Liebe Deutsche, habt ihr den Verstand verloren?
Deutschland hat sich innerhalb eines Jahrzehnts von einer verlässlichen, rational agierenden europäischen Führungsmacht zu einem vollkommen desorientierten Problemfall heruntergewirtschaftet. Aber statt aus den Fehlern der letzten Jahre zu lernen, geht der deutsche Blindflug unbeirrt weiter – und irritiert seine Freunde und Alliierten. Dabei wäre ein starkes, stabiles und entschlossenes Deutschland für die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zukunft Europas unabdingbar.
Von außen betrachtet kann man derzeit nur mit Kopfschütteln auf unser Nachbarland reagieren. Zu lange ist mittlerweile die Liste an fragwürdigen Entscheidungen und haarsträubenden strategischen Fehlern, die halb Europa mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Unverständnis auf die ehemalige Führungsmacht des Kontinents blicken lässt.
Besonders auffallend ist hier ein eigenartiges Pendeln zwischen dem Anspruch, als moralische Supermacht zu agieren, und dem Handeln, das völlig im Gegensatz dazu steht – entweder aufgrund beeindruckender Naivität oder einer eklatanten realpolitischen Impotenz.
Energie-, Sicherheits-, Infrastruktur- und Migrationspolitik sind nur einige der Bereiche, in denen Deutschland bestenfalls orientierungslos, schlimmstenfalls grob fahrlässig agiert hat und kaum Anzeichen für Besserung zeigt. Ein Überblick über die vielen Baustellen der deutschen Politik.
Fatale Abhängigkeit von Russland
Gutes Beispiel dafür war die gegen alle Warnungen herbeigeführte energiepolitische Abhängigkeit von Russland.
Schlimm genug, dass sich weite Teile der deutschen Elite von Putin vereinnahmen oder täuschen haben lassen. Auch nachdem längst ersichtlich war, dass dieser aggressive, imperialistische Ambitionen hegt und viele Staaten – vor allem in Osteuropa – längst versucht hatten, Abhängigkeiten zu reduzieren. Aber dass Kanzlerin Merkel selbst mehrfach vor Putin gewarnt hatte und dann offenen Auges in die Katastrophe galoppierte, ist genauso unverständlich wie die Arroganz, die teilweise gegenüber warnenden Stimmen gezeigt wurde.
Die lachenden deutschen Diplomaten bei der UN-Generalversammlung, welche sich über den wenig eloquenten Donald Trump amüsierten, während dieser vor der Energieabhängigkeit von Russland warnte, ist genauso illustrativ wie das regelmäßige arrogant anmutende „Westsplaining“ gegenüber osteuropäischen Staaten, die umfassende historische Erfahrungen mit russischem Imperialismus haben.
Energiepolitischer Blindflug
Die energiepolitische Abhängigkeit von Russland ist aber nur ein Teil eines größeren energiepolitischen Desasters, das nicht nur Deutschland selbst, sondern den ganzen Kontinent destabilisiert.
Der deutsche Atomausstieg wird als Fiasko sondergleichen in die Geschichte eingehen: Höhere CO2-Emissionen, tausende zusätzliche Tote durch Luftverschmutzung aufgrund des erhöhten Kohlestrombedarfs und gestiegene Abhängigkeit von einem imperialistischen Diktator. Gleichzeitig wurde jeder ambitionierte Ausbau von Erneuerbaren verabsäumt, trotz hoher Potenziale, vor allem in der Nordsee.
Grund dafür ist neben Bürokratie und Naturschutzbedenken von Umweltorganisationen die Tatsache, dass Deutschland seit Jahrzehnten den Stromnetzausbau vernachlässigt. Vorhandener billiger Windstrom kann nicht effektiv verteilt werden, und nennenswerte Kapazitäten können kaum ans Netz angeschlossen werden.
Der Verfall der deutschen Infrastruktur betrifft trotz jahrelangen Budgetüberschüssen viele Bereiche. Auch die Deutsche Bahn wurde in den letzten Jahrzehnten kaputtgespart und wurde von einem der Vorreiter in Europa zu einem Nachzügler und Problemkind. So war das einstige Industriemusterland zum Ausbruch der Energiekrise in einer eher bemitleidenswerten Position: Bei der Energie wurde alles getan, um die eigene wirtschaftliche Basis zu untergraben, während Alternativen zu fossiler (oder atomarer) Energie gleichzeitig vernachlässigt wurden.
Jetzt droht die Deindustrialisierung Deutschlands, und erste Schlüsselunternehmen wie der Chemieriese BASF haben bereits eine Abwanderung angekündigt. Diese Abwanderung der deutschen Industrie wird für Europas Wirtschaft, aber gerade auch für die stark verstrickte österreichische Industrie, massive Auswirkungen haben.
