Warum die Liebe zum Wirtschaftswachstum fehlt
Das Problem mit dem Wachstum – vor allem dem nachhaltigen und mittel- bis langfristigen – ist, dass es nicht wirklich populär ist. Oder nicht mehr populär ist.
Wirtschaftsprofessor Harald Oberhofer hat dieses Phänomen erst kürzlich in einer Kolumne mit dem Titel „Politökonomie des Scheiterns“ beschrieben. Darin beschreibt er, wie Wähler:innen die eigene Lebensdauer bei der Entscheidungsfindung miteinbeziehen. Was das für die Wahrscheinlichkeit von langfristig ausgelegten Reformen bedeutet, lässt sich mit diesem Satz untermauern:
„Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung erst nach der nächsten Wahl positiv verändern, können die Wiederwahlchancen nicht verbessern. Sehr langfristig angelegte Reformen sind in der Bevölkerung im Gegenteil sogar tendenziell unpopulär.“
Harald Oberhofer
Das Dilemma der unpopulären Entscheidungen
Verstärkt wird das Ganze, wenn diese Reformen dem Großteil der Wähler:innen nicht mal in der nächsten Legislaturperiode helfen, weil sie diese, kurz gesagt, nicht mehr erleben werden. Warum sollte man am Ende des Lebens noch einmal draufzahlen, nur damit langfristig nachhaltiges Wachstum entstehen kann?
Beim Klimawandel ist diese Erzählung kaum mehr möglich. Die Folgen sind jetzt schon zu präsent. Das Pensionsloch hingegen sehen nur wenige als aktuelles Problem. Die Anreizprobleme am Arbeitsmarkt – mit Unmengen an offenen Stellen und einem eklatanten Fachkräftemangel – scheint bei Arbeitgebern omnipräsent, aber in breiten Kreisen kaum bekannt zu sein. Die „Pensionen sind sicher“-Demagogen helfen dabei auch nicht gerade.
Beliebte Einwände gegen Wachstum
Oft hört man die These des begrenzten Wachstums: „Ein unendliches Wirtschaftswachstum kann nicht existieren, da nur begrenzt Flächen, Rohstoffe und Menschen existieren. Sobald diese an ein Limit gestoßen sind, kann es kein Wirtschaftswachstum mehr geben.“ Ja, quantitativ mag das schon naheliegend sein, aber qualitativ nicht. Wirtschaftswachstum bedeutet nicht zwingendermaßen, unendlich mehr natürliche Ressourcen zu verbrauchen – es ist möglich, das Wachstum vom physikalischen Wachstum zu entkoppeln – und auch mit den damit verbundenen Folgen.
Ein anderer Einwand ist die Frage, ob es Wachstum denn überhaupt brauche. Kurz: Ja! Wachstum entsteht durch neues, in die Praxis umgesetztes Wissen. Weniger Wachstum heißt auch weniger Beschäftigung. In Österreich etwa steigt die Produktivität jedes Jahr – dadurch sinkt der Bedarf an Beschäftigten, was durch Wachstum ausgeglichen werden muss. Dieser Effekt ist auch bekannt als Okun’sches Gesetz.
Zu guter Letzt hängt Wachstum auch mit Strukturwandel und Innovation zusammen und ist daher erforderlich, um Umweltprobleme zu lösen und Klimaziele zu erreichen. Ohne Wachstum kann es auch keinen Strukturwandel geben – also keine Umstellung der Art von Gütern und Dienstleistungen, die produziert werden. Dazu muss nicht unbedingt immer mehr hergestellt werden oder die Wirtschaft wachsen. Aber ohne einen Strukturwandel wären wir z.B. immer noch bei Festnetztelefonen statt bei Handys, bei Klapphandys statt Smartphones oder bei Telegrammen statt E-Mails.
Leben für das BIP?
Wirtschaft und Wirtschaftswachstum kann man nicht hinreichend sinnvoll mit einem einzigen Maß abbilden. Wirtschaftlicher Wohlstand und dessen Wachstum muss anhand mehrerer Parameter gemessen und dargestellt werden. Dazu gehören beispielsweise Daten über Zugang zu Produkten und Dienstleistungen, unseren Gesundheitszustand, über Sicherheit, oder ob wir Lärm und Schadstoffen ausgesetzt sind.
Das BIP als Kennzahl hängt trotzdem mit vielen der Größen zusammen, die man mit dem Begriff Wohlstand in Verbindung bringt: Zufriedenheit oder Wohlergehen. Diese misst es zwar nicht genau, aber steht in einer engen Wechselwirkung dazu. Das BIP hat aber auch Grenzen: Wenn etwa eine Produktion Umweltschäden verursacht, dann werden diese nicht gemessen. Wenn es wächst, dann wachsen auch viele der Faktoren, die als wichtig angesehen werden: Arbeitsplatzsicherheit, die durchschnittliche Einkommenslage, aber auch politische Faktoren wie bürgerliche Freiheitsrechte.
