Gegen alle Warnungen
Innerhalb von dreieinhalb Monaten russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, welcher für zehntausende Tote, „ethnische Säuberungen“, Deportationen, zahllose Kriegsverbrechen und Millionen Vertriebene verantwortlich ist, haben sich die russischen Rechtfertigungen von NATO-Expansion, „Entnazifizierung“ und angeblichen Biowaffenlabors mittlerweile offen zur banalen Umsetzung historischer Gebietsansprüche gewandelt.
Das ist kaum überraschend. Zahllose Autor:innen, Historiker:innen und Journalist:innen, die den Werdegang von autoritären Staatschefs und totalitären Führungspersonen untersuchen, betonen immer wieder, dass es erstaunlich einfach ist, deren Ziele und Motive zu identifizieren: Man müsse sie nur beim Wort nehmen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus wurden in den 1920er Jahren relativ offen angekündigt, was – so erstaunlich das in Retrospektive klingt – im In- und Ausland ignoriert wurde. Als Recep Tayyip Erdoğan 2005 in der Türkei ins Amt gewählt wurde, nannte der Economist seine Partei AKP eine „islamische CDU“, die Traditionen und eine liberale Demokratie vereinen werde. Man ignorierte dabei vollkommen, dass er in den 1990er Jahren haargenau jene Islamisierung, aggressive Außenpolitik und jenen illiberalen Autoritarismus herbeiführte, die seither seine Amtszeit prägen.
Auch Putin machte nie einen Hehl aus seinen, von Sowjet-Verklärung und Nullsummen-Logik geprägten, imperialistischen Ambitionen und seiner tiefen Abneigung des als dekadent und käuflich betrachteten Westens. Bei Amtsantritt nannte er den Zerfall der UdSSR einen „historischen Fehler“, seine erste Amtshandlung war die Wiedereinführung der alten Hymne. Er wähnte sich in der Tradition der Zaren, sprach offen über territoriale Ansprüche und „Sicherheitsinteressen“ in Nachbarstaaten und begann diese militärisch umzusetzen, sobald wirtschaftliche Stabilisierung, militärische Modernisierung und die interne Absicherung seines Regimes es zuließen.
Zuerst in Tschetschenien, dann in Georgien und schließlich mit der Besetzung der Krim und Teilen der Ostukraine 2014. In weiten Teilen Osteuropas gab es da nach Jahrzehnten unter russischer Hegemonie wenig Spielraum für Illusionen. Man integrierte sich ohne Zögern nahtlos in die NATO und die EU und begann sich von jahrzehntelang aufgebauter Abhängigkeit im Energiesektor zu lösen. Spätestens mit der russischen Annexion der Krim war der Ausstieg aus russischem Gas in Polen oder dem Baltikum beschlossene Sache und wurde ohne Zögern in Angriff genommen.
Der Gegensatz zu Westeuropa war frappierend: Für die einen war die Versuchung des russischen Markts und endloser Rohstoffe zu groß. Andere konnten auf jahrzehntelanger sozialistischer Verklärung der Sowjetunion aufbauen, andere wiederum sahen in Putins Autoritarismus, Illiberalismus und bemüht inszenierter Maskulinität die Rettung Europas vor der EU, vor Pride-Paraden, Islam und so weiter. So war es leicht für Putins Regime, mehr oder weniger offen zum tatkräftigen Destabilisierer eines politisch geeinten und wirtschaftlich unabhängigen Europas zu werden – mit großzügigen Spenden, Trollfabriken und gezielten Desinformationskampagnen wurden EU-feindliche Rechtspopulisten quer durch Europa sowie die Brexit-Befürworter unterstützt.
Und während die wirtschaftlichen Verflechtungen zunahmen, fehlte von der erhofften gesellschaftlichen oder politischen Liberalisierung in Russland jede Spur, stattdessen gab es vergiftete Regimegegner, Gleichschaltung der Medien, zunehmend militarisierte Parteijugend und immer unverhohlenere Drohgebärden gegen Nachbarn. Nichts davon war geheim oder unbekannt, doch die politische Elite Westeuropas wollte es nicht wahrhaben. Trotz aller Warnsignale wurden Abhängigkeiten einzementiert, Infrastrukturen an die Gazprom verkauft, ganze Innenstädte an Oligarchen und russische Fonds verhökert und der Kopf kollektiv in den Sand gesteckt. Im Februar folgte das böse Erwachen.