Europa fängt in der Schule an
Die Wahlen zum Europäischen Parlament fallen in diesem Jahr mit einem zweiten Ereignis zusammen, das im Leben von ca. 41.300 Menschen in Österreich mindestens dieselbe, wenn nicht eine noch viel weitreichendere Bedeutung hat: mit der Matura.
Während es im letzten Jahr durch den SPÖ-Vorschlag, die Matura abzuschaffen, zu größeren Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der Matura gekommen ist, im Jahr davor unlösbare Beispiele in Mathematik für einen Aufschrei gesorgt und in den Corona-Jahren Notlösungen zu zeitlich beschränkten Reformen im Beurteilungssystem geführt haben, zieht das Ereignis in diesem Jahr relativ unaufgeregt über die Bühne. Dass es aber höchst an der Zeit ist, das Prüfungsformat zu überdenken, haben die Corona-Jahre, aber in jüngster Vergangenheit auch die Entwicklungen im Bereich künstliche Intelligenz gezeigt. Doch was könnte eine zeitgemäße Alternative sein?
Dass die Reifeprüfung als „ritualisierter Abschluss” nicht abgeschafft werden sollte, dafür sprechen sich auch renommierte Bildungswissenschafter:innen wie z.B. Christiane Spiel von der Uni Wien oder der IHS-Forscher Martin Unger aus. Dass sie jedoch reformiert werden sollte, darüber sind sich alle einig. Bleibt bloß die Frage: wie?
Zuerst muss jedoch die Frage gestellt werden: Wofür überhaupt eine Matura? Es kann ja nicht nur um das Ritual einer schönen Zeugnisverleihung gehen? Mitnichten. Die Reifeprüfung stellt ein formales Element der sogenannten Selektionsfunktion von Schule dar: Über dieses Zertifikat wird der Zugang zum tertiären Bildungssektor (Universitäten, Fachhochschulen, Kollegs etc.) geregelt. Sie ist die Eintrittskarte in die höhere Bildung, weil sich die tertiären Bildungseinrichtungen darauf verlassen können müssen, dass die Menschen in den Hörsälen eine gewisse Mindestkompetenz in Deutsch und Mathematik besitzen, um dem Gelehrten folgen zu können.
Und nun kommt Europa ins Spiel: Der Bildungsbereich ist auf europäischer Ebene kaum wahrnehmbar und fast ausschließlich nationale Kompetenz. Eine große Ausnahme bildet das Studierenden-Austauschprogramm Erasmus, das vor wenigen Jahren mit Erasmus+ auch auf den Schul-, Berufs- und Erwachsenenbildungsbereich erweitert wurde. Laut OEAD, der für das Austauschprogramm in Österreich zuständig ist, kommen in der Periode 2021–2027 ca. 240.000 Teilnehmer:innen aus Österreich in den Genuss des Austauschprogramms, das nur einen Teil des Studiums im Ausland ermöglicht, nämlich Aufenthalte von zwei bis zwölf Monaten.
Abgesehen von Erasmus ist es jedoch schwierig und teuer, mit der österreichischen Matura an einer der 4.000 Hochschulen in Europa zu studieren. Es braucht zusätzliche Sprachzertifikate und notarielle Beglaubigungen des Reifeprüfungszeugnisses. Im österreichischen System der Reifeprüfung ist zusätzlich zu Mathematik und Deutsch zumindest in einer lebenden Fremdsprache eine Prüfung zu absolvieren. Im Sinne eines europäischen Bildungsraums wäre es daher höchst an der Zeit, zumindest den Teil der Reifeprüfung in den Sprachen durch im GER (Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen) abgebildete Sprachzertifikate (TOEFL/IELTS in Englisch, DELF/ALF in Französisch, DELE in Spanisch) zu ersetzen und sich auch auf europäischer Ebene für eine Weiterentwicklung des Sprachrahmens einzusetzen, sodass am Ende in jeder Sprache der Mitgliedsländer ein solches Zertifikat erlangt werden kann. Damit würden wir den Schüler:innen in Österreich zum Abschluss nicht nur ein Ritual schenken, sondern ein Ticket nach Europa und darüber hinaus.
Auf lange Sicht sollte es jedoch unser erklärtes Ziel sein, dass jeder und jede, die in Österreich die Sekundarstufe II abschließt (egal in welcher Spielart), ein europäisches Abitur als Eintrittskarte zum europäischen Hochschulsektor erlangt. Dass es angesichts des technologischen Wandels und der für das 21. Jahrhundert notwendigen Kompetenzen – etwa die „vier Ks“: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken – weitere Diskussionen über das Prüfungsformat geben muss, liegt auf der Hand. Es ist uns jedoch zu wünschen, dass sich hier nicht eine ideologisch geprägte Debatte, sondern ein zielorientierter Dialog entwickelt. Nämlich darüber, die jungen Menschen mit jenen Fähigkeiten auszustatten, die sie für die Gestaltung eines gelungenen Lebens in Europa und der Welt brauchen.