2022: Die gebremsten Autoritären
2022 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem Russland die Ukraine angriff und die Folgen dieses Kriegs weltweit spürbar wurden: Teuerungskrise, Gaskrise, Hunger im globalen Süden. Die Macht im internationalen System hat sich verschoben, die Herzen der Menschen in den Regierungsbüros sind kalt, wenn es um Flüchtlinge geht, Corona ist nicht vorbei, der Klimawandel beschert Dürren, Trockenheit, Überschwemmungen und tödliche Blizzards, während die heurige Klimakonferenz mit einem schwachen Kompromiss zu Ende ging.
Wagen wir es trotzdem, politisch ein zumindest teilweise positives Jahr zu sehen. Viele hoffnungsvolle Entwicklungen wurden im Trubel des sich immer drehendem Nachrichtenringelspiels rasch überdeckt. Lassen wir sie hier einmal in Ruhe Revue passieren.
Der entzauberte russische Bär
Im Februar 2022 dachte kaum jemand, dass dieses Jahr die Entzauberung Russlands und seines Diktators, Wladimir Putin, bringen würde. Der Angriff auf die Ukraine wirkte in diesen ersten Wochen des Krieges wie ein eiskalt kalkulierter Schachzug, der Russland größer, mächtiger und gefährlicher machen würde. Doch die Welt sah, dass der Kaiser nackt ist.
Damit soll keine Sekunde das Leid der Menschen in der Ukraine relativiert werden, oder jenes der zwangsrekrutierten russischen Soldaten, die mit zu wenig Ausbildung an die Front geschickt werden. Dieser Krieg ist ein Verbrechen, der Blutzoll, den die Ukrainer:innen für die Verteidigung ihrer Freiheit zahlen müssen, ist hoch.
Doch neben der Verteidigung ihrer Heimat können die Ukrainer:innen auch die Entzauberung des Despoten Putin auf Weltbühne für sich beanspruchen. Das Image des brillanten, planenden und skrupellosen Taktierers mit einer schlagkräftigen Armee überlebte nicht länger als die Offensive der Russ:innen im Schlamm der im Frühling auftauenden Ebenen der Ostukraine. Der starke Mann im Kreml scheint isoliert zu sein, auf der Weltbühne bemüht sich China um Neutralität, und Indien, das anfangs ebenso neutral war, nähert sich der Ukraine und dem Westen an. Am Stefanitag, das ist der 26. Dezember, telefonierten die Präsidenten der Ukraine und Indiens, Selenskyj und Modi, miteinander. Der massiv reduzierte Gas- und Ölexport nach Europa kann Russland währenddessen mangels Infrastruktur nicht so einfach ersetzen, die russische Wirtschaft leidet massiv. Damit wird die Stimmung in Russland auch immer schlechter, und Anti-Kriegs- und Anti-Putin-Demonstrationen werden größer.
2022 hat nicht die Erstarkung des russischen Bären gesehen, sondern in diesem Jahr wurde Russland unter Putin endgültig zum Paria der internationalen Beziehungen, von dem sich sogar China fernhält. Gleichzeitig hat er der NATO und dem Westen, die in einer Sinnkrise steckten, eine neue Raison d’Être und Einigkeit eingehaucht. Ein Geniestreich sieht anders aus.
Etappensieg für die Demokratie in den USA
Angekündigte Rote Wellen scheinen dasselbe Problem wie angekündigte Revolutionen zu haben – sie finden nicht statt. Während die Demokraten nach den Ergebnissen der Midterm Elections in den USA aufatmen konnten, stellte sich bei den Republikanern bereits in der Wahlnacht zuerst Unglauben, dann Wut und final Enttäuschung ein.
Was war geschehen? Traditionellerweise wird die Partei des aktuellen Präsidenten bei den ersten Zwischenwahlen für den Kongress abgestraft. Mit der hohen Inflation und schwachen Beliebtheitswerten von Präsident Joe Biden erhofften die Republikaner, beide Kammern des Parlaments für sich erobern zu können. Doch das Ergebnis sah anders aus: Im Senat konnten die Demokraten ihre Mehrheit sogar um einen Sitz ausbauen, im House of Representatives waren die Zugewinne ebenso schwach, die zerstrittene Fraktion dort verfügt nur über eine schmale Mehrheit von vier Sitzen, selbst die Wahl des neuen Speaker of the House wird zur Zitterpartie.
