Wie liberal ist … das Jüngste Gericht?
Zugegeben, die Frage, die der Titel stellt, ist ein bisschen unerwartet. Doch was sagt die Idee eines finalen, alles offenbarenden Urteils über uns Menschen aus? Die Faszination dieser Idee ist ja nicht nur auf das Christentum beschränkt, viele andere Religionen kennen eine Variante davon. Über die Jahrtausende der Menschheitsentwicklung kam diese Idee also immer wieder. Warum ist das so?
Am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn alle Lebenden und Toten gerichtet werden sollen, wird nichts verborgen bleiben, alles wird ans Licht kommen – so zumindest der Glaube. Das kann, je nach weiterem Kontext, als Bedrohung oder als Hoffnung angesehen werden. In der moderneren, kritischen Lesung der Idee des letzten Urteilens wird vor allem auf den moralisch-drohenden Aspekt verwiesen. Über Jahrhunderte wurde durch immer abstoßendere Bestrafungen, die in der Hölle drohen würden, das Leben als Spießrutenlauf zwischen Sünden dargestellt, das fast nur in ewiger Verdammnis enden kann.
Tatsächlich ist die Hölle – der Platz, an dem die Verdammten enden – nicht so alt wie die Idee des Jüngsten Gerichts. Erst die Kirchenväter ab dem 5. Jahrhundert haben diesen Ort erfunden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Status des Christentums massiv gewandelt. Aus einer bedrängten Gruppe im Untergrund des Römischen Reichs, deren Mitglieder verfolgt und hingerichtet wurden, war die in Europa dominante Religion geworden. Mit der Ausbreitung des Christentums und der Missionierung des Kontinents wurde aus der befreienden Hoffnung einer ultimativen Gerechtigkeit ein Einschüchterungs-Instrument, das die neuen Schäfchen brav halten sollte. Das Buch, in dem alle Taten niedergeschrieben sind, wird zur Drohung. Doch das war nicht immer die Intention.
Die Hölle: Die ultimative Schwarze Pädagogik
Sieht man sich Kirchen und Kunstwerke aus dem Mittelalter an, fällt auf, wie oft das Jüngste Gericht oder die Hölle dargestellt werden. Die Angstfantasie, die Hieronymus Bosch in seinem Weltgerichts-Triptychon darstellt, ist eines der berühmtesten Beispiele dafür: Die Massen der Verdammten werden da gerade auf einer Brücke über einen pechschwarzen See in die Hölle getrieben, vor ihnen tun sich Menschen auf, die in großen Kesseln über offenem Feuer gekocht werden oder in Fässer gesteckt wurden. Ein Dämon in Frauenkleidern und Hühnerfüßen brät menschliche Körperteile in einer Pfanne, an einer anderen Stelle sind nackte Körper auf den Ästen eines Baumes aufgespießt. Nicht alle Darstellungen gingen so ins Detail wie Bosch in seinem Meisterwerk des späten 15. Jahrhunderts, doch die Erinnerung an die drohende ewige Verdammnis war im christlichen Europa alltäglich.
Den Herrschenden war das genehm. Über die Jahrhunderte erwarb die Kirche Macht und Einfluss in den Höfen quer durch Europa, die Angst vor der Hölle war ein perfekt funktionierendes Instrument, um das einfache Volk währenddessen still zu halten. Und auch die herrschenden Fürst:innen konnten durch ein bisschen Angst vor ewiger Verdammnis auf Linie gebracht werden.
Das Buch, das alle Taten beinhaltet, wurde zur ultimativen Drohung – die Rettung war die Kirche und der gegen Geld gespendete Ablass von Sünden. Der Ärger über diese „schwarze Pädagogik“ des Mittelalters führte innerhalb der Kirche zu Kritik, und dann auch zu Abspaltungen von Reformbewegungen: Huldrych Zwingli in der Schweiz, Jan Hus in Prag und dann auch Martin Luther versuchten, die Kirche von innen zu reformieren, endeten jedoch auf dem Scheiterhaufen oder mussten die Reform außerhalb des päpstlichen Systems durchführen. Doch der Bann war damit gebrochen, die Macht der Drohkulisse ging verloren.
