Scheitern wir am „Niemals wieder“?
Die Zerstörung jüdischer Friedhöfe ist kein Ausdruck des Antisemitismus, sie ist er selbst.
Theodor W. Adornos Zitat sollte dieser Tage eine klare Warnung sein. Am Allerheiligentag wurde am Wiener Zentralfriedhof ein Brand in der Zeremonienhalle des jüdischen Teils gelegt sowie die Außenwand mit Hakenkreuzen beschmiert. Das religiöse Judentum legt Wert auf die Dauerhaftigkeit des Grabes, der Friedhof ist damit für gläubige Jüd:innen ein enorm wichtiger Ort – umso bösartiger ist die Schändung dieser Einrichtungen.
Doch dieser Vorfall ist aktuell bei weitem nicht der einzige. Wie der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch, auf X (vormals Twitter) schreibt, wurden seit dem 7. Oktober, als die Hamas Israel attackierte, Zivilist:innen tötete und Geiseln nahm, 165 antisemitische Vorfälle in Österreich registriert. Dutzende weitere werden aktuell von der Meldestelle der IKG beurteilt.
Viele dieser 165 Ereignisse haben es auch in die Medien geschafft und für Empörung gesorgt. Etwa das Abreißen der Israelfahne, die als Zeichen der Solidarität vor dem jüdischen Stadttempel in Wien gehisst worden war.
Das sind alles Beispiele, wie nach dem Terroranschlag der Hamas und dem Krieg im Nahen Osten die Ablehnung des jüdischen Lebens in Österreich wieder hochkocht. Es geht nicht um Kritik am militärischen Vorgehen Israels oder dessen Politik gegenüber den Palästinenser:innen, nein, es soll die jüdische Bevölkerung verängstigt und gestört werden. Das ist eine Schande für ein Land, das sich nach dem Holocaust das „Niemals wieder“ auferlegt hat.
Was „Niemals wieder“ bedeuten sollte
Diese Verpflichtung, gegen Antisemitismus aufzustehen, war das Ergebnis eines langen Prozesses. Erst Bundeskanzler Franz Vranitzky erwähnte bei einer Rede im Nationalrat 1991 die Mitschuld Österreichs am Holocaust. Er war auch der erste österreichische Kanzler, der Israel besuchte. Seitdem wird an den Gedenktagen, die an die Bestialität der Nazis erinnern sollen, geschworen, dass so etwas niemals wieder vorkommen darf. In den Bildungseinrichtungen sollte also aufgeklärt werden, und die Exekutive muss beobachten und notfalls eingreifen.
Doch was die gesellschaftliche Akzeptanz dieses „Niemals wieder“ angeht, offenbart sich sehr viel Aufholbedarf: Die im April 2023 präsentierte Antisemitismusstudie des österreichischen Parlaments fragt unter anderem ab, ob Österreich heute wegen des Holocaust noch eine moralische Verpflichtung hat, Jüd:innen in Österreich beizustehen. Diese Frage wird jeweils von 44 Prozent der Befragten bejaht oder verneint. Der Aussage, dass Jüd:innen in Österreich zu viel Einfluss hätten, stimmen immerhin 19 Prozent zu.
Wir müssen (auch) über Zuwanderung sprechen
Die Antisemitismusstudie hat auch eine repräsentative Erhebung der Meinungen von arabisch- und türkischsprachigen Menschen in Österreich erarbeitet. Und hier zeigen sich teilweise massive Abweichungen von der Gesamtbevölkerung. Die oben erwähnte Frage über die Verantwortung für jüdisches Leben in Österreich ist in der Untergruppe fast gleich beantwortet: 43 Prozent bejahen sie, 47 Prozent verneinen sie. Doch bei der Frage, ob Jüd:innen zu viel Einfluss hätten, stimmen 47 Prozent der Befragten zu, 43 Prozent nicht.
Also fast die Hälfte der befragten arabisch- und türkischsprachigen Menschen in Österreich kann sich – zumindest teilweise – mit dieser antisemitischen Verschwörungstheorie identifizieren. Es ist klar, dass hier in den Schulen und bei Flüchtlingen in den Integrationskursen ein größerer Schwerpunkt auf Aufklärung gelegt werden muss. Es muss klar kommuniziert werden: Antisemitismus darf keinen Platz in Österreich haben.
Katalysator Nahost-Krieg
Die Debatte über aktuellen Antisemitismus in Österreich steht jetzt am Anfang. Auslöser dafür sind die Reaktionen auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas. Die Bilder der Pro-Palästina-Demos, auf denen der Terror der Hamas gegenüber jüdischen Zivilist:innen ignoriert oder sogar gefeiert wird. Gleichzeitig wird von rechter Seite unter Verweis auf Solidarität mit Israel die Chance genutzt, Zuwanderung per se als Sicherheitsgefahr darzustellen. Und in Teilen der Linken ist es nicht möglich, eine Positionierung in dem Konflikt zu finden. Zwischen all diesen Fronten steht vor allem die jüdische Bevölkerung in Österreich und ganz Europa, die sich nicht mehr sicher fühlen kann.
Was bisher zum größten Teil unter der Oberfläche brodelte, kommt jetzt in all seiner Hässlichkeit zum Vorschein. Der Antisemitismus in der Gesellschaft hat durch den neuen Krieg im Nahen Osten einen Katalysator bekommen und muss als Problem erkannt werden. Nicht durch Betroffenheit; durch Aufklärung, Bildung und konsequente Verfolgung muss er bekämpft werden. „Niemals wieder“ darf keine Floskel sein. Es muss ein Auftrag und eine Verantwortung sein. Niemals wieder ist jetzt.