Ärztemangel: Wie man die Wahlarztlücke schließt
Zu lange Wartezeiten auf Kassenarzttermine, zu wenige Kassenplätze und steigende Privatausgaben für Gesundheit: Immer mehr Menschen bekommen vom solidarischen Gesundheitssystem nicht mehr die Leistung, für die sie Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Aber stimmt das wirklich, und was kann man tun, um diese Wahlarztlücke zu schließen?
Seit Jahren wird über lange Wartezeiten auf Kassentermine berichtet. Über Untersuchungen, die durch die Pandemie verschoben wurden. Über dadurch zu spät gestellte Diagnosen. Und über mehr Arztbesuche, die zu einer Überlastung des Systems führen.
Rein statistisch gesehen ist ein Ärztemangel in Österreich unmöglich, immerhin gibt es hierzulande im OECD-Vergleich die meisten Ärztinnen und Ärzte auf die Bevölkerung hochgerechnet. Trotzdem werden über das Kassensystem nicht genug Termine bereitgestellt. Immer häufiger wird deshalb darüber diskutiert, wie auch Wahlärztinnen und Wahlärzte in das System gebracht werden können.
Die Vorschläge reichen von Termingarantien bis zu Arbeitsverpflichtungen, auch die sogenannten Landarztstipendien werden nach ihrer stillschweigenden Einführung (und komplizierten Mehrgleisigkeiten) immer beliebter. Aber nicht jede Idee ist sofort umsetzbar, denn manche sind rechtswidrig, und irgendwie ist sowieso niemand richtig zuständig. Darum werfen wir einen Blick darauf, welche Ursachen der Mangel an besetzten Kassenstellen hat – und wie wir das wieder hinbekommen könnten.
Das Grundproblem: Ein Budget, zwei Aufgaben
Die Planung, wie viele Kassenstellen es geben sollte, liegt bei der Gesundheit Österreich GmbH, die für das Gesundheitsministerium die Planung des Gesundheitssystems durchführt. Da die Leistungen von den Sozialversicherungsträgern bezahlt werden, schließen diese Verträge mit den Ärztinnen und Ärzten – bzw. ihren Kammern – als Verhandlungspartner ab. Sie sollen dafür sorgen, dass Bezahlung und Arbeitsbedingungen so sind, dass viele in diesem Kassensystem tätig sind. Das sorgt aber für einen Zielkonflikt.
Die Sozialversicherungen haben nämlich nur ein bestimmtes Budget zur Verfügung: Je nach Anzahl der Versicherten werden Versicherungsbeiträge gezahlt, damit müssen die Gesundheitsleistungen finanziert werden. Das führt zu einem Finanzierungstopf für den niedergelassenen Bereich, mit dem zwei Ziele erreicht werden müssen: ausreichende Kassenstellen, inklusive Basisausstattung, und ausreichend hohe Bezahlung für die einzelnen Leistungen. Hohe Leistungshonorierung und viele Kassenstellen können aber nicht gleichzeitig bezahlt werden.
Die Aufgabe der Versicherungsträger ist also ein Balanceakt zwischen diesen beiden Zielen. Seit der Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen arbeitet die Österreichische Gesundheitskasse daran, die Leistungen für Versicherte zu harmonisieren. Viel diskutiert sind Zuschüsse für Physiotherapie, Psychotherapie, aber auch Kostenbeiträge für Brillen und andere Heilbehelfe. In einigen dieser Bereiche wurden seit der Zusammenlegung sogenannte Gesamtverträge abgeschlossen: Versicherte in ganz Österreich bekommen dadurch für ihre (gleich hohen) Sozialversicherungsbeiträge für Physiotherapie oder Hebammenleistungen jetzt vom Burgenland bis nach Vorarlberg die gleichen Zuschüsse.
Die Folge: Das System ist teuer – für wenig Leistung
Für Ärztinnen und Ärzte gibt es das aber noch lange nicht. Das merken Patientinnen und Patienten auch, wenn es um die Kostenerstattung der Wahlarztpraxis geht: Wer dorthin geht, muss selbst bezahlen. Erstattet bekommt man aber nur 80 Prozent vom dem, was die Versicherungsträger für das Honorar an Vertragärzt:innen zahlen. Kostet ein Wahlarztbesuch 140 Euro, spielt das keine Rolle: Wenn die Versicherung einem Kassenarzt für die gleichen Untersuchungen nur 40 Euro zahlen, bekommt man 32 Euro erstattet. Für Patientinnen und Patienten bedeutet das: Je nach Fachgebiet gibt es eine Erstattung zwischen neun (Immunologie) und 80 Prozent (Kinder- und Jugendpsychiatrie).
