Meinhard Lukas: „ChatGPT & Co sind für die EU eine Blackbox“
Künstliche Intelligenz wird unser Leben in allen Bereichen verändern – ob zum Guten oder zum Schlechten, das liegt auch an gesetzlicher Regulierung.
Doch wie soll man Gesetze schaffen für etwas, was sich in rasend schnellem Tempo weiterentwickelt? Von dem man gar nicht alle Aspekte kennt, geschweige denn beherrscht? Die EU hat diesen Versuch dennoch gewagt und mit dem AI Act den weltweit ersten Rechtsrahmen für KI vorgeschlagen. Dabei fehle ihr etwas ganz Essenzielles – nämlich die digitale Souveränität, sagt Meinhard Lukas.
Er ist Professor für Zivilrecht an der Johannes-Kepler-Universität in Linz, der er bis Ende September als Rektor vorstand. Im Materie-Interview spricht er über die Schwierigkeiten, KI zu regulieren, die Naivität der EU und gefinkelte Abwerbungen aus dem Silicon Valley.
Sie sprechen Europa die „digitale Souveränität“ ab. Wieso ist die überhaupt wichtig?
Im Bereich der digitalen Welt ist die Idee von Souveränität an sich schon technologisch schwieriger zu realisieren, weil es im Internet so etwas wie Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt nicht gibt. Trotzdem geht es darum, eine gewisse Regelungshoheit zu behalten, und davon gehen eigentlich die Gesetzgeber in Europa und in Österreich immer noch aus. Das setzt aber voraus, dass man auch die digitale Infrastruktur beherrscht. Wenn wir uns jetzt die neuesten Technologien anschauen, insbesondere die sogenannte generative künstliche Intelligenz – also KI, die Text und Bild und Videos erzeugt –, dann muss uns bewusst sein, dass die Technologie im Wesentlichen im Silicon Valley und zum Teil im asiatischen Raum beherrscht wird, und wir kein vergleichbares Unternehmen oder vergleichbare Infrastruktur in Europa haben.
Sie spielen schon auf den AI Act des Europäischen Parlaments an. Wie beurteilen Sie diesen Gesetzesvorschlag?
Das Ziel Europas ist, das, was man technologisch verloren hat, durch Gesetzgebung wettzumachen. Also der Versuch: Man beherrscht die Technologie zwar nicht mehr selbst, aber man hat immerhin die Regelungshoheit, man erlässt Gesetze. Und ich bin Jurist, mir ist die Idee, durch Gesetzgebung Souveränität auszuüben, natürlich sehr nahe. Die EU muss aber eine Technologie regeln, die für sie in weiten Bereichen eine Blackbox ist. Und das macht es so schwierig. Der jetzige Entwurf (Stand 14. Juni) regelt auch die sogenannten Basismodelle, etwa ChatGPT oder Bard von Google. Die Regeln gelten aber alle nur nach Maßgabe des Stands der Technik. Und den gibt nicht die Europäische Union vor, den geben die Technologen im Silicon Valley vor. Damit knüpft man seine ganze Regelung an etwas an, das außerhalb seines Souveränitätsbereichs liegt.
Sie sehen den AI Act also sehr kritisch?
Ich kritisiere nicht primär den Regulierungsvorschlag, sondern das Versprechen, das dabei abgegeben wird: dass Europa zum Zentrum einer vertrauenswürdigen künstlichen Intelligenz wird. Da streut man wirklich den Bürgern Sand in die Augen, wenn man ihnen sagt, nur durch eine Verordnung auf europäischer Ebene wird das so werden. Das ist so blauäugig, dass es wehtut.
Hechelt die Gesetzgebung in diesem Bereich nicht sowieso immer dem Entwicklungsstand hinterher?
Man muss sich bewusst sein, dass es einfach schwierig ist, diese Art von Technologie zu regeln. Man muss auch immer aufpassen, wie viel Schlechtes man durch so eine Regelung verhindert, und wie viel Gutes man dadurch verhindert. Schließlich bietet KI unglaubliche Chancen. Im medizinischen, naturwissenschaftlichen und industriellen Bereich, beim Thema Klimakrise – und das kann natürlich auch alles unglaublich viel Wertschöpfung generieren. Deshalb muss man bei der Regulierung gerade von Technologie zurückhaltend sein, aber eben auch nicht blauäugig. Die Anliegen des Europäischen Parlaments sind durchaus nachvollziehbar. Das Schlechteste, was passieren kann, ist, dass man die echten Gefahren nicht in den Griff kriegt und letztlich nur die eigenen KMUs und Startups und Industriebetriebe in Europa trifft – dass man also nur einen Wettbewerbsnachteil für Europa verglichen mit dem Rest der digitalen Welt schafft. Um das treffsicher zu machen, muss Europa dieses technologische Hintertreffen überwinden.
