Wie liberal ist … das Gänseblümchen?
Man liebt es (ich lieb es), man liebt es nicht, man liebt es … oder man übersieht es einfach. Schade und, ich bin so frei, ausgesprochen kurzsichtig, denn das Gänseblümchen ist etwas ganz Besonderes. Oft getreten, ausgerupft, übersehen – noch öfter unterschätzt. Seine Selbstbestimmtheit ist respekteinflößend, sein Durchhaltevermögen bewundernswert, sein Freiheitsdrang schier unbändig. Das Gänseblümchen ist Freiheitskämpfer und Umweltaktivist. Ein „Stehauf-Pflänzchen“ von durch und durch liberaler Natur. Wo ein Gänseblümchen wächst, da wächst die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. Und ich habe für alles eine Erklärung, versprochen.
Ein echter Europäer
Zunächst einmal ist das charmante Gänseblümchen im Grunde seiner botanischen Seele seit jeher überzeugter Europäer. „Bellis perennis“, ursprünglich beheimatet im südlichen Europa, ist über die Jahrhunderte mit den Menschen gewandert und hat dabei stückweise den Kontinent erobert: Heute ist es beinahe im gesamten europäischen Raum zu Hause, von Mittel- bis Nordeuropa. Die Freiheit der individuellen Entfaltung (ihrer Blüten) lässt sich die zierliche, doch alles andere als zimperliche Pflanze nicht einmal vom Wetter nehmen: Sie blüht nahezu das gesamte Jahr hindurch, unermüdlich wie unverfroren, von März bis November, sogar auf Frostwiesen. Unbeirrbar in ihrem Daseinsanspruch und (fast) grenzenlos freiheitsliebend wächst sie in der Stadt wie am Land, im Tal und am Berg, bis hinauf auf luftige 2.000 Meter.
Das Gänseblümchen, die Freiheitskämpferin
Wirft man einen Blick in die historischen Pflanzenlexika unserer deutschen Nachbarn, stößt man auf ein gänseblumiges Kapitel, das insbesondere im Kontext der aktuellen Beschränkungen von Abtreibungsrechten in den USA aufhorchen lässt. Galt das „Maßliebchen“ bereits im Mittelalter als hochgeschätzte Heilpflanze, wendete sich das (Gänseblümchen-)Blatt Ende des 18. Jahrhunderts: Eine Verordnung aus dem Jahr 1793 sah seine Ausrottung in Deutschland vor. Man vermutete, dass es aufgrund seiner schleimlösenden Wirkung für Abtreibungen eingesetzt werden könnte. Doch wie ein Blick auf die Grünflächen von heute zeigt, scheiterten die Versuche, eine Ausrottung des Gänseblümchens war nicht möglich. Ebenso wie es niemals möglich sein kann, Frauen das Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper, ihren Geist und ihr Leben abzusprechen? Schön wär’s, doch sieht die Realität auch im „modernen“ 21. Jahrhundert in vielen Teilen der Welt gänzlich anders aus. Und doch mag das Gänseblümchen sinnbildlich stehen für die Beharrlichkeit, das Durchhaltevermögen und die Widerstandskraft, die unzählige (liberale) Kämpfer:innen im Ringen um Fortschritt und Gleichberechtigung über Jahrhunderte hinweg bewiesen haben und bis heute täglich beweisen müssen. Durch dieses Kapitel wird die kleine, blumige Kämpfernatur, wenn schon nicht zur Mitkämpferin, so zumindest zu unserer Komplizin im liberalen Kampf für Gleichstellung.
Je stärker man das Gänseblümchen zu unterdrücken versucht, desto gestärkter geht es daraus hervor und desto entschiedener pocht es auf sein „individuelles Freiheitsrecht“: Die Pflanze lässt sich nicht verdrängen, sondern erblüht, selbstbestimmt und hocherhobenen Blütenkopfes, immer wieder neu. Ist man an dieser Stelle also gewillt, die individuell notwendige Dosis an Fantasie aufzuwenden (gebt euren Frühlingsgefühlen eine Chance!), kann das Gänseblümchen tatsächlich als Symbol für den Kampf um Freiheitsrechte im Allgemeinen und – ja, ich lehne mich weit aus dem Fenster – liberalen Feminismus angesehen werden.
