Eine gemeinsame Verteidigung braucht ein gemeinsames Verteidigungsbudget

Europa überlegt wieder einmal, wie es militärisch auf eigenen Beinen stehen kann. Gemeinsame Forschung und Beschaffung sind gut, machen aber keine gemeinsame Verteidigung. Es wird mehr brauchen: Gemeinsames Geld sollte dabei der erste und einfachste Schritt sein.
Ein wenig nervös hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Europa schon gemacht. Immerhin, die Invasion des zweitgrößten europäischen Staats war der erste offene Krieg zwischen zwei Staaten auf europäischem Boden seit sieben Jahrzehnten und kam mehr als drei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Kriegs. Die Friedensdividende Die Einsparung durch Kürzung der Militärausgaben – zumeist nach einem Krieg in den daran beteiligten Ländern – wird allgemein als Friedensdividende bezeichnet. Mit diesem Begriff soll ausgedrückt werden, dass nun frei werdende Mittel für Friedenszwecke zur Verfügung stehen. hatte zu einer merklichen Reduktion der kurzfristigen NATO-Einsatzbereitschaft geführt und die europäischen Verteidigungsbudgets schrumpfen lassen.
Nach dem Einmarsch sprach man also von Zeitenwende und der Notwendigkeit für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur und mehr Militär. Aktiv aber wurden hauptsächlich die USA und Großbritannien als die beiden Hauptunterstützer der Ukraine. Die EU-27 kamen hauptsächlich rhetorisch in die Gänge, waren sich aber auch dabei nicht immer einig.
Die Wahl Donald Trumps im November 2024 ließ die Nervosität wieder steigen, die Flut an teils irrwitzigen Dekreten der ersten Amtswoche dann die Alarmglocken schrillen. Wie steht Europa in einer Welt ohne US-Sicherheitsgaranten da? Ein Sicherheitsgipfel wurde einberufen, Europa sollte nun die Frage beantworten: „Wie stärken wir uns womit und wie schnell?“ Die Antwort war klar und deutlich: Europa kann auch in der Krise nicht mit einer Stimme sprechen. Irgendwo wird immer gerade gewählt, irgendwo regiert immer gerade ein Populist. Und dort hat Innenpolitik dann Vorrang vor europäischer Sicherheit.
Der Gipfel vom 3. Jänner zeigte die Gräben wieder schonungslos auf. Manche wollen mehr Geld für Verteidigung ausgeben und nennen Zahlen, andere finden diese illusorisch. Manche wollen europäisches Geld nur für europäische Waffen ausgeben, andere meinen, man solle doch lieber amerikanisch kaufen und damit Trump bei Laune halten. Außerdem gebe es doch in Europa für den bestehenden Bedarf nicht genug Produktionskapazität.
Für das neutrale Österreich stellt sich die Marginalitätsfrage. Wer kümmert sich noch um uns, wenn wir zusammen mit dem armeelosen Malta und dem zahnlosen Irland, plus Zypern, das aber der NATO lieber heute als morgen beitreten würde, auf Sonderbedingungen hoffen?
Die größte Bruchlinie beim Gipfel war wieder einmal die, wie eng Europa letztendlich nun zusammenwachsen solle. Eine gemeinsame Verteidigung braucht eine gemeinsame Finanzierung – also Geld aus einem europäischen Budget, statt aus den Budgets der Mitgliedstaaten, die je nach temporären Befindlichkeiten der Regierenden gerade mehr oder weniger proeuropäisch eingestellt sind. Frankreich und Italien sprechen sich für Eurobonds zur Finanzierung der europäischen Aufrüstung aus, die vormals „frugalen“ skandinavischen Länder schwenken auf diese Position um – Dänemark und Finnland haben sich schon klar positioniert. Die Niederlande und Österreich, schon beim Coronafonds dagegen, lehnen gemeinsame Schulden ab, Zeitenwende-Proklamateur Olaf Scholz ebenso, aber in Deutschland ist eben gerade Wahlkampf.
Welche Verteidigung für Europa?
Angesichts der Trump’schen Unzuverlässigkeit braucht Europa einen Abschreckungsdispositiv. Ein wenig hat sich getan, seit Russlands Kriegsdrohungen etwa 2021 lauter wurden. Die kollektiven Verteidigungsausgaben der EU-27 stiegen zwischen 2021 und 2024 um 30 Prozent auf 326 Milliarden Euro an. Stand heute geben die EU-Staaten ein gutes Drittel des US-Militäretats (925 Milliarden Dollar, 13,5 Prozent des Gesamtstaatsbudgets) in absoluten Zahlen aus. Als Prozentsatz des BIP liegen die Europäer bei 1,9 Prozent, die USA bei 3,4. Bis 2027 wollen die verschiedenen Verteidigungsministerien in Europa in Summe nochmals 100 Milliarden drauflegen. Damit würde ein Prozentsatz von 2,5 Prozent des europäischen BIP von 2024 erreicht werden – weniger, je nachdem wie das BIP bis dahin ansteigt.