Das gute Abschneiden der Demokraten, die auch in Wahlen in den Bundesstaaten reüssieren konnten, hat mit guten Kandidat:innen und klugem Wahlkampf zu tun, aber vor allem auch mit der Entzauberung des Populisten Donald Trump. Wie ein steinerner Gast dominiert er seine Partei nach der Wahlniederlage 2020 gegen Joe Biden immer noch – entpuppt sich aber als Mühlstein um ihren Hals. Es waren vor allem Kandidat:innen, die er in den parteiinternen Vorwahlen unterstützte, die in der eigentlichen Wahl für eine Mehrheit der Wähler:innen einfach nicht wählbar waren, da zu extrem. Denn auch wenn Joe Biden nicht beliebt ist – die US-Amerikaner:innen wollen mit Trump und seinen Anhänger:innen, erst recht nach dem Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner 2021, mehrheitlich nichts mehr zu tun haben. Auch Trumps Festhalten an der Great Lie, dass er die Präsidentschaftswahl gegen Biden gewonnen habe und nur wegen Wahlbetrugs der Demokraten verlor, macht ihn für immer mehr Menschen unwählbar.
Für die Demokratie und den Rechtsstaat in der größten Weltmacht ist das ein gutes Ergebnis. Die Republikaner werden im House of Representatives blockieren, aber nichts umsetzen und sich vielleicht auch selbst entzaubern, so wie es Trump schon getan hat. Dessen auserwählte Kandidat:innen, die alle auch die Big Lie nachplapperten, haben alle verloren, ihre geplanten Angriffe auf das Wahlsystem werden also nicht kommen. Stefan Schett hat in einem Kommentar vor den Midterms gefragt, ob die Demokratie die Wahlen überstehen wird. Die Wähler:innen haben eine deutliche, hoffnungsvolle Antwort gegeben: Den USA stehen weitere innere Zerreißproben bevor, doch im Jahr 2022 wurden die extremsten Autoritären in ihre Schranken verwiesen.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Slowenien wählt den Populismus ab
Donald-Trump-Fans hatten 2022 nicht nur in den USA eine schwierige Zeit. Am 24 April wählte Slowenien ein neues Parlament – und den bis dahin amtierenden nationalistischen Rechtspopulisten Janez Janša und seine Partei deutlich ab. Der Bewunderer von Trump und enger Verbündeter von Ungarns Viktor Orbán wurde als Regierungschef abgewählt, seine SDS (Slowenische Demokratische Partei) wurde von der erstmals antretenden ökoliberalen GS (Gibanje Svoboda, Freiheitsbewegung) unter Robert Golob überholt. Die Freiheitsbewegung versteht sich als proeuropäische, demokratische, liberale und gesellschaftspolitisch tolerante Bewegung mit Fokus auf politische Sauberkeit und Klimaschutz, die im Europäischen Parlament Teil der liberalen Fraktion ist. Eine deutliche Antithese zum tumben populistischen Nationalismus Janšas, der in die Fußstapfen von Trump, Orbán und Kurz treten wollte.
Golob konnte in einer breiten Koalition die Partei Janšas aus der Regierung halten und Slowenien auf einen Pfad der stabilen, sauberen Demokratien führen, die aktiv gegen den Klimawandel kämpfen.
Und im November 2022 zeigten die Slowen:innen noch einmal deutlich, dass sie den Populismus ablehnen – im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl konnte sich die unabhängige liberale Journalistin und Anwältin Nataša Pirc Musar gegen den von Janša und seiner SDS unterstützten Kandidaten Anže Logar durchsetzen.