Alleingang bei Migration
Das Missmanagement im Bereich Migration seit 2015 ist ein weiteres Beispiel für eine vollkommen inkohärente deutsche Politik, die von moralischen Ansprüchen getrieben, aber ohne Absprache mit dem Rest von Europa und ohne scheinbare Gesamtstrategie durchgeführt wurde. Statt eines gemeinsamen europäischen – oder zumindest eines bilateral koordinierten – Vorgehens öffnete Deutschland, demonstrativ moralisch argumentierend und ohne Koordination oder Unterstützung für Nachbar:innen oder europäische Grenzstaaten die Tore für Flüchtlinge und Migrant:innen. Und das nur, um dann eher bescheidene Ressourcen für die Integration dieser Menschen aufzubringen.
Die Folgen waren für Europa katastrophal: Während deutsche NGOs und Medien die eklatanten Probleme in Lampedusa und Moria anprangerten, fühlten sich Griechenland und Italien hintergangen und mit den ankommenden Menschen alleine gelassen. Nationalist:innen und EU-Gegner:innen wurden europaweit gestärkt, der Brexit entscheidend befeuert.
Das sind alles keine Argumente dafür, 2015 keine Flüchtlinge aufzunehmen oder diesen Menschen nicht zu helfen. Sondern es illustriert, dass deutsche Regierungen und Eliten in letzter Zeit sehr gut darin waren, mit moralischen Positionen vorzupreschen, ohne die Interessen der europäischen Partner:innen im Blick zu haben, sich aber gleichzeitig absolut unwillens oder unfähig gezeigt haben, tatsächlich etwas Handfestes zur Lösung von Krisen zu unternehmen.
Widersprüchliche Außenpolitik
Kaum etwas illustriert dieses eigenartige Verhalten so sehr wie der Umgang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine: Die deutsche Regierung versucht seit Kriegsbeginn einen vollkommen schizophrenen Balanceakt zwischen demonstrativer verbaler Unterstützung und zögerlich anlaufender Hilfen. Währenddessen überschlagen sich weite Teile der deutschen Elite und Öffentlichkeit mit absurdem Unterwerfungspazifismus oder Verhandlungsaufforderungen mit Putin.
Es wurde zwar zumindest beschlossen, den deutschen Wehretat endlich substanziell anzuheben, nachdem man sich jahrelang auf amerikanische Sicherheitsgarantien verlassen hatte, ohne einen proportionalen Anteil zu leisten. Aber Teile der Regierung rudern bereits zurück, und konkrete Verhandlungen ziehen sich in die Länge. Auch die Lieferung von Panzern an die Ukraine wird nach wie vor verweigert. Man wolle nicht alleine vorpreschen – obwohl bereits halb Osteuropa Panzer geliefert hat. Für die NATO und vor allem Osteuropa zeigt diese eigenartige Ambivalenz, dass Deutschland zwar Ansprüche stellt, eine Führungsmacht zu sein, aber eher unverlässlich agiert, wenn es hart auf hart kommt.
Die Strategielosigkeit geht munter weiter
All das wäre schon schlimm genug, doch zwei aktuelle Ereignisse zeigen, dass die derzeitige deutsche Regierung die Lust an strategischen Fehlern und aktiver Untergrabung eines starken Europas anscheinend noch nicht verloren hat. Entgegen der Warnungen der Geheimdienste, der NATO-Partner:innen und der EU hat der deutsche Kanzler einen Verkauf des Hamburger Hafens, einer kritischen Logistik-Infrastruktur, an einen chinesischen Konzern durchgesetzt. Ein paar Tage darauf wurde angekündigt, den Verkauf eines deutschen Chip-Herstellers an ein chinesisches Unternehmen zu billigen – genau zu dem Zeitpunkt, als die USA aktiv und offensiv beginnen, die eigene Chip-Produktion stärker von China unabhängig zu machen.
Anstatt von der Abhängigkeit von Russland gelernt zu haben, schießt sich hier Deutschland erneut vollkommen ohne Not und gegen die Position seiner Verbündeten selbst in den Fuß und liefert kritische Teile der Wirtschaft und Infrastruktur einem autoritären Regime aus. Derartiges Verhalten wäre schon tragisch genug, wenn es nicht ein weiterer Schritt in Richtung wirtschaftlicher Irrelevanz Europas und dem Untergraben eines koordinierten und einigen Vorgehens des Westens wäre.
Von außen betrachtet ist diese Verkettung deutscher strategischer Fehler und unerklärlicher Alleingänge extrem besorgniserregend: Deutschland ist noch zu groß und zu wichtig in Europa, als dass eine derartig fahrlässige Selbstzerstörung egal sein könnte. Es bleibt zu hoffen, dass unser Nachbar bald wieder zu Sinnen kommt. Sonst könnte er Europa mit in den Abgrund ziehen.