Das Ende der Geschichte ist abgesagt
Das 20. Jahrhundert war eine Zeit der Kriege und Krisen. Vor allem darüber, in welcher Art von Staat und Gesellschaft wir leben wollen. Bevorzugen wir homogene Gesellschaften, in denen alle gleich denken? Oder wollen wir liberale Staaten, in denen Diversität eine Stärke ist und in der wir Meinungsverschiedenheiten ausstreiten wollen? Der demokratische, liberale Rechtsstaat kam durch Faschismus und Kommunismus unter Druck, konnte sich aber gegen Ende des Millenniums als dominantes System durchsetzen. So deutlich, dass sogar vom „Ende der Geschichte“ die Rede war.
„The End of History“, das war der Ausdruck des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama im Jahr 1989. Die These: Da sich die USA gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg durchgesetzt hätten – und damit auch der Kapitalismus gegen den Kommunismus – würden sich liberale Marktwirtschaften früher oder später überall durchsetzen. Die Zeit der großen Widersprüche sei vorbei, so Fukuyama.
Die liberale Marktwirtschaft funktioniert
Sieht man sich die aktuelle weltpolitische Situation an, ist das Ende der Geschichte mehr ein Running Gag als eine ernst gemeinte These. Dabei spricht einiges für sie, denn die liberale Marktwirtschaft hat einen guten Track Record. Sogar die Ärmsten von uns genießen heute einen 3.000-mal höheren Wert an Geld, Gütern und Dienstleistungen im Vergleich zur gleichen Einkommenskohorte im Jahr 1800. Wer heute dem Mittelstand angehört, kann sich in Sachen Lebensqualität mit Königen der Vergangenheit messen. (Mehr Datenmaterial dazu liefert die Autorin Deirdre McCloskey.)
Und dass Kapitalismus die beste Maßnahme gegen extreme Armut ist, zeigt die Statistik – Armut sinkt vor allem dort, wo Menschen durch den Markt eine Wahl haben, womit sie ihr Geld verdienen wollen. Das sieht man auch am Beispiel China, das sich (trotz aller undemokratischen Tendenzen) zumindest ökonomisch geöffnet hat.
Diese Daten zeigen auch, dass es durchaus einen Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und Demokratie gibt. Dort, wo die Bürger:innen ökonomische Freiheiten genießen, wird nicht nur Armut bekämpft – oft steigt damit einhergehend auch das Ausmaß an persönlichen, bürgerlichen Freiheiten.
Insofern liegt Fukuyamas These nahe: Wenn der internationale Vergleich ganz klar zeigt, dass die liberale Marktwirtschaft nicht nur die persönlichen Freiheiten, sondern auch Wohlstand vermehrt, warum sollte sich dieses System nicht durchsetzen?
Liberalismus unter Druck
Trotzdem gerät die Demokratie ins Hintertreffen. Laut der NGO Freedom House nimmt die Demokratie-Qualität weltweit seit 16 Jahren permanent ab. Alleine letztes Jahr gab es in 60 Ländern Rückschritte – darunter auch in Österreich – während nur 25 sich verbessern konnten. 38 Prozent der Weltbevölkerung leben in Staaten, die von der NGO als „unfrei“ eingestuft werden, nur 20 Prozent in jenen, die in der obersten Kategorie „frei“ eingestuft werden. Und auch in Europa ist die liberale Demokratie unter Druck: Extremistische Parteien werden stärker, z.B. in Italien, Frankreich, Spanien und Griechenland.
Warum lehnen Menschen ein System ab, das Wohlstand schafft und Freiheiten sichert? Eine unvollständige Reihe von Gründen:
- Es gibt Probleme, die nicht alleine durch den Markt gelöst werden. Das Bildungs- und das Gesundheitswesen etwa funktionieren nicht nur durch Wettbewerb, sondern durch kluge Politik, die auch abschätzen kann, was öffentlich organisiert gehört und was nicht.
- Was der Markt löst, wird nicht als Politik wahrgenommen. Wenn Menschen ihre Probleme selbst lösen können – indem sie z.B. den Wohnort wechseln, einen neuen Job annehmen, ein besseres Gehalt verhandeln oder Eigentum erwerben – wird das nicht als politisch wahrgenommen. Dabei ermöglicht der liberale Rechtsstaat erst, dass sie ihre freien Entscheidungen treffen und ihre Probleme selbst lösen können – solange es Politiker:innen gibt, die nicht dagegenarbeiten.
- Einfache Lösungen verkaufen sich besser. Vorschläge wie Mietpreisobergrenze, Gewinnabschöpfung von Unternehmen oder Armutsbekämpfung mit der Gießkanne kommen bei den Wähler:innen gut an, sind aber selten nachhaltige Lösungen.
- Illusorische Versprechungen. Der ewiggestrige Traum eines homogenen Staates, in dem die Menschen sich durch gemeinsame Merkmale wie Religion oder Hautfarbe definieren und in dem es keine lästigen ideologischen Differenzen mehr gibt, lassen die Realität einfacher erscheinen, als sie ist. Viele Menschen sind für solche Heilsversprechungen zu haben – auch wenn diese nicht nur selten funktionieren, sondern auch zulasten der persönlichen Freiheit gehen.
- Der Liberalismus hat ein Kommunikationsproblem: Er verspricht keine „einfachen Lösungen“, die entweder nicht funktionieren und/oder Freiheiten einschränken, sondern schaut auf die Welt mit einer intellektuellen Ehrlichkeit, die auch zulässt, dass Probleme komplex sind. Dafür braucht es auch komplexe Lösungen, die aber oft nicht so einfach zu den Bürger:innen durchdringen. Ein Verbot ist eine sofort umsetzbare und leicht kommunizierbare Maßnahme – Anreizsysteme dagegen sind oft schwierig zu erklären.
Dieser Mix führt dazu, dass sich viele Menschen mit einem Bedürfnis nach schnellen, einfachen Lösungen in einer schwierigen, komplexen Welt den Autoritären zuwenden – und nicht wissen, dass sie sich damit selbst schaden. Francis Fukuyamas Theorie geht hingegen davon aus, dass sich rationale Bürger:innen immer für die beste Option entscheiden werden. Er blendete aus, dass nicht jede:r mit vollständiger Information an der Wahlurne steht.
Die liberale Demokratie muss verteidigt werden
Politik hat die Aufgabe, den Menschen einen Rahmen zu geben, in dem sie ihr Leben möglichst frei und selbstbestimmt leben können. Das bedeutet rechtliche, ökonomische und körperliche Sicherheit. Die Bereitstellung eines Bildungssystems, das den Horizont erweitert und Chancen gibt, und eines Gesundheitssystems, auf das man sich auch bei schweren Schicksalsschlägen verlassen kann. Für all das ist die liberale Marktwirtschaft das beste Modell, weil es den Menschen Handlungsspielraum gibt, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, und dort absichert, wo es staatliche Absicherung braucht.
Das Ende der Geschichte wurde also wirklich zu früh ausgerufen, und es wird vermutlich niemals eintreten. Das ist einerseits gut, da auch die Politik vom Wettbewerb der Ideen lebt – ein ideologisch homogenes Parlament vertritt die Gesamtbevölkerung weniger repräsentativ als eines, das sich mit ihrer Meinungsvielfalt ehrlich auseinandersetzt. Aber es macht uns auch bewusst, dass liberale Demokratien nicht selbstverständlich sind. Die Marktwirtschaft und der Rechtsstaat stehen unter Druck – und es braucht kluge, mutige und liberale Politiker:innen, die sie gegen Angriffe von links und rechts verteidigen.