5 Risiken, die der Aufstieg von AI bringt
Durch KI-Innovationen wie ChatGPT reden alle über Zukunftsvisionen. Bei allem Fokus auf Chancen und positive Potenziale sollte man aber auch die Risiken nicht ignorieren. Ein Überblick.
Machen wir eine kleine Zeitreise. Wir sind im Jahr 1970, mit dem Wissen, das wir jetzt über die Technologie unserer Zeit haben. Und wir wollen anderen erzählen, was das Internet ist und wie es unseren Alltag prägt.
Da gibt es die eine Geschichte vom Internet, das uns unzählige Dinge ermöglicht, die bis vor kurzem noch Science-Fiction waren. Ein Gerät, das klein genug ist, um in unsere Hosentaschen zu passen, enthält potenziell das gesamte Wissen der Menschheitsgeschichte. Wir können in allen möglichen Formen miteinander kommunizieren, quer um den Globus, mittlerweile auch in Live-Videos mit einer Qualität, die in den 70ern nicht mal im Kino realistisch war. Im Urlaub nehmen wir diese Geräte zur Hand, um in der Sekunde zu übersetzen, was wir in einer anderen Sprache sagen wollen. Klingt ziemlich utopisch, oder?
Aber es gibt auch die andere Geschichte. Denn das Internet gibt uns nicht nur die Möglichkeit, permanent mit der Welt verbunden zu sein – es zwingt uns gewissermaßen auch dazu. Wir sind ständig angebunden, ein Anschlag am anderen Ende der Welt ist eine beiläufige Push-Benachrichtigung auf hunderttausenden Handys, die unzählige Benachrichtigungen pro Tag bekommen. Mit „Produktivitäts-Tools“ wie E-Mail-Programmen oder Slack kann man sehr schnell und praktisch kommunizieren – aber wer diese Tools nutzt, weiß auch, dass man dadurch oft mehr Zeit verliert als gewinnt. Und unter beidem, beruflichem und privatem Internetkonsum, kann auch unsere Aufmerksamkeitsspanne leiden.
Welche Geschichte erzählen wir? Die utopische oder die dystopische? Diese Frage stellt sich der US-Journalist Ezra Klein in einer Podcast-Episode seiner „Ezra Klein Show“. Und er hat einen fairen Punkt: Wir hätten das Internet als Utopie skizziert, haben aber die schlechten Seiten der Innovation verpasst. Darum werfen wir heute einen Blick auf die potenziellen Nachteile einer Entwicklung, die jetzt gerade in den Startlöchern steht: den rasanten Aufstieg von künstlicher Intelligenz.
1. Mehr Workload und mehr „Bullshit Jobs“
Wie Klein richtig feststellt, entwickelt sich Produktivität durch technischen Fortschritt nicht vorhersehbar linear weiter. Das Internet hatte Auswirkungen darauf, wie wir arbeiten, aber in beide Richtungen. Wir sind sowohl potenziell produktiver, weil wir das Wissen der Welt in unserer Hosentasche haben und nicht mehr in die Bücherei müssen, wenn uns ein Detail nicht mehr einfällt. In der Praxis sind wir aber oft unproduktiv, weil wir unsere Arbeitszeit damit verbringen, unsere Stunden in diverse Programme einzutragen, Dokumentationen zu machen, E-Mails und Slack-Nachrichten zu beantworten und nebenbei unsere Social-Media-Kanäle zu checken. Und im Bereich KI könnte das genauso sein.
Nehmen wir etwa an, wir arbeiten im Infrastruktur-Bereich. Es geht um Aufträge im öffentlichen Bereich, die ab einem gewissen Wert klaren Kriterien entsprechen müssen, was nicht nur einen Qualitätscheck, sondern auch aufwendige Bürokratie bedeutet. Wer sich schon einmal mit Vergaberecht beschäftigt hat, weiß, dass solche Projekte ein fast schon lächerliches Ausmaß an Regeln haben, die für jeden ohne juristische Ausbildung erschlagend wirken können. Dabei sind es oft Kreativköpfe oder Leute mit echter Begeisterung für die Berufspraxis, die diese Anträge schreiben müssen. It’s a hassle.
In Zukunft könnten die erforderlichen Ausschreibungsdokumente mit ChatGPT erledigt werden – dadurch bekommen Menschen, deren Job es eigentlich nicht ist, Anträge auszufüllen und in Gesetzestexten zu wühlen, einiges an Zeit und Lebensqualität zurück. Auf der anderen Seite steht aber die Person im öffentlichen Bereich, die Dutzende von ChatGPT geschriebene Anträge prüfen, bearbeiten und beantworten muss. Gewinnt diese Person wirklich, wenn „ein 100-Seiten-Dokument mit allen Anforderungen erstellen“ eine Aufgabe von Minuten wird? Oder führt das erst recht dazu, dass auch auf der Empfängerseite mit AI gearbeitet wird, um das Drumherum von den Kernaussagen zu trennen?