Welche militärischen Fähigkeiten soll Europa für dieses Geld aber kaufen? Die europäische Territorialverteidigung hat einen Namen: NATO. Es gibt eine festgeschriebene Beistandsverpflichtung, ein gemeinsames Kommando und einen gemeinsamen Aufmarschplan. Letzterer wurde nach dem Ende des Kalten Kriegs ausgesetzt, nun aber wieder implementiert. Dieser Plan legt bis ins Detail fest, wie viel Personal mit welchem Material jeder Mitgliedstaat für welche Aufgaben in welchem Frontabschnitt in welchem Zeitfenster zur Verfügung stellen muss.
Um den Aufmarschplan, dessen Details natürlich geheim sind, erfüllen zu können, wird angenommen, dass die Militärbudgets im Schnitt etwa 3,6 Prozent des BIP erreichen müssten – im europäischen Schnitt. Manche Staaten müssen noch nachrüsten, andere, wie Schweden und Finnland, sind bereits gut aufgestellt. Staaten wie Frankreich oder Großbritannien, die neben ihren NATO-Verpflichtungen noch eigene, nationale Sicherheitsbedürfnisse in Überseegebieten befriedigen wollen, müssten dafür Geld obendrauf legen. Jedenfalls bedeuten 3,6 Prozent des BIP, auf heutiger Basis Militärausgaben von 618 Milliarden Euro, fast 200 Milliarden mehr als für 2027 geplant.
Der Unsicherheitsfaktor Trump bedeutet kaum, dass die USA sich aus Europa vollständig zurückziehen werden. Trump sieht sich als Friedensstifter und Iran-Entwaffner im Nahen Osten und braucht europäische Basen als Sprungbrett dorthin. Dennoch muss Europa einplanen, derzeit im Aufmarschplan beinhaltete US-Assets im Ernstfall ersetzen zu können. Fakt aber ist: Die NATO ohne USA bleibt um vieles stärker und vor allem glaubwürdiger als ein Europa ohne NATO. Was durch die USA potenziell verloren geht, wird leichter im Verbund mit Kanada, Großbritannien und Norwegen ausgeglichen als durch Europa alleine. Kanada zum Beispiel übernimmt gerade das Kommando eines NATO-Stützpunkts im Baltikum.
Die gemeinsame europäische Verteidigung
Die Frage ist, wie sich die europäischen NATO-Staaten innerhalb der NATO ausrichten. Und für die verbleibenden Neutralen, wie sie sich einbinden (können).
Eine gemeinsame Armee kann immer nur unter einer gemeinsamen politischen Einheit existieren. Europa muss also mit der politischen Einheit beginnen, ehe es eine föderale Armee aufbauen kann. Solange Europäer sich zuerst als Österreicher:innen, Deutsche oder Franzosen und Französinnen verstehen, werden sie auch zuerst für die Interessen dieser Nationalstaaten einstehen. Belgien mag aus zwei Volksgruppen bestehen, die Schweiz aus vier. Aber beide Staaten haben ein Fußballnationalteam, dem die Menschen zujubeln. So weit ist Europa noch lange nicht.
Bis es einen europäischen Staat gibt, wird Europa also e pluribus unum – aus der Vielfalt ein Ganzes – erreichen müssen. Die Mitgliedstaaten unterhalten ihre nationalen Armeen, stellen sie aber aus Eigeninteresse im Ernstfall Europa zur Verfügung. Wenn Europa seine Verteidigung stärker in eigene Hände nehmen und im Ernstfall ohne die USA aktionsfähig sein will, braucht es zwingend vier Dinge:
- Um eine glaubwürdige Interessengemeinschaft zu sein, statt nur ein loses Bündnis im Anlassfall, bedarf es gemeinsamer politischer Kontrolle. Im Angriffsfall ist es unmöglich, zuerst 27 Regierungschefs nach Brüssel zu beordern und dann dort auszuhandeln, (i) ob es eine gemeinsame Antwort geben wird, und wenn ja, (ii) wer was beiträgt, wer bezahlt, wer kommandiert und wer kämpft. Und das alles mit Einstimmigkeit! Ein europäisches Gremium, das Europa, nicht einem Mitgliedstaat, verpflichtet ist, müsste zumindest die Erstentscheidung treffen können, europäische Truppen unter einem europäischen Aufmarschplan (d.h. wohl dem der NATO) zu aktivieren.
- Für den Ernstfall bräuchte es ein EUCOM, ein European Command, in dem Generäl:innen in europäischer Uniform europäische Interessen vertreten.
- Ein gemeinsamer Aufmarschplan würde verhindern, dass zu Einsatzbeginn erst entschieden werden müsste, wer wo kommandiert und wer kämpft, und welcher Staat welches und wie viel Material wo einsetzt. Der europäische Aufmarschplan wäre idealerweise eine Adaptation des NATO-Plans, mit Alternativen im Falle des Ausstiegs der USA oder etwa der Türkei, die mit Europa nicht immer an einem Strang zieht. Um glaubhaft zu sein, kann es keine situationsbedingten freiwilligen Beiträge an Eurobataillone geben, weil es für einen Gegner zu einfach wäre, durch hybride Kriegsführung, Desinformationskampagnen oder politische Freund:innen einzelne Mitglieder abzuspalten. Ein etwaiges Grönlandkontingent darf nicht aus freiwilligen Beiträgen erstellt werden, wobei Ungarn Nein sagt oder Österreich Blasmusik beiträgt. Eine Armee zur Verteidigung von Europas Interessen muss gemeinsam besetzt, ausgestattet, kommandiert werden.