Die französische Brandmauer gegen Le Pen
Am 24. April wurde auch noch in einem weiteren Land innerhalb der EU der Populismus ausgebremst: in Frankreich. An diesem Sonntag entschied Emmanuel Macron die Stichwahl der Präsidentschaftswahl mit rund 58 Prozent der Stimmen klar für sich. Seine Gegnerin – die rechtsextreme Marine Le Pen – hatte zuvor versucht, sich als gemäßigter zu geben. Doch die Positionen ihrer Partei, des Rassemblement National, waren klar extremistisch.
Macrons Sieg ist vor allem als Niederlage Le Pens zu verstehen. Denn viele Französ:innen waren mit seiner ersten Amtszeit unzufrieden. Etliche Parteien hatten nach der ersten Wahlrunde dazu aufgerufen, eine Mauer gegen rechts zu bauen und eine Präsidentin Le Pen durch eine Stimme für Macron zu verhindern. Diese Dynamik hatte es bereits 2017 gegeben, als Le Pen und Macron sich erstmals in der Stichwahl gegenüberstanden, sowie 2002, als Le Pens Vater Jean-Marie Le Pen gegen den Konservativen Jacques Chirac verlor.
Die Brandmauer gegen die extreme Rechte hielt, auch wenn Le Pen besser abschnitt als bei vorigen Wahlen. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen verlor Macrons Partei die absolute Mehrheit, behielt die relative Mandatsmehrheit aber deutlich. Die Konservativen verloren massiv, Le Pens RN konnte bedingt zulegen, als zweitgrößte Kraft konnte sich das links-grüne Bündnis NUPES durchsetzen. Auch wenn das Regieren für Macron in seiner zweiten und finalen Amtsperiode damit schwieriger wird: Eine deutliche Mehrheit der Franzos:innen hat der extremen, europa- und minderheitenfeindlichen Rechten eine Abfuhr erteilt.
Großbritannien: Winter of Discontent und das Scheitern der großen Blender:innen
Das Vereinigte Königreich ist ein wenig ein Ausreißer in dieser Aufzählung. Die Wirtschaftsflaute nach Corona und dem Brexit macht sich voll bemerkbar, das über Jahrzehnte zusammengekürzte Sozialsystem kann immer weniger Menschen vor dem Abstieg in die Armut schützen, das nationale Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Und seit Wochen streiken verschiedenste Branchen im öffentlichen Bereich im UK für bessere Lohnabschlüsse. Ein Winter of Discontent steht bevor, eine Phrase, die während einer ähnlichen Situation unter Premierministerin Margaret Thatcher verwendet wurde, basierend auf einem bekannten Zitat aus Shakespeares Richard III.
Hier tritt das Ende des nationalistischen Populismus der konservativen Tories mit Schrecken ein – zahlen müssen es jene, die davor schon wenig Geld hatten, aber von den Sirenengesängen der „Take back control“-Fraktion verführt wurden. David Cameron, Boris Johnson, Rishi Sunak, Nigel Farage: Es wurde gelogen, falsche Versprechen über Milliardenbeträge gemacht, die man nicht mehr an die EU abliefern müsste, wenn der heilsbringende Brexit nur endlich käme – nichts davon ist eingetreten. Was übrig geblieben ist, ist eine verunsicherte ehemalige Weltmacht, die sich immer noch als einflussreicher sieht, als sie ist.
Doch in diesem Jahr dürften sich die nationalistischen Blender:innen endgültig entzaubert haben. Am 7. Juni trat Boris Johnson zurück, nach einer Reihe von Skandalen und im Lichte einer immer stärker stotternden Wirtschaft. Der große Blender war über die Partys gestolpert, die in seinem Amtssitz 10, Downing Street während der Corona-Lockdowns stattgefunden hatten, genauso wie über seine aufgeflogenen Lügen rund um einen Vertrauten im Parlament, der mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert war.