In der besten aller Welten führt der Aufstieg von AI dazu, die Wissensgesellschaft auf das nächste Level zu heben und unsere Kommunikation effizienter zu machen. Im schlechtesten Szenario führt er dazu, dass aus einer Stichwortliste ein hochprofessionelles Mail geschrieben wird – das dann auf der anderen Seite wieder auf das Wesentliche heruntergebrochen wird. Hier wäre die echte Innovation, E-Mails ohne pseudoprofessionelles Blabla zu formulieren.
2. Jobverlust und Outsourcing an die AI
Wir bleiben beim Thema Arbeit: Wir müssen uns die Frage stellen, welche Jobs durch AI neu dazukommen. Denn die Antwort hat sich in den letzten Monaten stark verändert.
Früher dachte man, die klassischen Arbeiter:innen würde es als Erstes erwischen: Maschinen können immerhin schon lange die einfachen, wiederholenden Arbeiten der Industrie ersetzen, die klassische Fließbandstelle ist heute von einem Roboter besetzt. Die kreativen Jobs, die Denk- und Wissensarbeit dagegen, die seien dadurch nicht in Gefahr, dachten viele – unter anderem gerade die, die künstliche Intelligenz herbeisehnten, weil es sie ja selbst nicht betreffen würde.
Es stellt sich heraus: falsch gedacht. Large Language Models wie ChatGPT können gerade die Jobs, die daraus bestehen, klug klingende Dokumente und Präsentationen zu erstellen, wahrscheinlich schon jetzt zu einem Teil ersetzen, auch wenn das momentan noch in der Experimentierphase steckt. Grafiker:innen konkurrieren plötzlich mit Hobby-Nerds, die mit Tools wie DALL-E, Midjourney oder Stable Diffusion durch die simple Eingabe des richtigen Texts Bilder erschaffen, die beeindruckend animiert oder gezeichnet erscheinen. Im Vergleich zum Medienbereich fühlt man sich in einem handwerklichen Beruf wie am Hort der Stabilität am Arbeitsmarkt.
Es ist stark anzunehmen, dass auch die AI-Revolution neue Jobs bringen wird, die nicht nur gut bezahlt sind, sondern auch spannender als viele Berufe, die dadurch wegfallen. Trotzdem wird es am Arbeitsmarkt einen Kollateralschaden geben – und die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung hilft denen, die durch künstliche Intelligenz ersetzt werden, genau gar nicht.
3. Zu viel Automatisierung
Apropos ersetzen: Wo ziehen wir eigentlich die Grenze, was automatisiert werden soll – und was nicht?
Wenn es nicht gerade um Outsourcing im eigenen Job geht, ist Automatisierung ja praktisch. Schon jetzt ist es möglich, in ein „Smart Home“ zu kommen, in dem sich Licht, Temperatur, Fenster und Türschloss nach gewissen Mustern verhalten, um es daheim einfach zu haben. Man kombiniere das mit der Möglichkeit des automatischen Nachbestellens im Kühlschrank, verbunden mit dem automatisierten Ernährungsplan für bestimmte Gesundheits- oder Fitnessziele, bis zur automatischen Auswahl der Musik, wenn die Stimmung schlecht und der Blutdruck hoch ist. Klingt das nach einer bequemen Utopie? Oder verspürt man beim Lesen schon Bauchweh?
Eine Frage, die all diese neuen Möglichkeiten begleitet, ist die nach der Abhängigkeit von AI. Im eigenen Alltag ist es ausreichend, das den individuellen Präferenzen zu überlassen. Schon hier kann man sich fragen, ob alles davon die Gesellschaft weiterbringt: Ist es ein lustiger Gag, wenn Menschen auf Dating-Plattformen plötzlich mit ChatGPT ihre Flirtversuche schreiben? Oder geht da auch etwas Menschliches verloren? Aber es gibt auch politische Themen: Darf eine AI entscheiden, wie mit Patient:innen im Gesundheitssystem umzugehen ist? Wer kriegt das Bett, wenn die Entscheidung automatisiert erfolgt, und wer legt fest, anhand welcher Daten die künstliche Intelligenz das entscheidet?