Ein Rasenunkraut als Sinnbild
Auch in ökologischer Hinsicht entfaltet sich mit der Blüte eines Gänseblümchens eine gewisse Symbolik. Denn die Wahrheit ist doch: Wo ein Gänseblümchen blüht, da ist der Boden unversiegelt. Und wo er das nicht ist und das Gänseblümchen trotzdem seinen Weg ans Tageslicht findet, da hat die Flächenversiegelung Risse bekommen und fängt die sprichwörtliche Fassade buchstäblich zu bröckeln an. Ein blumiges Sinnbild für eines der drängendsten ökologischen Probleme Österreichs: rigoroser Bodenverbrauch samt Flächenversiegelung – beides Hauptgründe für den Biodiversitätsverlust und starke Treiber der Klimakrise.
Am versiegelten Boden der Tatsachen
Intakte, gesunde Böden ebnen uns – buchstäblich – den Weg in eine klimaneutrale Zukunft. Ein, wie sich längst abzeichnet, Gewaltmarsch, auf dem wir uns, ehrlicherweise, keine weiteren Umwege erlauben dürfen. Ungünstig fällt beispielsweise eine Prognose des Umweltbundesamts im April 2023 aus, die zeigt: Bei Fortschreibung der bisherigen Klimaschutzmaßnahmen wird Österreich die EU-Klimaziele für 2030 klar verfehlen. Mit 42 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent würden die Treibhausgasemissionen dann bei 13 Millionen mehr als vorgesehen liegen. Eine Rechnung, die bei der Inkonsequenz und Gleichgültigkeit, die in Bezug auf Klimaschutz hierzulande immer noch verbreitet an den Tag gelegt wird, kaum aufgehen wird – und die uns, nicht nur im Hinblick auf mögliche Strafzahlungen in Millionenhöhe, teuer zu stehen kommen wird. Das kann sich, bei allem gebührenden Respekt, wirklich jedes Gänseblümchen ausrechnen.
Von Bienen, Blumen und Verantwortung
Reichlich blumige Symbolik, für die Herr und Frau Kleingartenglück wenig Empathie aufbringen mögen, ist das elende, weiß-pinke Rasenunkraut in ihren Augen doch eher als dreist und frech in seinem Freiheitsdrang zu betrachten. Denn das Gänseblümchen entfaltet sich, seine Individualität und seine Blüten mit Vorliebe da, wo es das nicht soll: am gehegten wie gepflegten Prachtrasen. Dort breitet sich die Pflanze Horst-artig aus, bedient sich sämtlicher Nährstoffe und verdrängt das artig gewachsene Gras allmählich. Was auf den ersten Blick einer seiner weniger liberalen Wesenszüge sein mag und insbesondere passionierten Hobbygartelnden lästig werden kann, die zugunsten der höchsteigenen landschaftsarchitektonischen Entfaltungsambitionen die „freie Entfaltung“ wild gewachsener, floraler Individuen kraft ihres grünen Daumens prinzipiell gerne in Keim und Samen ersticken. Auf den zweiten Blick entpuppt er sich jedoch als schöne Metapher für gesunden Wettbewerb. Das Gänseblümchen fordert heraus – und fördert Vielfalt. Eine von Gras monopolisierte Wiese ist für ihre Bewohner:innen eben keine intakte Wiese. Ein breites, buntes Angebot hingegen sorgt für ein gesundes Zusammenleben von Bewuchs und Bewohner:innen.