Wie viel wird insgesamt dafür ausgegeben? Wir wissen es nicht. Rechnungen werden oft nicht eingereicht, weil sich die Erstattung nicht lohnen würde, eine zentrale Erfassung existiert nicht. Die Summe der eingereichten Rechnungen ist in den letzten Jahren allerdings angestiegen, wobei auch bei diesen Ausgaben ein Einbruch durch die Pandemie bemerkbar war. 2022 waren es knapp 490 Millionen Euro, die von der (ÖGK-versicherten) Bevölkerung für Wahlarztbesuche ausgegeben wurden, rund 35 Prozent davon erhielten die Beitragszahler:innen zurück.
Ein schlechter Deal, wenn man sich vor Augen führt, dass diese Menschen ohnehin schon Versicherungsbeiträge für ihre medizinische Versorgung zahlen. Eine Erleichterung für alle wäre deshalb die vollständige Kostenerstattung durch die Versicherung, wenn es tatsächlich keine verfügbaren Kassenplätze als Alternative gibt. Wer aus eigenen Stücken auf private Leistungserbringung ausweicht, kann diese ja zahlen – wer muss, weil die Versicherungsträger ihren Versorgungsauftrag nicht erfüllen, sollte nicht auf diesen Kosten sitzen bleiben. Nach früheren Vorstößen der NEOS hat nunmehr auch die SPÖ dieses Modell in einigen ihrer Vorschläge übernommen.
Neben den niedrigen Summen werden oftmals auch die langen Wartezeiten auf die Erstattung kritisiert. Auch hier gibt es in der Abwicklung nach wie vor große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Auch wenn es in den letzten Jahren zu einer Verkürzung gekommen ist.
Das Zusatzproblem: Eine Kasse, neun Kammern
Damit diese Kosten nicht explodieren, müssen Versicherungsträger mehr Kassenärztinnen und Kassenärzte anwerben. Für diese gibt es aber je nach Bundesland unterschiedliche Verträge – die den Job wohl auch unterschiedlich attraktiv machen.
Wenn man sich die Zahlen der unbesetzten Kassenstellen anschaut, bleiben diese zumindest konstant – wenn man die Zahnmedizin herausrechnet, wo es wirklich einen Mangel gibt. Um die 300 freien Kassenstellen waren Anfang 2023 und Anfang 2024 in den Medien, rund 100 davon sind seit mehr als einem Jahr unbesetzt. Auch hier gibt es wieder große Unterschiede zwischen den Bundesländern, auch aufgrund der potenziell verschiedenen Vertragsbedingungen.
Im Zuge des Finanzausgleichs versuchte Gesundheitsminister Rauch auf eine Vereinheitlichung dieser Vertragsbedingungen hinzuwirken – aber Ärztekammern von Niederösterreich bis Vorarlberg kündigten dagegen allerdings rasch Proteste an: Immerhin ist das Leben in Vorarlberg oder Wien teurer als im Burgenland. Ein fairer Punkt, aber: Die unterschiedlichen Verträge bedeuten auch für Ärztinnen und Ärzte einen hohen Aufwand.
Zum Beispiel wenn Patientinnen und Patienten aus anderen Bundesländern behandelt werden: Dann muss nach wie vor mit verschiedenen Regeln abgerechnet werden, genau wie vor der Zusammenlegung der Krankenkassen. Teilweise gibt es Obergrenzen, wie viele Besuche pro Quartal abgerechnet werden können, teilweise verschiedene Summen für gleiche Leistungen, teilweise verschiedene Leistungen. Die Abrechnung nach mehreren Verträgen ist für Ärztinnen und Ärzte also auch keine Erleichterung – im Gegenteil.
Der Versuch: Startbonus für die neue Praxis
Es braucht also andere Wege, um Kassenstellen zu besetzen. In der Steiermark hat man schon 2019 einen Startbonus als Anreiz eingeführt, dort wurden 70.000 Euro für die Eröffnung einer Kassenpraxis geboten. Nach wie vor fehlen in der Steiermark langfristig 15 Kassenplätze (Zahnarztpraxen ausgenommen) – das ist exakt die Anzahl der Vertragsstellen, für die es schon 2018 keine Bewerbungen gab.
Der Startbonus wird jetzt trotzdem österreichweit ausgerollt, und zwar nicht für unbesetzte Kassenstellen, sondern für 100 neue. 14 davon sollen übrigens in der Steiermark entstehen: Die Zahl der leeren Kassenstellen in der Steiermark wird damit also verdoppelt. Der erste Andrang auf diese Stellen dürfte groß gewesen sein, allerdings konnte sich so gut wie jeder bewerben: 200 Bewerbungen kamen aus Fachrichtungen, die sich gar nicht für den Startbonus qualifizieren.