Und dann gibt es da noch die ganz große sicherheitspolitische Frage der Drohnen. Oder eben „autonomen Waffensysteme“. Es gibt die Technologie, um nicht nur den Luftraum zu überwachen, sondern auch automatisch nach gewissen Personen, Gruppen oder Mustern zu suchen, was z.B. für die Terrorbekämpfung wichtig ist. Aber sollen diese Systeme auch selbstständig feuern können? Oder sollte nicht eher immer ein Mensch „in the loop“ sein – auch wenn die AI besser entscheiden könnte? Das ist eine der Dystopien, denen wir uns stellen müssen. Denn momentan sieht es so aus, als würde der Einsatz von Drohnen nicht unbedingt seltener.
4. Fake News aus der AI
Wir dürfen aber nicht nur davon ausgehen, dass die Weltpolitik sich mit künstlicher Intelligenz als Waffe beschäftigen wird, sondern auch davon, dass sie im Wahlkampf als solche eingesetzt wird.
Schon jetzt kursieren Deepfakes von Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden beim gemeinschaftlichen Zocken. Mit dem Gesicht von Elon Musk wird Werbung für Betrugsmaschen gemacht, die Stimme seiner Frau, der Musikerin Grimes, wird in zahlreichen anderen Songs mit AI eingebunden, um teilweise schockierende Botschaften zu verbreiten.
Dieser Trend könnte auch den nächsten Wahlkampf betreffen. Plötzlich könnte eine KI-generierte Stimme von Karl Nehammer Zusagen an bekannte Parteifreunde machen, unvorteilhafte Partyfotos eines echt aussehenden Andreas Babler könnten auf Social Media auftauchen. Ob man einer AI-Version von Herbert Kickl das hineingefälschte „Refugees Welcome“ glauben würde, sei dahingestellt, aber das nächste Ibiza-Video wird kommen – und zwar aus einem Computer.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
5. Wir verlieren unsere eigenen guten Ideen
Eine Gefahr, die die Menschen schon immer beschäftigt hat, ist die Gefahr des Kulturverfalls durch neue Technologie. Dass „die Kinder nur am Handy sind“, haben die Erwachsenen festgestellt, die heute mit zehn Jahren Verspätung selbst feststellen, dass man auf Smartphones eben nicht nur spielen, sondern sich auch live mit anderen austauschen oder das Weltgeschehen verfolgen kann. Davor warnte das Fernsehen vor dem Internet, das Radio vor dem Fernsehen, die Zeitung vor dem Radio. Und am Anfang Sokrates vor der Schrift – denn wenn wir alles nur noch niederschreiben würden, könnten wir uns schon bald nichts mehr merken.
Das alles wirkt im Nachhinein lächerlich, aber meist geht es um ernsthafte Trade-offs. Das Fernsehen hat weder das Radio getötet noch zu „viereckigen Augen“ geführt. Aber es hatte eine entscheidende Folge für die Politik: Plötzlich zählte auch, wie man aussieht, legendär ist die Kennedy-Nixon-Debatte in den USA als erste Wahl, die über die Fernsehschirme entschieden wurde. Und auch Internet hat die Welt nicht schlechter gemacht – aber unsere Aufmerksamkeitsspanne ist durch Smartphone-Apps wahrscheinlich nicht besser geworden.
Kritiker von AI weisen jetzt darauf hin, dass es auch bei dieser Innovation gesellschaftliche Kosten geben werde: Wenn „gute Ideen“ durch künstliche Intelligenz auf Abruf verfügbar sind, würden weniger gute Ideen entstehen. Denn die AIs, die wir verwenden, spucken nur Resultate anhand dessen aus, was sie bisher gesehen haben. Was aber, wenn es um einen neuen Gedanken geht, ein Konzept, das wir noch gar nicht erdacht haben? Wer ein Bild von Superman generieren lassen will, bekommt gute Ergebnisse. Wer einen neuen Superhelden erfinden will, braucht eine Menge Fantasie und eine so konkrete Beschreibung, dass die AI damit arbeiten kann.
Auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es auch weiterhin gute Ideen geben wird: Das Risiko, sich durch AI-generierte Prozesse zu sehr auf bereits vorhandenes Wissen, bestehende Kreativität und den Status quo zu verlassen, ist sicher nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch in Zukunft wird es wichtig sein, ohne Unterstützung von ChatGPT eine Idee, eine Vision, einen Gedanken zu formulieren.
Zumindest in der Politik und in der Philosophie werden auf Dauer also eher keine Arbeitsplätze wegfallen – immerhin beschäftigen sich genau diese Disziplinen mit den zahlreichen Herausforderungen, die durch AI auf uns zukommen.