Wurde mit Boris Johnson der charismatische Populist demaskiert, der den Menschen für seine Pläne das Blaue vom Himmel verspricht, zerstörte seine Nachfolgerin die Idee von einer dogmatisch-libertären Wirtschaftspolitik, die nur auf Ideologie basierte, nicht auf Fakten. Liz Truss hielt sich als Premierministerin nur 45 Tage. In dieser kurzen Amtszeit schaffte sie es, die Finanzmärkte mit ihren Wirtschaftsplänen in Panik zu versetzen und damit die Kosten für Kreditraten, Pensionsfonds und die Refinanzierung des Staates in die Höhe zu treiben, zwei Minister:innen in zwei zentralen Ministerien zu verlieren, eine Reihe von Richtungswechseln in zentralen (parteiinternen) Wahlversprechen zu vollziehen und ihre konservative Partei der Tories in den Umfragen abstürzen zu lassen. Ihre Niedrigsteuer-Politik samt Vorzüge für Reiche (Tories-Wähler:innenklientel) zerbrach beim Kontakt mit der Realität des Marktes, ihre eigenen Abgeordneten, die sie wenige Wochen zuvor ins Amt gewählten hatten, ließen von ihr ab. Am Ende blieb ein Kopfsalat länger frisch als Truss Premierministerin. Der Schaden wird für die Tories noch lange bleiben.
Das ist die Hoffnung für Großbritannien: Gäbe es jetzt Wahlen, die Tories würden massiv verlieren, Labour eine deutliche absolute Mehrheit einfahren. Und Truss‘ Nachfolger Sunak muss jetzt einen erheblich pragmatischeren Kurs fahren, um bis zur Wahl 2024 wenigstens ein wenig Vertrauen in seine Partei zurückgewinnen zu können. Der große Katzenjammer nach den Blender:innen könnte zu einer neuen Vernunft in der britischen Innenpolitik führen – es wäre dem Volk zu vergönnen.
Brasiliens Trump muss gehen
Einer der größten Nachahmer Donald Trumps musste heuer ebenfalls seine Niederlage eingestehen. Am 30. Oktober verlor der Rechtspopulist und Autokrat Jair Bolsonaro die Stichwahl für seine Wiederwahl als Präsident Brasiliens. Der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva konnte sich mit 50,9 Prozent der Stimmen knapp durchsetzen. Bolsonaro hatte seine Politik davor eng an jene Trumps in den USA angelehnt. Er fiel mit seinen zum Teil vulgären Ausfällen gegen Frauen, Homosexuelle und Indigene auf. Durch seine Blockade beim Klimaschutz, seine freundlich ausgedrückt eigenwillige Corona-Politik und seine Angriffe auf demokratische Institutionen wie den Obersten Gerichtshof isolierte er Brasilien auf der Weltbühne immer mehr.
Da Silva, der wegen Korruptions- und Geldwäschevorwürfen im Gefängnis saß, muss ein gespaltenes Land einen, doch immerhin steht er für eine pragmatischere, tolerantere Politik. „Brasilien ist zurück“, meinte er bei seiner Wahlfeier und spielte damit auf die Isolierung Brasiliens auf der Weltbühne unter seinem Vorgänger an.
Ein kritisches Schlusswort
Nein, 2022 war bei weitem nicht alles gut. Dieser Artikel soll nicht die großen Herausforderungen ignorieren, die der Weltgemeinschaft bevorstehen. Auch sind nicht alle Entwicklungen im Sinne der Länge zur Sprache gekommen. Die neue Einigkeit in der EU gegenüber einem gemeinsamen Feind, die schon lange nicht mehr dagewesenen Proteste der Zivilgesellschaft in China gegen die Null-Covid-Strategie, die tatsächlich eine Richtungsänderung einleiteten, die Ehe für alle, die durch ein durch die Zivilgesellschaft erzwungenes Referendum in Kuba ermöglicht wurde, die Klimastrategie der EU und das Klimapaket, das die USA nach langem internem Streit doch auf die Beine stellte – all diese Entwicklungen sind positiv.
Und es bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Massenproteste im Iran nachhaltig Wirkung zeigen werden. Das ist heute noch nicht absehbar.
2022 gab es Licht und Schatten. Es liegt an uns, dass im Jahr 2023 das Licht überwiegen wird.