Europa darf nicht auf den Balkan vergessen
Dass der Balkan schon am Rennweg in Wien beginnen soll, ist ein Sprichwort, das dem ehemaligen Staatskanzler Metternich unter Kaiser Franz und Kaiser Ferdinand zugeschrieben wird.
Solchen Sagern wohnt meist ein wahrer Kern inne. Und tatsächlich sind seit damals entsprechend eng die Bande, die die Republik an diese Region binden. Doch Österreich und auch die Europäische Union als Ganzes scheinen den Westbalkan – jene Länder des ehemaligen Jugoslawiens, die nicht Teil der EU sind – aus den Augen zu verlieren. Und das, obwohl sich sowohl im Kosovo als auch in Bosnien ethnische Konflikte wieder aufschaukeln. Eine fatale Entwicklung.
Im österreichischen Selbstbild ist zwischen Lipizzanern, Mozartkugeln und der Neutralität viel Platz für – zumindest gefühlte – Anspielungen an die Verbindungen zum Balkan. Von inzwischen fragwürdigen Schimpfwörtern, die sich auf historische Bezeichnungen berufen, über eine ganze Palette an Speisen, bei denen der Bezug auf die Region eine Rolle spielt. Von serbischem Reisfleisch bis zum Weckerl, das in manchen Bundesländern „Bosniak“ genannt wird, gibt es genug Beispiele. Doch so herzig diese Verbindung durch den Magen auch sein mag, oft scheint es, dass die österreichische Außenpolitik über diesen Reblaus-seeligen Blickwinkel nicht hinauskommt – und auch jener der EU nicht. Gerade in der jetzigen geopolitischen Situation ist das allerdings viel zu wenig.
Nach den Gräueln der Kriege, die das Zerbrechen Jugoslawiens begleitet haben, schien (West-)Europa eine viel zu optimistische Sicht auf die Entwicklung der nachkommenden Staaten zu haben. Während Slowenien und Kroatien rasch in die EU aufgenommen wurden, scheint der Rest des westlichen Balkans lange übersehen worden zu sein. Dazu ein Überblick, was bisher passiert ist.
Die EU und der Westbalkan: Eine schrittweise Annäherung
Seit 1999 gibt es vonseiten der EU den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP), mit dem die Staaten des Westbalkans nach den Jugoslawien-Kriegen langsam an die EU herangeführt werden sollten. Grundsätzlich wurde die Erleichterung des Handels und des Personenverkehrs zwischen diesen Ländern und der Europäischen Union im Austausch für demokratische Reformen und dem Kampf gegen Korruption vereinbart. Darüber hinaus gibt es seit 2003 auch die Bestätigung der Union, dass alle SAP-Mitgliedsländer auch mögliche EU-Bewerberländer sind.
Aktuell sind Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien offizielle Bewerberländer. Mit Montenegro und Serbien laufen bereits Beitrittsverhandlungen, und es wurden Verhandlungskapitel eröffnet. Im Juli 2022 wurden auch Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufgenommen, und im Dezember 2022 reichte der Kosovo seinen Antrag auf Beitritt zur EU ein.
Darüber hinaus gibt es das Instrument der regionalen Zusammenarbeit, die den Westbalkan-Ländern auf Projektbasis weitere Fördermittel unter anderem in den Bereichen Verfolgung von Kriegsverbrechen, Grenzangelegenheiten, Flüchtlingsfragen und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität ermöglichen. Hintergründige Überlegung der EU ist es, die Wunden der Kriege, die oft entlang ethnischer Linien bestritten wurden, zu heilen, um damit eine Annäherung der Nachbarn zu ermöglichen und die Region zu stabilisieren.
Der Westbalkan als globales Spielfeld
Doch schon seit längerem ist die EU nicht der einzige Player, der versucht, das Geschehen in der Region zu beeinflussen. Die Einführung des Kapitalismus, die Privatisierung von weiten Teilen der ehemaligen verstaatlichten Wirtschaft nach den Kriegen, öffnete die Länder auch für Einflüsse anderer globaler Mächte durch Investitionen. Ein Beispiel dafür ist der erstarkende Einfluss Chinas, das vor allem im Rahmen der Neuen Seidenstraße massiv in Infrastrukturprojekte in Drittländern investiert. Beispiele dafür sind ein massives Brückenprojekt in Kroatien, eine Modernisierung von Hafenanlagen in Montenegro und vor allem der Einfluss Chinas in Serbien.
