9/11 oder wie ich lernte, ab welcher Temperatur Stahlträger schmelzen (angeblich)
Die meisten wissen wohl noch, wo sie waren und was sie taten, als um 9:03 Uhr Ortszeit am 11. September 2001 in New York City Flug United 175 in den Südturm des World Trade Centers flog. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die USA angegriffen wurden, ein zweites Flugzeug war in das World Trade Center gekracht. The rest, wie es oft heißt, is history. In diesem Text soll es nicht um die Folgen dieses Fanals für die Weltgeschichte gehen, sondern anhand dieses drastischen Beispiels und weiteren herausgearbeitet werden, welche Verschwörungstheorien sich rund um historische Geschehnisse entwickelten, warum und welche Folgen das haben kann. Eine Tour d’Horizon eines verrutschten Blicks auf die Welt.
Die Nachrichtensender, die alle inzwischen auf Live-Berichterstattung umgestellt hatten, übertrugen diesen zweiten Crash live. Der Moderator des New Yorker Nachrichtensenders WNYW der FOX-Senderfamilie Jim Ryan war der Erste, der öffentlich aussprach, was alle dachten:
„My goodness, a second plane now has crashed into the other tower of the World Trade Center. Obviously, suicide terrorist attack on the World Trade Center. What we have … what we have been fearing … what we have been fearing for the longest time here apparently has come to pass. A disastrous terrorist attack on the World Trade Center. Both towers, planes smashing into each one.“
Zusammen mit dem Flugzeug, das in das Pentagon stürzte, und einem weiteren, das vermutlich ins Kapitol krachen hätte sollen, aber von den Passagier:innen auf einem Feld zum Absturz gebracht wurde, sind die Terroranschläge des 11. September das folgenschwerste Attentat der US-Geschichte. 3.000 Menschen starben an diesem Tag, über 6.000 wurden verletzt. Die USA reagierten auf den Anschlag durch muslimische Extremisten der Al-Quaida mit einer Beschneidung der Freiheitsrechte nach innen und militärischen Invasionen in Afghanistan und im Irak.
Falls noch nicht bekannt: Die 9/11-Truther:innen gehen davon aus, dass die Anschläge ein „Inside Job“ waren, in die Wege geleitet von den kriegerischen Neo-Conservatives in den USA, um einen Vorwand zu haben, im Mittleren Osten Krieg zu führen und Regimewechsel durchzuführen. Teilweise wird sogar in Zweifel gezogen, dass Flugzeuge als Waffen verwendet wurden: Die Twin Towers des World Trade Center sollen durch Bomben zum Einsturz gebracht worden sein. Der Beweis dafür? Das Kerosin der Flugzeuge würde gar nicht heiß genug brennen, um die Stahlträger der Wolkenkratzer instabil machen zu können.
Die Aussagen von Statiker:innen, Bautechniker:innen und der Fakt, dass es praktisch unmöglich erscheint, das niemand, der an dieser geheimen Operation beteiligt gewesen sein soll, je an die Medien gegangen ist? Das wird von Verschwörungstheoretiker:innen zur Seite gewischt. Auf jeden Fakt wird mit der Erklärung reagiert, dass die Auskunftspersonen eben auch Teil der Verschwörung seien.
Warum solche alternativen Erklärungsmuster Verbreitung finden, wird ausführlich in diesem Text der Materie beschrieben. Der Versuch, eine Erklärung, einen Sinn für solch sinnloses Sterben zu finden, ist die treibende Kraft. Die 3.000 Toten werden posthum Opfer eines Plans, der viel größer ist als ein paar wenige Terroristen, die mit Messern Flugzeuge entführten. Doch der 9/11-Trutherism ist nur ein Beispiel dafür, wie historische Momente anders dargestellt werden. Ein weiteres, sehr beliebtes Beispiel ist die angebliche Verschwörung rund um die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy – oder die Mondlandung.
Der Mann auf dem Mond
„That’s one small step for [a] man, one giant leap for mankind“, diese Worte sprach Neil Armstrong, als er am 20. Juli 1969 als erster Mensch den Mond betrat. Oder, so glauben Verschwörungstheoretiker:innen, er sprach diese Worte in einem Studio auf der Erde, als Akteur der großen Mondlandungs-Verschwörung. Aber wieso?
