Sozialer Aufstieg: Ein Kampf gegen Windmühlen?
Ewig armes Arbeiterkind? So scheint es, wenn man den Ausführungen in einem Video von Barbara Blaha glaubt. In einem TikTok-Video erzählte die Leiterin des Momentum-Instituts von ihrer persönlichen Erfahrung an ihrem ersten Tag an der Universität Wien. Sie beschrieb, wie sie sich in den Gängen der Universität verirrte, während sie nach ihrem Hörsaal suchte. Sie führte den Schmerz, den sie in dieser Situation empfand, auf den Umstand zurück, dass sie ein sogenanntes Arbeiterkind und als solches in einem ungerechten System aufgewachsen sei.
Allerdings hat der Beitrag in diversen Social-Media-Kanälen auch Kritik hervorgerufen. In einem neuen Umfeld nicht sofort zurechtzukommen, an einer Universität einen Raum nicht zu finden, das sei auch Akademikerkindern bekannt – und als Beispiel für Nachteile aufgrund der Herkunft nicht tauglich. Aber die Kritik bezieht sich nicht nur auf ihr TikTok-Video, sondern auch auf ihren Essay: Dort argumentiert Blaha, dass das Bildungssystem kein Hebel für sozialen Aufstieg und es sogar verlogen sei, dies zu behaupten.
Das Video und der Essay haben mich zum Nachdenken gebracht. Ehrlich gesagt hat mich der Beitrag wütend gemacht. Nicht weil ich ihr nicht glaube und ihre Aussagen nicht nachempfinden kann, oder weil ich davon ausgehe, dass die sozioökonomische Herkunft keinen Einfluss auf den Bildungserfolg hat. Sondern weil der Sachverhalt viel komplexer ist.
Als Erstsemestrigen-Tutor weiß ich, dass die Überforderung in den ersten Uni-Wochen für alle Studierenden eine Herausforderung darstellt, unabhängig von ihrer Herkunft. Diese Herausforderungen machen uns in gewisser Weise alle gleich. Die individuelle Überforderung in den ersten Wochen ist kein Indikator dafür, dass die sozioökonomische Herkunft einen Einfluss auf den Bildungserfolg hat. Unser Bildungserfolg hängt viel eher von der Summe vieler einzelner Faktoren ab, zu denen die Herkunft aber leider gewiss auch zählt. In Blahas TikTok wird das Gefühl vermittelt, der Aufstieg für Kinder aus bildungsfernen Haushalten sei ein aussichtsloser Feldzug gegen Windmühlen.
Das alleine ist aber nicht der Grund für meinen Kommentar. Sondern dass ich das Gefühl hatte, dass sie durch ihre Geschichte und Argumente auch die Geschichte von hunderten Personen aus bildungsfernen Haushalten – und somit auch meine Geschichte – erzählt. Ich selbst gehöre zur ersten Generation meiner Familie mit einem Universitätsabschluss. Aufgrund meiner sehr schlechten Noten stand für mich eine HTL oder ein Gymnasium nicht zur Debatte. Es hieß: Mathias macht eine Lehre!
Nach einem recht turbulenten Jahr im Polytechnischen Lehrgang startete mein erster Arbeitstag als Prozessleittechniker im Industriegebiet Arnoldstein. Nach meiner Lehre wusste ich nicht ganz genau, wo die Reise hingehen sollte. Ich wusste nur, dass ich woandershin möchte. Meine Mutter war diejenige, die mich drängte, die Berufsreifeprüfung zu machen. Mehr als durchfallen kann ich nicht, dachte ich mir. Und ja, ich hatte Angst. Aber nicht, weil ich ein Arbeiterkind war, sondern weil ich extrem schlecht in Deutsch war.
Ich war nicht nur ein Arbeiterkind, sondern ich war Arbeiter. Mein Lehrbetrieb ging nach meinem Lehrabschluss in Konkurs, und so habe ich ein Jahr vor meinem Uni-Start als Pflasterer am Bau noch Steine in die Erde gehämmert, um mir die Abendschule und das Leben leisten zu können. Nach einem kurzen Abstecher an der TU Graz habe ich begonnen Soziologie zu studieren. Schon während meiner Berufsreife war ich fasziniert von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhängen.
Die Anfangszeit an der Universität war zweifellos eine Herausforderung für mich. Wissenschaftliches Arbeiten war mir bis dahin nicht vertraut, und auch mein bisheriger Lebenslauf war im Kreise meiner Studienkolleg:innen ein absolutes Kuriosum. Anfangs schämte ich mich sogar ein wenig, meine beruflichen Wurzeln zu erwähnen. Mittlerweile sage ich aber mit Stolz, dass ich eine Lehre gemacht habe. Soziolog:innen sind ein sehr diskussionsfreudiges Volk und verwenden hierfür gerne eine Fülle an Fremdwörtern, von denen mir zu Beginn nicht alle bekannt waren. Anfangs hatte ich Probleme, zurechtzukommen, dachte mir, ich sei für alles zu blöd. Aber ich war hungrig, wollte verstehen, wollte weiterkommen – ich wollte „aufsteigen“. Und so habe ich nach harter Arbeit einen Job an der Uni Wien bekommen. Danach bin ich zu NEOS gekommen, und heute bin ich Direktor eines Landtagsklubs.
Es ist nicht das Bildungssystem, das mich dahin gebracht hat, wo ich heute bin. Es waren die Lehrer:innen bei der Berufsreifeprüfung, die mich begleitet, mir Mut gemacht, mir Sachen beigebracht und mir so eine neue Welt gezeigt haben. Eine Welt, in der Lernen Spaß macht und Wissen nützlich ist. So wurde ich durch Förderung durch meine Lehrer:innen zum Einserschüler – und so habe ich auch gelernt, an mich zu glauben und zu verstehen, dass ich durch meine Leistung etwas bewirken kann.
Auch das ist eine sehr persönliche Geschichte. Aber sie zeigt eines: Es sind die Lehrer:innen, die das Schicksal von Kindern wie mir, Barbara Blaha und vielen anderen prägen. Auch Blaha schreibt darüber, wie die Empfehlung einer Lehrerin für das Gymnasium ihren Bildungsweg maßgeblich beeinflusst hat. Gute Lehrer:innen ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben und eine Zukunft in Wohlstand. Genau solche Lehrpersonen braucht es viel mehr – damit es nicht mehr einfach „Glück“ ist, wenn man an sie gelangt.
MATHIAS LIPP ist Leiter der politischen Abteilung im NEOS Parlamentsklub. Zuvor war er Klubdirektor im NEOS Landtagsklub Oberösterreich. Der ehemalige Lehrling verfügt über Erfahrung in Industrie, Start-ups, Akademie und Politik. Sein Fokus liegt in den Bereichen Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialpolitik.