Im Osten viel Neues: Der Weg der Ukraine nach Europa
Wäre die Ukraine ohne russische Invasion heute Beitrittskandidat? Nein. Hat sie sich den Kandidatenstatus verdient? Ja.
Die russische Invasion hat den Drang nach Europa in der ukrainischen Bevölkerung verstärkt und damit den Reformwillen massiv beflügelt. Nicht nur mehr junge oder ukrainischsprachige Menschen sehen ihre Zukunft im Westen. Die Reaktion auf Putins Invasion in russisch dominierte Regionen, wie etwa Charkiw im Osten des Landes, hat verdeutlicht, dass die Menschen in der Ukraine nicht unter Väterchen Russland leben wollen.
Aber der Reihe nach. Beim Gipfel im Dezember beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs einstimmig, der Ukraine und Moldau den Beitrittskandidatenstatus zuzuerkennen. Einstimmig mit 26 Stimmen, weil Ungarns selbsternannter „illiberaler Demokrat“ Viktor Orbán den Saal verließ, um weder zustimmen zu müssen noch ein Veto einzulegen. Damit hätte er nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach eine Milliardenüberweisung Brüssels nach Ungarn verwirkt.
Kein Freifahrtschein
Die Ukraine hat keinen Freifahrtschein nach Europa, nur weil sie im Krieg ist. Sie muss die Reformauflagen der Europäischen Kommission abarbeiten, um die sogenannten Kopenhagener Kriterien zu erreichen und Kandidatenstatus zu erhalten. Sie hat noch nicht alle Punkte vollinhaltlich erfüllt, war beim Fortschritt aber beeindruckend schnell und gründlich. So mancher andere Kandidatenstaat-Aspirant könnte sich an der Ukraine ein Scheibchen abschneiden – oder drei.
Dazu kommt, dass die Ukraine ihren Weg in Richtung Erfüllung der Kopenhagener Kriterien mitten im Krieg beschreiten muss. Einerseits Anreiz, andererseits enorme Ablenkung und Erschwernis.
Die Ukraine hat also ihren ersten, kleinen Schritt nach Europa getan. Sie hat den Kandidatenstatus aufgrund harter und ehrlicher Arbeit erreicht. Doch damit ist sie noch nicht in der Europäischen Union. Der zweite Teil des Weges ist ebenso steinig wie der erste, und für manche Staaten nicht gangbar. Am Westbalkan ist zwar die Bevölkerung deutlich proeuropäisch, aber so manche Regierung oder politische Partei will lieber am Korruptionskuchen und der Freunderlwirtschaft weiternaschen, als ihr Geld in Europa ehrlich verdienen zu müssen.
Niemand wird die Ukraine in die EU durchwinken, solange nicht alle Kriterien erfüllt sind. Dazu ist sie zu groß und hat – schon aufgrund der Zerstörung durch Russland – zu viele Probleme. Der Kandidatenstatus ist Anreiz, den Reformweg weiter zu beschreiten. Die Reformen der letzten zwei Jahre lassen hoffen.
Reformen nicht nur in Kiew
Reformen werden aber nicht auf die Ukraine beschränkt bleiben können. Auch Europa muss sich ändern. Ein kleiner Klub von acht Gleichgesinnten aus der Nachkriegszeit wurde über die Jahrzehnte zu einer Union von heute 27 diversen Staaten. Was bei der Europäischen Gemeinschaft von acht noch relativ leicht auszuverhandeln war, weil alle ähnliche Interessen und vergleichbare politische Kulturen hatten, ist heute kaum noch machbar. Bei fast jeder wichtigen Entscheidung gibt es den einen oder anderen Staat bzw. dessen momentane Regierung, der oder die sich querstellt. Wo Einstimmigkeit vonnöten ist, ist das Resultat zumeist halbherziger und oft auch problematischer Kompromiss.
Die österreichische Bundesregierung ist sich der Problematik bewusst. So sagte Bundeskanzler Karl Nehammer im EU-Ausschuss vor kurzem, auch die EU werde sich ändern müssen, um in einer noch größeren Union zu funktionieren. Im nächsten Satz lehnte er die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips aber ab. Dabei steht ein Eintreten für eine Verbesserung der Entscheidungsfindung in Brüssel sowie die Reform der Einstimmigkeit in außenpolitische Fragen sogar im Regierungsprogramm.
„Österreich setzt sich in der Konferenz zur Zukunft Europas für eine weitreichende zivilgesellschaftliche Beteiligung, die Annahme von Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit in zusätzlichen Bereichen (z.B. Außenpolitik), ein Initiativrecht des EPs und die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens (ordentliches Gesetzgebungsverfahren) ein.“
Regierungsprogramm, Seite 189
Kuhhandel mit der Einstimmigkeit
Einstimmigkeit bei 27 Mitgliedern zu erreichen, ist oft ein unansehnlicher Kuhhandel, wie der Kauf der Stimme Orbáns für den Ukraine-Beitritt zeigt. Auch Österreichs Position zur Schengen-Erweiterung wirft ein schlechtes Licht auf Europa und auf die Politik schlechthin.