Die Verschwörungstheorien zur Mondlandung gehen davon aus, dass die Mondlandungen in den Jahren 1969 bis 1972 nicht stattgefunden haben (oft geht es nur um die erste bemannte Mondlandung), sondern von der NASA und der US-amerikanischen Regierung vorgetäuscht worden seien. Es wird ignoriert, dass ein Projekt, das zwischen 1961 und 1969 25 Milliarden US-Dollar verschlang und zeitweise 400.000 Mitarbeiter:innen hatte, wohl kaum eine Täuschung war, bei der nie auch nur ein:e Beteiligte:r „auspackte“. Nein, der Reiz – zumindest für einen kleinen Teil der Bevölkerung – liegt darin, die „echte“ Wahrheit aufzudecken. Die Fakten, die keine sind und keiner strengeren Kontrolle standhalten würden, werden zu einem neuen Narrativ zusammengeflochten.
Im Fall der Verschwörungstheorien rund um die Mondlandung gibt es zwei sich gegenseitig beeinflussende Motive, die belegen sollen, warum die Mondlandung nach der medialen Ankündigung durch John F. Kennedy vorgetäuscht wurde, wie Tom Phillips und Jonn Elledge in ihrem Buch „A History of Bollocks Theories, and How Not to Fall For Them“ schreiben:
- Für die USA war die Mondlandung ein wichtiger Propaganda-Sieg gegen die Sowjetunion.
- Die erfolgreiche Mondlandung sollte die Gesellschaft und die Welt von den massiven internen Konflikten der Zeit (Vietnamkrieg und die Antikriegsbewegung sowie Rassenunruhen und der Ermordung Martin Luther Kings 1968) ablenken.
Auch heute würden die NASA und die US-Regierungen seit damals an dieser Lüge festhalten, um keinen massiven Gesichtsverlust erleiden zu müssen. Diese Angst der Regierenden halten Verschwörungstheoretiker:innen für ausreichend, um die nach dem Wegfallen der alten Mondlandungs-Verschwörungstheoriemotive gewonnenen Erkenntnisse abzutun. Es wird deshalb postuliert, dass sämtliche heutigen Beweise nur der Aufrechterhaltung der Verschwörung dienen und daher gefälscht, ungenau oder unzutreffend seien.
(Un)tote Legenden
US-Präsident Abraham Lincoln, Kaiserin Elisabeth von Österreich, Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich, Adolf Hitler, Argentiniens First Lady Eva „Evita“ Perón, US-Präsident John F. Kennedy, Elvis und viele andere haben etwas gemeinsam: Die offizielle Erklärung ihrer Todesumstände wird von vielen als Lüge betrachtet. Es ist überraschend verbreitet zu glauben, dass Berühmtheiten entweder nicht so ermordet wurden, wie erzählt wird, oder dass sie gar nicht gestorben sind.
Luigi Lucheni, ein italienischer Anarchist, plante 1898, den Prinzen von Orléans in Genf zu ermorden. Lucheni wollte mit dem Attentat ein Zeichen gegen den Adel setzen, aber der Prinz tauchte nicht auf. Doch Kaiserin Elisabeth von Österreich, die Ehefrau Kaiser Franz Josephs, weilte in der Stadt, wie die Zeitungen am 10. September berichteten. Lucheni musste nur umdisponieren. Am Ufer des Genfer Sees stach er mit einer angespitzten Feile auf die Kaiserin ein, bevor er wegrannte. Elisabeth stürzte, richtete sich aber auf und bestieg, wie geplant, einen Ausflugsdampfer. Dort brach sie nach wenigen Minuten zusammen und starb. Lucheni war inzwischen von aufgebrachten Passant:innen auf der Seepromenade aufgehalten und der Polizei übergeben worden. Zu diesem Zeitpunkt glaubte man, er habe ihre kaiserliche Hoheit nur gestoßen. Erst als er dem Haftrichter vorgeführt wurde, erreichte die Behörden die Nachricht, dass Elisabeth gestorben war. Lucheni wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, nahm sich aber 1910 im Gefängnis das Leben.
Oder war es anders? Während der Sonderzug, der den Leichnam der Kaiserin zurück nach Wien brachte, noch unterwegs war, wurden erste Stimmen laut, die daran zweifelten, dass Lucheni alleine gehandelt hatte. Unter anderem war im offiziellen Polizeibericht zu lesen, dass er am Morgen des 10. September noch im Gespräch mit zwei Männern gesehen wurde. Vor allem in Anti-Habsburg-Kreisen im Kaiserreich Österreich-Ungarn verbreitete sich schnell die Idee, dass Lucheni im Auftrag der Habsburger selbst gehandelt haben soll – Elisabeth sollte zum Schweigen gebracht werden, weil ihre Liebe und Unterstützung für die Ungar:innen in der Doppelmonarchie das wackelige Staatengefüge zu sehr belastete. Am Kaiser vorbei sollen andere hochrangige Habsburger das Attentat in die Wege geleitet haben. Beweise dafür wurden freilich nie gefunden.