- Gemeinsame Finanzierung. Wenn ein gemeinsamer europäischer politischer Wille eine gemeinsame europäische Verteidigung in einen gemeinsamen Konflikt mit gemeinsamem Kommando führen will, dann kann man nicht die gemeinsame Bezahlung verweigern, egal wie gut die Argumente gegen Gemeinschaftsschulden in anderen Themenbereichen sein mögen. Ein gemeinsames Budget für ein derart elementares Unterfangen, wie solidarisch die Heimat und die Freiheit zu verteidigen, ist der erste Schritt, ohne den das Unterfangen ‚gemeinsame Armee‘ nicht glaubwürdig sein kann. Wer schickt seine Kinder in einen Krieg für eine Idee, wenn die einzelnen Mitglieder nicht einmal gemeinsam Geld dafür auf den Tisch legen wollen?
Wichtig ist auch, dass die europäische Verteidigung progressiv immer abhängiger voneinander wird. Integrierte Verbände hätten deutsche Panzer, französische Luftabwehr, tschechische Artillerie, ungarische Logistik usw. Wenn jeder einzelne Staat ganze Truppenverbände beiträgt, kann er sie auch leichter wieder abziehen, wenn das politische Klima umschwingt. Bei integrierten Verbänden ist der Abzug der eigenen Truppen schwieriger, weil man dann vielleicht mit einer starken Panzerwaffe, aber ohne Luftraumverteidigung bleibt.
Österreichs Rolle
Österreichs Neutralität stellt ein Problem dar. Ein gemeinsamer Aufmarschplan bedeutet, dass jeder Beitragende im Vorhinein weiß, was er zu beschaffen hat, wie und wo und unter welchem Kommando er es einbringt. Österreich könnte an EU-Operationen teilnehmen, müsste aber im NATO-Einsatz seine Einheiten aus der Gesamttruppe wieder extrahieren. Das würde für das Kommando große Komplexität in Planung und Trainingsbetrieb mit sich bringen, die für das Wenige, was Österreich beitragen kann, den Aufwand nicht wert wäre. Man würde wohl auf Österreichs militärischen Beitrag dankend verzichten.
Österreich müsste sich daher auf rein europäische Aufgaben, die sich nicht mit den Verantwortungen der NATO überschneiden, beschränken. Je integrierter und federführender aber die europäische Verteidigung innerhalb der NATO wird, desto weniger ausschließlich NATO-externe Bereiche würde es geben.
Alternativ könnte Österreich die Neutralität derart interpretieren, dass die Solidaritätspflicht innerhalb der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) gültig wäre, wenn europäische Truppen mit der NATO kooperieren. Das ist insofern kein Problem, als die NATO ein rein defensives Bündnis darstellt und im Falle eines Angriffs die Neutralität rechtlich ohnehin hinfällig ist.
Österreich ist der GSVP beim EU-Beitritt vollumfänglich beigetreten und hat diesen Beitritt mittels Verfassungsänderung und Volksabstimmung legitimiert. Die Irische Klausel ist für Österreich eine Kann-Bestimmung: Österreich kann sich aus europäischen Militäraktionen heraushalten, muss aber nicht.
Der nukleare Faktor
Über allen Gedanken über europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik steht die nukleare Abschreckung. Putin hat gezeigt, wie man Atomwaffen rhetorisch gezielt einsetzen kann, um den Verteidigungswillen des Gegners zu schwächen. Ohne glaubhafte nukleare Abschreckung ist die beste konventionelle Armee im Krieg gegen einen Menschenleben verachtenden Diktator mit Atombomben nutzlos.
Für Abschreckung trifft genau das zu, was auch im konventionellen Bereich gilt: Kein Staat kann seine Existenz – und das Leben seiner Bürger:innen – darauf verwetten, dass ein freundlicher Nachbar im Ernstfall sicher sein eigenes Überleben aufs Spiel setzt, um den Staat zu verteidigen. Auch hier gilt: Der atomare Schutzschirm muss gemeinsam politisch kontrolliert, gemeinsam befehligt und bezahlt werden. Die NATO hat nicht umsonst im Kalten Krieg Soldaten und Atomwaffen der Atommächte USA und Großbritannien in den Risikogebieten an der Ost-West-Grenze stationiert. Amerikaner und Briten wären beim ersten Angriff der Sowjets gestorben, die beiden NATO-Atommächte wären im Krieg gewesen.
Wenn Europa sich gemeinsam verteidigen will, muss es den Menschen das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft vermitteln. Wenn es am Geld – dem eigentlich geringsten Problem, wenn es um Krieg oder Frieden, Leben oder Tod geht – bereits scheitert, ist der Rest eine verlorene Sache.