Immerhin beschwert sich Außenminister Alexander Schallenberg regelmäßig darüber, dass am Westbalkan die Kriterien für den Beitritt immer wieder geändert werden und Beitrittskandidaten sobald sie Kriterien erfüllt haben, mit neuen Forderungen konfrontiert werden. Europa, so Schallenberg, müsse seine Versprechen halten. Dann aber stimmt Österreich aus innenpolitischen Gründen gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens, obgleich diese alle Kriterien längst erfüllt haben und Österreich das auch eingesteht.
Das Musterbeispiel für schlechte Beitrittspolitik ist die Türkei. Die Türkei ist seit einer gefühlten Ewigkeit Kandidatenstaat, hat aber praktisch keine Chance auf einen Beitritt mehr.
Natürlich ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kein lupenreiner Demokrat und die türkische Politik nicht beitrittsfähig. Dem war aber nicht immer so. Als Erdogan 2003 als Ministerpräsident an die Macht kam, war sein erklärtes Ziel die EU-Mitgliedschaft. Dafür ließ er eifrig reformieren. Aber manche Staaten in Europa – allen voran Frankreich – verschoben die Ziellinie, änderten die Kriterien und ließen Ankara wissen, dass sie ihr Veto nicht aufheben würden, egal welche Reformen die Türkei auf den Weg bringt. Zu groß, zu arm, zu landwirtschaftlich geprägt, zu muslimisch. Erdoğan nutzte die Ablehnung, um sich statt als Proeuropäer nun als Retter der türkischen Ehre gegenüber dem feindlichen Europa zu etablieren. Er ist immer noch an der Macht.
Wie weiter mit der Ukraine?
Für Europa ist der ukrainische Beitritt fast genauso wichtig wie für die Ukraine. Wenn die Europäische Union ein Land nicht integrieren kann, das gerade für europäische Werte und die Verteidigung der Peripherie Europas blutet, während es gleichzeitig die vorgeschriebenen Reformen für den Beitritt mitten im Krieg umsetzt, ist das Projekt Europa wohl gescheitert.
Statt sich zu überlegen, welche Probleme die große, ländliche Ukraine mit sich bringen würde, oder wie die Ukraine das Stimmengefüge in Brüssel zum Nachteil dieser oder jener Fraktion beeinträchtigen kann, muss die EU ihre Prozesse auf eine Union mit mehr und heterogeneren Mitgliedern anpassen.
Das bedeutet ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips und ein neues System der qualifizierten Mehrheiten. Es bedeutet Automatismen – kein Staat darf aus innenpolitischen Gründen einen auf Schiene befindlichen Prozess aufhalten können. Es bedeutet mehr direkte Demokratie und eine Aufwertung des Europäischen Parlaments. Es bedeutet ein Ende der Versorgungsunion, in dem jedes Mitgliedsland automatisch Altpolitiker:innen in hochbezahlten Positionen in Brüssel parken kann. Ein Land – ein Kommissar geht bei zwölf Mitgliedern, aber nicht bei 27 oder mehr. Und es bedeutet auch eine Überarbeitung eines Subventionssystems, das Geld aus rein politischen statt wirtschaftlichen Gründen mit der Gießkanne über z.B. die Landwirtschaft gießt.
Die erfolgreiche EU der Zukunft wird die Ukraine (wie auch andere Staaten) wie folgt behandeln: Das reformierte Brüssel wird die Ukraine noch über Jahre beobachten und ihren Fortschritt in Richtung vollständiger Erfüllung des acquis communautaire messen. Es wird unterstützend unter die Arme greifen wo möglich, mahnen wo nötig, und Entscheidungen aufgrund der Fakten treffen, nicht aufgrund der nächsten anstehenden Wahlen in einem Land, das ein politisch motiviertes Veto einlegen möchte.
Am Ende des Prozesses kann die Ukraine in einem neuen, stärkeren Europa eine wichtige Rolle spielen. Wenn sie die Reformen nicht schafft, wird sie, vielleicht wie die Türkei, ein verärgerter Spielverderber sein, oder im russischen Orbit einen untergeordneten Platz einnehmen. Aber diese Entscheidung muss bei den Ukrainerinnen und Ukrainern liegen, nicht im Moskau des Kriegsherrn Wladimir Putin oder in den Händen von Vetomächten, die der Ukraine grundlos Steine in den Weg legen.