Für China ist die dauerhafte und gesicherte Versorgung mit Rohstoffen eines der Hauptmotive der Seidenstraßen-Initiative. Das wird auch im Falle Serbiens deutlich. Der Handel mit China konzentriert sich auf den Export nahezu eines einzigen Produkts: Kupfer und seine Derivate, die fast 80 Prozent der gesamten serbischen Exporte nach China ausmachen. Die einzige in Betrieb befindliche Kupfermine in Serbien, Bor, wird vom chinesischen Staatsunternehmen Zijin verwaltet, das Ende 2018 die Mehrheitsanteile erwarb.
Darüber hinaus ist Serbien für China in den vergangenen Jahren zu einem strategischen Partner geworden und das erste Land in Europa, das über kombinierte chinesische Kampf- und Aufklärungsdrohnen verfügt sowie Überwachungstechnologien aus der Volksrepublik zum Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur nutzt.
Und auch Russland mischt sich – immer noch – am Balkan ein. Gerade der serbische Präsident Aleksandar Vučić pflegt ein enges Verhältnis zu Russland, an dem auch der Angriff Russlands auf die Ukraine wenig geändert hat. Serbien ist eines der wenigen Länder Europas, die sich den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen haben. Die Mehrheit der Serben unterstützt Russlands Krieg in der Ukraine.
Blinder Fleck Balkan?
In den letzten Wochen und Monaten ist die Lage am Balkan angespannter geworden. Auf der einen Seite dreht Serbien unter Präsident Vučić an der Eskalationsspirale im Kosovo, indem er serbische Truppen an die Grenze zum Kosovo verschiebt und die Konflikte innerhalb des Kosovos zwischen ethnischen Serb:innen und Kosovo-Albaner:innen verstärkt.
Und gleichzeitig erstarken auch die Zentrifugalkräfte in der wackligen ethnischen Balance in Bosnien und Herzegowina mit verstärkten Übergriffen auf muslimische Bosniak:innen in der mehrheitlich serbischen Provinz Republika Srpska. Und diese Angriffe nehmen nicht zufällig zu. Der Kreml-Freund und völkisch-nationalistische Präsident der Republika Srpska (RS), Milorad Dodik, dreht dort an der Eskalationsschraube. Kürzlich ließ er seine Anhänger:innen auf der Verwaltungslinie zwischen der Republika Srpska und der Föderation aufmarschieren. Dodik will die RS abspalten und an Serbien anschließen: Heute heißt dieser Traum von einem ethnisch homogenen Nationalstaat „Serbische Welt“ – während ethnische Minderheiten wie die Bosniak:innen immer mehr Übergriffen ausgesetzt sind.
Das bedeutet, dass 22 Jahre nach dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien teilweise ethnische Spannungen wieder missbraucht werden, um die fragile Balance in der Region infrage zu stellen. Ob die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo und in der Republika Srpska einen militärischen Konflikt starten können, ist noch nicht absehbar, doch die EU – und auch Österreich – sind aufgerufen, diese Entwicklung nicht zu übersehen.
Das komplizierte Verhältnis zur Region
Auch wenn der Krieg Russlands in der Ukraine und der wieder aufgeflammte Nahost-Konflikt aktuell enorm viel Aufmerksamkeit und Spannung binden, darf nicht vergessen werden, was am Balkan passiert und welches Potenzial an Schaden und humanitärem Leid möglich ist. Die EU hätte durch den SAP und die Mitgliedsverhandlungen durchaus Einfluss, der allerdings wenig genutzt wird. Und trotz Vučićs Nähe zu Putin wird er von der ÖVP hofiert. Erst im Juli hielt Bundeskanzler Karl Nehammer einen Migrationsgipfel mit ihm und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ab, nachdem Serbien seine Rolle als Durchzugskorridor für Flüchtlinge nutzt, um Einfluss in rechten Regierungen innerhalb der EU zu gewinnen.
Das „Niemals wieder“, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa als Schwur aufgenommen wurde, Krieg und ethnischen Hass zu bekämpfen, wurde in den Jugoslawien-Kriegen bereits gebrochen. Die EU und Österreich – mit historischen Interessen am Balkan, welche noch aus der Kaiserzeit kommen – dürfen nicht noch einmal zusehen, wenn die Spannungen in der Region hochkochen. Noch ein Konfliktherd in der weiteren Region ist nicht hinnehmbar. Der Einfluss, den man auf die Länder des Balkans durch verschiedenste Instrumente hat, muss genutzt werden. Die Folgen sonst werden lange spürbar sein – auf Kosten der Betroffenen.