Noch wichtiger wird aber, wo diese Stellen sein sollen. In Wien waren im Jänner 2024 92 Kassenstellen besetzt, die gar keine Ordination hatten. Warum wird der Vertrag überhaupt ohne Ordination vergeben? Berücksichtigt man den Raummangel, scheinen deshalb Wahlärztinnen und Wahlärzte die ideale Zielgruppe zu sein, um mehr praktizierende Kassenärzte zu bekommen. Was wieder zurück zur Ausgestaltung der Verträge führt.
Der Hebel: Arbeitsbedingungen verbessern
Die jetzigen Verträge verhindern aber ausführliche Patientengespräche zur Anamnese und Diagnose, eine bessere Abgeltung für die Behandlung von chronisch Kranken, Digitalisierung und auch Innovationen wie beispielsweise neue Geräte in Ordinationen.
Die Einnahmen aus den Kassenverträgen müssen nämlich für den Betrieb der gesamten Praxis genügen. Bei den Diskussionen über das ärztliche Einkommen werden Ordinationsmieten, Beschaffungen und die Kosten für Mitarbeiter nicht berücksichtigt. Und das, obwohl Medizinerinnen und Mediziner zu keinem Zeitpunkt ihrer Ausbildung darauf vorbereitet werden, dass sie nicht nur selbstständig arbeiten, sondern auch gleichzeitig Arbeitgeber sein müssen.
Mit Primärversorgungszentren und mehr Anstellungsmöglichkeiten in Gruppenpraxen soll dem entgegengewirkt werden. Damit sollen Patientinnen und Patienten auf mehrere Stellen verteilt werden können, wodurch man wiederum die Öffnungszeiten verlängern und auch den Ärztinnen und Ärzten Teilzeit ermöglichen könnte. Aber kann man Junge überhaupt zur Arbeit am Land motivieren, wenn es de facto keine Karenzmöglichkeiten und zu wenig Kinderbetreuung gibt? Die Antwort wird eher Nein sein. Wenn es gut geht, eben als Wahlärzt:innen, da geht sich noch eine freie Zeiteinteilung aus und ein größerer finanzieller Spielraum für beispielsweise Kinderbetreuung.
So bekommen wir mehr Kassenplätze ins System
Fest steht: Die Kassenärztinnen und -ärzte leisten jetzt schon einen enormen Anteil am Gesundheitssystem: 2021 etwa gab es mehr als 102 Millionen Kontakte mit Patientinnen und Patienten, davon nur rund 350.000 Kontakte in Wahlarztpraxen. Und obwohl Österreich sehr viele Ärztinnen und Ärzte hat, ist überall vom Mangel die Rede. Was braucht es also wirklich zur Schließung der Wahlarztlücke?
- Wissen aufbauen: Wir wissen, dass sich für viele Kassenstellen niemand bewirbt, aber nicht immer, warum das so ist. Bund und Länder müssen die Probleme kennen, um sie zu lösen, statt am Bedarf vorbei zu fördern.
- Arbeitsbedingungen verbessern: Wer in einer Wahlarztpraxis arbeitet, hat mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten, kann seine Arbeitszeit frei einteilen und die Preise frei wählen. Dadurch sinkt der Leistungsdruck – und die Stellen sind sehr viel attraktiver als Kassenplätze, für die es strenge Regeln gibt.
- Vertragsreform: Ein bundesweiter Gesamtvertrag würde die Abrechnung massiv erleichtern. Momentan scheitert er am Widerstand der neun Länderkammern – aber das wäre ein enormer Hebel, weil er Kassenärztinnen und -Ärzte sofort entlasten würde.
- Anreize im Vertrag: Es muss aber noch gar keine Gesamtreform sein. Auch ein Vertrag, der Gespräche mit Patientinnen und Patienten attraktiver macht und den Ankauf von modernem Equipment berücksichtigt, könnte schon helfen.
- Umstellung auf Fallpauschalen: Wer für Behandlungen auch bezahlt wird, wenn Patientinnen und Patienten neu diagnostiziert sind und mehr Betreuung brauchen, wird eher übernehmen als jemand, der diese nur dreimal im Jahr sehen darf. Diese Regel mag bei Vorsorgeuntersuchungen sinnvoll sein – aber bei Diabetes eher nicht.
Diese Hebel würden schon viel bringen, um Kassenplätze deutlich attraktiver zu machen und den gefühlten Ärztemangel zu bekämpfen. Aber dann wartet schon der nächste große Brocken: die Frage, welche Patientinnen und Patienten warum bei welcher Stelle im Gesundheitssystem landen – und wie man das steuern kann.