Rechtswissenschaftler Meinhard Lukas (Copyright: Robert Maybach)
Wie kann das gelingen?
Solche Sprachmodelle wie ChatGPT oder Bard setzen Rechnerkapazitäten voraus, die kein europäisches Unternehmen finanzieren kann. Hier braucht es daher eine öffentliche Infrastruktur. Auch dafür ist die EU gegründet worden, um genau so etwas zu realisieren: eine transparente Basisinfrastruktur mit fairem und gleichem Zugang.
Was müsste diese Infrastruktur umfassen?
Mein großes Vorbild dabei ist CERN, das Forschungszentrum für Kernspaltung. Das hat dazu beigetragen, dass viele Physiker in Europa geblieben sind, an europäischen Universitäten. Weil es die Infrastruktur gibt, die ihnen eine angemessene Forschung ermöglicht.
Ein großes – zentrales oder dezentrales – Rechenzentrum für Europa mit Rechnerkapazitäten, wie sie Amazon, Google oder Microsoft haben, ist unabdingbar. Europa versucht stattdessen, das mit ein paar kleinen Standorten in Italien oder sonstwo zu lösen. Mit jedem Tag verliert Europa hier substanziell an Boden – denn es ist nicht so, dass man das nachholen kann, wenn man ein halbes Jahr später beginnt. Das wächst exponentiell. Für das Geld, das Europa vor fünf Jahren nicht investiert hat, muss jetzt ein Vielfaches investiert werden.
Das eine ist die fehlende Rechnerleistung, die fehlende Infrastruktur – aber wie gut aufgestellt ist die KI-Forschung in Europa?
Die KI-Forschung ist sehr gut aufgestellt. Das Netzwerk europäischer KI-Forscher ist beeindruckend. Was aber passiert: Es siedeln sich Microsoft, Google Brain, DeepMind, Meta und wie sie alle heißen, neben den besten Universitäten an, werben dort die besten Leute ab – und die kriegen sie nicht nur aufgrund der besseren Bezahlung als an den Unis, sondern vor allem, weil sie einen ganz anderen Rechnerzugang haben. Wenn ich als KI-Forscher zu Microsoft gehe und Ideen verwirklichen möchte, kann ich das dort in einer völlig anderen Geschwindigkeit und unter völlig anderen Rahmenbedingungen tun.
Wir haben in Europa kein Know-how-Problem, aber wir haben einen Braindrain, den wir gar nicht merken, weil die Leute eben nicht ins Silicon Valley gehen, sondern zwei Kilometer weiter von ihrem bisherigen Büro. Die Wertschöpfung geht aber über den großen Teich.
Und um diese in Europa zu halten, fehlt es an Rechnerkapazität?
Ich spreche da auch für die KI-Forscher, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte die letzten Jahre. Die sind einfach wirklich frustriert, sie kommen ohne diese Rechnerkapazität nicht aus. Die KI-Phänomene, über die die ganze Welt staunt, sind nur erklärbar durch enorme Rechenleistungen. Und gleichzeitig hätte Europa auch die Chance, bei diesem Projekt „Green AI“ zu thematisieren – wie kann man diese enormen Rechnerkapazitäten so ressourcenschonend wie möglich aufbauen? Die derzeitige KI-Entwicklung ist keine Green Sensation, im Gegenteil, aber wir werden vor dieser Technologie nicht halt machen können. Auch da geht es darum, einen europäischen Weg zu gehen und alles Know-how hineinzustecken, das wir haben. Das wird sehr rasch eine politische Willensbildung auf der Ebene des Rates brauchen, über die normalen Mühlen der Europäischen Union wird das nicht funktionieren.
MEINHARD LUKAS, von Oktober 2015 bis September 2023 Rektor der Johannes-Kepler-Universität Linz, ist seit 2004 Professor für Zivilrecht und hatte bereits verschiedene akademische Funktionen inne. Abseits seines Engagements für die JKU ist er auch als Schiedsrichter und Rechtsgutachter in nationalen und internationalen Causen tätig. Während seiner Zeit als Rektor wurde an der JKU das erste AI-Studium Europas ins Leben gerufen. Zurzeit beschäftigt er sich mit den rechtsstaatlichen und demokratiepolitischen Aspekten künstlicher Intelligenz.