Das Argument für mehr Kritik an den Kammern
Wenn man in Österreich kritisch über die Sozialpartnerschaft spricht, werden gerne mehrere Vorwürfe laut. Wer die Kammern angreife – kritische Äußerungen gelten auch dann als „Angriff“, wenn sie stimmen -, der könne das nicht im Interesse der Mitglieder tun. Und das sind immerhin Hunderttausende.
Aber das starke Standing der Kammern bringt eben nicht nur Vorteile, sondern auch Missbrauchspotenzial durch die hohen Kammerbeiträge. Im Jahr 2020 lag der Gesamtumsatz der Arbeiterkammer z.B. bei 528 Millionen Euro, das der Wirtschaftskammer sogar bei 887 Millionen. Diese Umsätze werden durch Mitgliedsbeiträge finanziert, die sich die Mitglieder nicht aussuchen können. Die Frage, was mit diesem Geld gemacht wird, liegt also auf der Hand. Warum polarisiert sie dennoch?
Der historisch gewachsene Kammernstaat
Die Dominanz und das Image der Kammern erklärt sich auch aus Österreichs Geschichte. Auch wenn es mit dieser Formulierung in keinem Geschichtsbuch stehen würde, weiß doch jeder, dass sich SPÖ und ÖVP nach dem Zweiten Weltkrieg das Land aufgeteilt haben. Das führte zu absurden Blüten. Wer gerne wandern geht, Auto fährt oder in einem Sportverein ist, weiß: Es gibt immer eine rote und eine schwarze Variante. Es gibt SPÖ- und ÖVP-Kindergärten und Schulen, Vereine für Kinder bis Senior:innen.
Und auch der politische Interessenausgleich in der Wirtschaft war eindimensional aufgeteilt: Arbeitnehmer:innen in der Industrie wählten z.B. großteils die Sozialdemokratie, Unternehmer:innen und höhere Angestellte die Volkspartei. Der Trend der Wechselwähler:innen, die nicht bei jeder Wahl die gleiche Partei bevorzugen, ist historisch erst relativ jung, die Älteren erinnern sich noch an eine Zeit, in der das Duopol der beiden Großparteien umfassend war.
Symbolbild, produziert mit DALL-E 2
Und mit ihnen kamen die Kammern. Denn wenn es zwischen SPÖ und ÖVP zu ideologischen Konflikten kam, konnte man sich zumindest auf die Sozialpartnerschaft verlassen. Diese war es gewohnt, Kompromisse zu verhandeln und gemeinsam am Tisch zu sitzen – gerade in wirtschaftspolitischen Fragen galt sie so lange Zeit als „Ass“ aller Großen Koalitionen. Auch, wenn diese Zusammenarbeit in den letzten Regierungen weniger geliefert hat als früher: Es hat einen Grund, warum die Kammern in Österreich so stark verankert sind.
Die Kammern sind zum Selbstzweck geworden
Die Kammern haben historisch sicher einige Verdienste für dieses Land geleistet. Aber heute legen regelmäßige Anlassfälle den Eindruck nahe, dass sie zum Selbstzweck geworden sind. Das jüngste Beispiel dafür kommt aus der Steiermark: Der Chef des ÖVP-Wirtschaftsbundes und der dortigen Wirtschaftskammer erhöhte in beiden Funktionen sein eigenes Gehalt und verdient damit mehr als ein:e Abgeordnete:r zum Nationalrat.
Auch abseits der höchsten Funktionärsetage darf man hinterfragen, wie verantwortungsvoll mit den Mitgliedsbeiträgen umgegangen wird. Unvergessen ist „Willkommen in der neuen Welt der Arbeit“, ein unabsichtlich lustiges Werbevideo der österreichischen Wirtschaftskammer. Kostenpunkt für die Kampagne: 500.000 Euro. Oder ein anderes Video, mit dem die Arbeiterkammer die Unternehmer:innen des Landes schlechtmachen wollte. Und wenn es noch ein anderes freches Beispiel sein darf: In Niederösterreich gab die Wirtschaftskammer 54.000 Euro für eine Feier mit 90 Personen aus.
Das heißt nicht, dass die Kammern keine wichtigen Aufgaben mehr erfüllen. Eine starke gesetzliche Vertretung für Arbeitnehmer:innen, Unternehmer:innen, Landwirt:innen etc. ist wichtig – ein Problem wird es nur, wenn die Interessenvertretungen zum Selbstzweck werden.
Die Monopolisierung der Wählergruppen
Hier wird die historische Durchdringung des alten Systems zum Problem. Das zeigt sich auch am Beispiel der ÖVP-Bünde: Weiß der kleine Bauer im Salzburger Land, dass er durch eine Mitgliedschaft im Bauernbund auch ÖVP-Mitglied ist? Und fühlt er sich auch durch die Partei vertreten, wenn sie z.B. beim Klimaschutz blockiert, obwohl die Klimakrise landwirtschaftliche Betriebe besonders trifft?
Aber der Bauernbund ist da nicht das einzige Beispiel. Die Wirtschaftskammer wird vom ÖVP-Wirtschaftsbund dominiert. Dass diese Dominanz nicht immer positiv für die Unternehmer:innen des Landes ist, zeigt das Beispiel Vorarlberg: Dort soll Selbstständigen mit Nachdruck nahegelegt worden sein, im Wirtschaftsbund-Magazin Vorarlberger Wirtschaft zu inserieren. Medienberichten zufolge wurde dieses Geld zum Teil unversteuert an die Volkspartei weitergegeben. Ist das eine starke Interessenvertretung – oder ein Ausnutzen der Nähe zur Macht?
Viele Probleme in Österreich lassen sich damit erklären, dass eine Partei einen Teil des Landes als ihr Eigentum sieht. Wo es keine Transparenz gibt, wo der politische Wettbewerb nur unter ungleichen Voraussetzungen möglich ist, dort wird geradezu dazu eingeladen, Steuergeld zu verschwenden. Das wird auch den Mächtigen in den Kammern einleuchten. Die Frage ist: Warum wehren sie sich gegen Veränderung?
Es braucht mehr Transparenz in den Kammern
Das System mag aus gutem Grund historisch gewachsen sein, aber wir sollten uns die Frage stellen, ob es noch zeitgemäß ist, dass gewisse Bereiche unserer Wirtschaft und Gesellschaft nach wie vor von nur einer Partei dominiert werden. Echter politischer Wettbewerb würde auch den Mitgliedern der Kammer gut tun. Aber dieser funktioniert nur unter fairen Voraussetzungen, z.B., indem transparent gemacht wird, wie die hohen Beiträge verwendet werden. Werden damit wirklich die Kernaufgaben erfüllt? Oder fließen sie in Parteipolitik?
Auch wenn die Sozialpartnerschaft sich früher bewährt hat, ist sie nicht frei von Kritik. Wer die gelebte Realität in den Kammern kritisiert und Transparenz fordert, will nicht legitime Interessenvertretungen verhindern, sondern einen verantwortungsvollen Umgang mit den Kammerbeiträgen. Und das ist ein Anliegen, hinter dem sich sicher eine Mehrheit des Landes versammeln kann – auch der Mitglieder, die davon am meisten betroffen sind.