Gerade im Vergleich mit anderen Nationalstaaten hat sich das BIP pro Kopf deswegen als Kennzahl etabliert. Es sollte aber trotz dieser starken Korrelation als Maß für wirtschaftliche Aktivität und nicht als Indikator für Wohlstand gesehen werden. Im Sinne einer evidenzbasierten Politik wäre der nächste logische Schritt, neue Indikatoren zu implementieren, die den Wohlstand eines Landes noch realitätsnäher widerspiegeln. Dabei sollte Wohlstand möglichst direkt gemessen werden: Statt Gesundheitsausgaben ist es sinnvoll, den Gesundheitszustand zu messen. Statt Bildungsausgaben ist es sinnvoll, Kompetenzen direkt zu messen usw.
Wachstumsfeindlichkeit ist modern
Aber wie steigert man jetzt das BIP, und wie das Wachstum? Die Wachstumsschübe durch mehr Frauen auf den Arbeitsmärkten und bessere Ausbildung haben wir hinter uns. Viele der „low hanging fruits“ beim technologischen Fortschritt sind schon gepflückt. Politische Entscheidungsträger:innen könnten den grenzüberschreitenden Handel erleichtern und der Globalisierung einen Schub verleihen – aber wir alle erinnern uns an die unsäglichen Debatten rund um TTIP, CETA und Co. Politiker:innen könnten versuchen, das Bauen von Wohnungen und Anlagen zu erleichtern, um die unverschämt hohen Wohnkosten zu senken. Sie könnten ausländische Fachkräfte willkommen heißen, um pensionierte Arbeitnehmer:innen zu ersetzen. All diese Reformen würden die Wachstumsrate erhöhen.
Aber das hat überhaupt keine Priorität. Im Gegenteil, es ist fast schon unpopulär. Falls es dafür noch eine Beweisführung bräuchte: Laut einer Analyse des Economist, die sich den Programmen politischer Parteien widmet, sind die OECD-Staaten heute etwa halb so wachstumsorientiert wie in den 1980er Jahren. Moderne Politiker:innen sind weniger geneigt, die Vorteile freier Märkte zu preisen als ihre Vorgänger. Sie äußern eher wachstumsfeindliche Stimmungen, wie z.B. positive Erwähnungen der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft.
Ein 2020 veröffentlichter Artikel des verstorbenen Harvard-Ökonomen Alberto Alesina und Kolleg:innen des IWF und der Georgetown University maß die Bedeutung von Strukturreformen im Laufe der Zeit, darunter z.B. Änderungen der Vorschriften. Zusammengefasst: In den 80ern und 90ern implementierten Politiker:innen noch wesentliche Bündel an Reformen und verschlankten damit die Volkswirtschaften. Bis zu den 2010er Jahren kamen Reformen praktisch zum Erliegen.
Für Wachstum braucht es Reformen
Politiker:innen ziehen es vor, den Erlös aus dem vorhandenen Wachstum zu verschwenden. Das zeigen auch die aktuellen Analysen des österreichischen Bundesbudgets. In Österreich wird nur jeder fünfte bis sechste Teil des Bundesbudgets in zukunftsorientierte Bereiche wie Klimaschutz, Elementarpädagogik oder Forschung investiert. Um wieder zu einem Budget zu kommen, das zukunftsorientiert ist – mehr Geld für Wissenschaft und Forschung als für die Refinanzierung von Schulden –, darf man nicht nur auf die fernere Zukunft hoffen: Ohne Reformen wird das nicht gehen. All das auch, um eine effiziente Verwaltung sicherzustellen und Geld für die richtigen Prioritäten zu haben: Wenn der Mittelstand entlastet werden soll, sind direkte Förderungen verteilungspolitisch unklug. Der breite Mittelstand steuert den Großteil des Steueraufkommens bei. Ihn mit der Gießkanne zu entlasten, ist in etwa so, als würde man sich selbst einen Kredit gewähren.
Nach Wirtschaftswachstum klingt das nicht. Darauf zu warten, dass sich Babyboomer nachhaltige Reformen erwählen, wird sich nicht mehr ausgehen. Und zu hoffen, dass wir bald an der Klippe stehen, ist jedenfalls der falsche Weg. Wir brauchen ein nachhaltiges Wachstum, und dafür braucht es mutige Reformen. Was dafür nötig ist? Mut und Vertrauen.