Phillips und Elledge schreiben in ihrem Buch, dass vor allem bei Attentaten auf Politiker:innen bzw. hohe Repräsentant:innen von Staaten die Idee einer Kabale innerhalb der Staatsspitze die verbreitetste Verschwörungserzählung ist. Die Habsburger sollen auch für das Attentat auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand verantwortlich sein, weil dieser zu „progressive“ Ideen hatte, die US-Militärs sollen sowohl Abraham Lincoln als auch John F. Kennedy ermordet haben. Lincoln, weil er „zu kriegstreiberisch“ gegenüber den Südstaaten war, Kennedy, weil er die CIA nach der gescheiterten Landung in der Schweinebucht auf Kuba zerschlagen wollte. Im Unterschied dazu wird bei Prominenten außerhalb der Politik gerne konstruiert, dass sie gar nicht gestorben seien, sondern der Ruhm zu groß wurde und sie ein ruhigeres Leben wollten. Beispiele dafür sind Elvis oder auch Marilyn Monroe.
„Plandemie“ – von Microchips und Bevölkerungskontrolle
Das Muster, dass historische Ereignisse von Verschwörungstheoretiker:innen anders dargestellt werden, hat – wenig überraschend – auch nicht vor der größten globalen Gesundheitskrise seit der Spanischen Grippe halt gemacht. Bereits im Frühjahr 2020 tauchte in einschlägigen Foren der Begriff „Plandemie“ auf: eine Chiffre für verschiedenste Verschwörungstheorien, die zu Zeiten der Lockdowns großen Zuspruch fanden und auch tausende Menschen zu Demos auf die Straße brachte.
Hinter dem Begriff Plandemie stecken zahlreiche Behauptungen mit dem Ziel, Falschinformationen über das Coronavirus und die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen zu verbreiten. Im Zentrum steht der Mythos, bei der Corona-Pandemie handle es sich um ein medizinisches Experiment, und das Virus sei gezielt freigesetzt worden. Meist wird die Plandemie mit der sogenannten Neuen Weltordnung in Verbindung gebracht. Diese Narrative des Verschwörungsmythos basieren auf der Vorstellung, Menschen seien gezielt mit dem Coronavirus infiziert worden, um die Bevölkerung zu dezimieren und die Verbliebenen kontrollieren zu können. Dies soll mit dem Ziel, eine totalitäre Weltregierung mit einer global operierenden „Elite“ zu erschaffen, getan worden sein. Diese Theorie wird oft mit der Verschwörungsideologie verwoben, Bill Gates würde mithilfe der Corona-Impfungen Microchips in den menschlichen Körper einschleusen, die angeblich eine vollkommene Überwachung und Kontrolle ihrer Träger ermögliche.
Diese Erzählung, oder Teile davon, sind auch in der Politik angekommen und konnten dort noch massiveren Schaden anrichten. Die Nachwehen davon werden noch lange zu spüren sein, auch weil nun, nach dem – hoffentlich – Ende der Pandemie mehrere Regierungen den Skeptiker:innen und Leugner:innen entgegenkommen wollen. Die Toten und Opfer der Krankheit werden ignoriert, es wird offenbar lieber eine Brücke zu potenziellen neuen Wähler:innen gebaut.
Weltgeschichte(n)
Die Beschäftigung mit Verschwörungstheorien über historische Ereignisse lehrt, wie auch Phillips und Elledge betonen, dass es einen Hunger für Geschichten gibt, das Bedürfnis, eine größere Bedeutung in den tragischen, zufälligen Wendungen der Geschichte zu finden. Diese Tendenz ist nicht per se eine negative, doch sie kann, wenn sie heranwächst und immer fantastischer wird, gefährlich werden. Wenn an dunkle Seilschaften geglaubt wird, die Präsident:innen töten können oder eine globale Pandemie auslösen, dann ist das Vertrauen in die Institutionen verloren. Die Kontrollinstanzen der Politik, die aufklärerische Arbeit des Journalismus, all das wird ignoriert, es wird lieber sektiererisch auf die eigene Meinung beharrt. Die Pandemie hat gezeigt, wie schnell „alternative Fakten“ Menschenleben kosten können. Es heißt, wachsam zu bleiben.