich. Es gibt eine große Ost-Südlastigkeit, in Wien und Graz gibt es sehr ausgefeilte, sehr erfahrene Programme. Je weiter wir in Regionen wie Salzburg oder Tirol kommen ist es vor allem in den Tälern sehr schwierig. Aber das hat auch mit der Topografie zu tun.
Gerade für so langfristig orientierte Programme ist es wichtig, dass Männer jede Woche kommen. Aber wir arbeiten gerade sehr intensiv daran, dass wir ein flächendeckendes Netz an Beratungsstellen haben, und auch diese langfristigen Antigewalttrainings anbieten können.
Hilfe für Gewaltbetroffene:
MÄNNERINFO: telefonisch unter 0800/400 777 (Mo–So, 0–24 Uhr) sowie per Chat unter www.maennerinfo.at (Montag, Mittwoch, Freitag jeweils 18 bis 21 Uhr), kostenlos und anonym
FRAUENHELPLINE: telefonisch unter 0800/222 555 (Mo–So, 0–24 Uhr) sowie unter www.frauenhelpline.at, kostenlos und anonym
POLIZEINOTRUF: telefonisch unter 133; für gehörlose und hörbehinderte Personen per SMS unter 0800/133 133 mit Angabe von Ort und Notsituation (Mo–So, 0–24 Uhr), kostenlos