Nun eignet sich eine G’stettn vor der Terrassentür, zugegeben, nur mäßig zu Erholungs- und Erquickungszwecken. (Wer schon mal mit nackten Füßen auf eine ökologisch wertvolle Brennnesselstaude gestiegen ist, weiß genau, wovon ich spreche.) Weil die Wahrheit aber meist unbequem und die Welt überwiegend ungerecht ist, bräuchte unsere Umwelt genau davon mehr: naturbelassene Blühflächen, samt kreuchender wie fleuchender Bewohnerschaft. Und ein Mehr an Bewusstsein, dass wir alle, auch das freie Gärtner-Individuum, Verantwortungsträger:innen sind.
Das zunehmende Schrumpfen von „Wildnis“ ist einer der Hauptgründe für das weltweite Artensterben, auch in Österreich gilt etwa ein Drittel der Arten als bedroht. Und mag so ein prächtiger Rasen, grüner Grashalm an noch grünerem Grashalm, wohl keine „versiegelte Asphaltwüste“ sein, so ist er für die meisten Tier- und Insektenarten doch nicht mehr als öde „Gartenwüste“: kaum Nahrung, zu wenig Verstecke für die Brutpflege, kein Unterschlupf. Doch die gute Nachricht lautet: Schon durch partielle „Liberalisierung“ des eigenen grünen Hoheitsgebiets lässt sich ein kleiner, doch wirksamer Beitrag zum Umweltschutz leisten; schon ein kleiner Winkel wilde Blühwiese im Garten hilft. (Und für den Fall, dass an dieser Stelle Zweifel aufkeimen: Ja, auch die zarten Blütenkörbe des Gänseblümchens sind wichtige „Futterstellen“ für Wildbienen, Hummeln, Schmetterlinge und andere Insektenarten.)
Ein blühender, doch mahnender Fingerzeig
Freiheit geht immer einher mit Verantwortung, auch jener, unseren Nachkommen eine lebenswerte, gesunde und resiliente (Um-)Welt zu hinterlassen. Um dieser Verantwortung vollends gerecht zu werden und die Lebensqualität kommender Generationen sicherzustellen, ist freilich auch die Politik gefordert. Kein Gänseblümchen da draußen wird uns ein dringend notwendiges Klimaschutzgesetz, ein Energieeffizienzgesetz oder mehr Transparenz bei Widmungskompetenzen liefern können. Auch im Kampf gegen die Biodiversitätskrise, Bodendegradation und die Folgen des Klimawandels wird es effektivere „Waffen“ als 15 cm kleine Korbblütler brauchen. Doch kann das Gänseblümchen unter den Aspekten Eigenverantwortung und Partizipation – zwei wesentliche Prinzipien einer liberalen Gesellschaft – als kleiner, blühender und mahnender Fingerzeig von Mutter Natur verstanden werden, der uns immer wieder daran zu erinnern vermag, den Stillstand im Umwelt- und Klimaschutzbereich sowie bei der Energiewende nicht einfach hinzunehmen. Sondern – endlich! – aktiv zu werden.
Durch Bewusstseinsbildung ein Umdenken und in weiterer Folge tatsächliche Verhaltensänderung zu bewirken, darin wird langfristig die wahre Herausforderung bestehen – und gerade hier kann das Gänseblümchen, wenn man es lässt, seinen Beitrag leisten. Es ist klein und zäh und tapfer, beweist Stärke allein durch sein Dasein, und wenn man so will (ich will und argumentiere das so), übt es stillen Protest gegen achtloses, unverantwortliches Verhalten jeglicher Art und Weise, nicht nur Fauna & Flora gegenüber. Eine Wiese voll freundlich strahlender Gänseblümchen mag daher Anstoß sein, nachzudenken über Dinge wie Freiheit, Selbstbestimmtheit und Verantwortung. Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und Lebensqualität. Toleranz und gegenseitige Wertschätzung. Über Chancengerechtigkeit und eine offene, freie Gesellschaft von morgen – die in einer Welt (über)leben muss, die wir einmal hinterlassen werden.