Engel und Postkarten
Nach dem Grauen des Dreißigjährigen Kriegs, der Europa in einem Religionskrieg auseinanderriss, wandelte sich die Wahrnehmung des Letzten Gerichts massiv. Die Hölle – das hatte der Kontinent gelernt – ist auf Erden. Mit dem Protestantismus kam auch eine Sichtweise auf, die viel mehr auf Trost und Vergebung der weltlichen Sünden setzte als auf die Androhung ewiger Qualen. Luther übersetzte die Bibel erstmals ins Deutsche, die Betonung der Erlösung in den Predigten Jesu war auf einmal auch für jene erkennbar, die kein Latein verstanden. Zusammen mit dem Aufkommen des Buchdrucks verbreitete sich dieses Wissen immer mehr – die „Gutenberg-Bibel“ fand reißenden Absatz und schwächte die Drohkulisse des Jüngsten Gerichts massiv ab.
Auch durch den Buchdruck beflügelt brach die Epoche der Aufklärung an, die Kirche verlor endgültig die Deutungshochheit über Sünde und Erlösung – und das Jüngste Gericht änderte sich. Aus dem Schlagstock, mit dem das einfache Volk im Mittelalter in Linie gehalten wurde, wurde eine Fantasie, die zwar noch wohlige Schauer auslösen konnte, aber nicht mehr das Leben definierte. Wenn noch über das Leben nach dem Tod gesprochen wurde, sah es erheblich anders aus: Bereits im Barock füllten Putten, die knuffigen Baby-Engel, die Himmelsdarstellungen, im Biedermeier und im gesamten 19. Jahrhundert wurde der Himmel immer leichter erreichbar und putziger dargestellt. Postkarten mit Putten-Motiven wurden in dieser Zeit enorm populär. Der Dies irae, der Tag des Zorns, der in der lateinischen Requiem-Messe besungen wird, hatte sein Drohpotenzial verloren.
In der Vertonung der Totenmesse durch Guiseppe Verdi 1874 wird klar, wie weit entfernt die dort besungenen Höllenqualen von den Menschen schon waren. Verdi komponierte sein Requiem schon nicht mehr dafür, dass das Werk tatsächlich in einer katholischen Messe verwendet werden kann, sondern als Konzert: 90 Minuten einer künstlerischen Debatte über Tod, Trauer, Trost, Zorn und Hoffnung. Verdis Opern sind für ihre Emotionalität, ihre menschliche Wärme und für ihre Virtuosität berühmt, da ist sein Requiem keine Ausnahme.
Das Flehen nach ewigem Frieden – Requiem aeternam dona eis, Domine – ist schmerzerfüllt, fast geflüstert, die Beschreibung des Dies irae ist ohrenbetäubend laut, fast brutal mit dem in Panik aufschreienden Chor und dem vollen Bombast des Orchesters. Doch es ist fast keine Angst vor diesem Tag des Gerichts zu spüren. Das Kyrie eleison, in dem auf Griechisch gefleht wird, dass Gott die Bitten um ewigen Frieden und Erlösung erhören möge, ist forsch und fordernd. Und das Werk endet mit dem Libera me – eigentlich eine Bitte, dass Gott die Menschen vor dem ewigen Tod retten möge, an dem furchtbaren Tag, an dem er kommen wird, mit Feuer zu richten, doch bei Verdi ist das ein Einfordern des Heilsversprechend. Keine Panik wie im Dies irae. Nein, der Atheist Verdi schließt seine Totenmesse mit einer trotzigen Fuge voller selbstsicherer Stimmen, die nicht mehr flehen und sich sorgen wollen. Das ist der Trost, den dieses menschliche Werk vermittelt.
Finale Gerechtigkeit – eine liberale Idee?
Kann aus dieser Geschichte etwas Liberales destilliert werden? Dafür muss – wenn überhaupt – auf die Idee fokussiert werden, die den frühen Christen, die sich in den Katakomben Roms treffen mussten, Hoffnung gab. Der Ausblick auf eine finale Gerechtigkeit, auf Fairness, ist etwas, was der liberalen Idee zugrunde liegt. Zwar nicht in einem Leben nach dem Tod, aber eine Gesellschaft soll durch die Politik und Engagement der Gesellschaft besser und gerechter werden. Für Gläubige ist dann auch ein Leben ohne Furcht vor dem Dies irae möglich. Und das ist doch eine sehr liberale Vorstellung.