Das Judentum: Von der Schuld an der Kreuzigung bis zu Weltraumlasern
Manche Legenden, auch wenn sie falsch sind, halten sich zäh. Zum Beispiel, wenn es um Antisemitismus geht. Mitte des 15. Jahrhunderts soll ein dreijähriger Bub namens Andreas Oxner im Tiroler Rinn getötet worden sein. Die Geschichte wurde zuerst zur lokalen Mär, um 1620 inspirierten die Gerüchte den Haller Arzt Hippolyt Guarinoni zu Nachforschungen. Dank einiger Eingebungen in Träumen behauptete er schließlich: Anderl muss am 12. Juli 1462 Opfer eines jüdischen Ritualmords geworden sein.
Die Legende fand fortan große Verbreitung. Es gibt ein Theaterstück darüber, Lieder, ein inzwischen übermaltes Fresko, die Brüder Grimm nahmen die Sage auf, bis in die 1970er Jahre wurde die Anderl-Erzählung in Tiroler Schulen als Tatsache verbreitet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg distanzierte sich die katholische Kirche – sehr langsam – von dem Kult. 1985 wurde die angebliche Reliquie aus der nach Anderl benannten Gedenkkirche entfernt, entsprechende Fresken übermalt und die Kirche auch umbenannt. 1988 wurde die Verehrung des Anderl, der bis dahin als seliger Märtyrer galt, amtskirchlich verboten, sein Festtag aus dem Kalender gestrichen. Doch in rechtsextremen und fundamental-katholischen Kreisen wird immer noch zu Pilgerreisen zur Kirche in Rinn aufgerufen.
Anderl von Rinn ist in Österreich eine der bekanntesten antijüdischen Verschwörungstheorien. Vor allem im Westen waren und sind diese Erzählungen innerhalb dieser Zirkel weit verbreitet und werden oft erschreckend wenig versteckt geäußert. Geschichtlich gehen sie weit zurück – und die grundlegende Erzählung hat sich oft kaum gewandelt. Diese Legenden eines heimlichen Weltherrschaftsstrebens wurden schon im mittelalterlichen Antijudaismus überliefert und wurden im neuzeitlichen Antisemitismus rassistisch verschärft. Für den Nationalsozialismus war das „Weltjudentum“ der „Weltfeind“, den die „arische Herrenrasse“ für ihr eigenes Überleben vernichten müsse. Damit rechtfertigten die Nationalsozialisten ab 1941 ihren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und den Holocaust. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde daran festgehalten – wie Tom Phillips und John Elledge in ihrem Buch „A history of bollocks theories, and how not to fall for them“ feststellen, gab es einen massiven Anstieg ab der Jahrtausendwende, gerade durch den Aufstieg der populistischen Rechten.
Und angefangen hat alles mit einem Zimmermann in Judäa.
Eine kurze, deprimierende Geschichte des Antijudaismus
Ab der Verfassung der Bibel und der Entscheidung der Frühkirche, welche Evangelien aufgenommen werden sollten, wurde das Verhältnis des jungen Christentums mit dem Judentum durch die Rolle der „jüdischen Elite“ in der Kreuzigung Jesu definiert. Die römischen Machthaber sollten in keinem zu schlechten Licht dargestellt werden, da man kein Verbot riskieren wollte – der jüdischen Oberschicht, deren Glaube eine Konkurrenz darstellte, konnte die Hauptverantwortung gegeben werden. Das Bild der „Mörder:innen“ Jesu, die das Christentum nicht aufkommen lassen wollten und es weiterhin bedrohten, war geboren.
Diese Deutung wurde durch die Missionierung Europas in den nächsten Jahrhunderten bis in alle Dörfer des Kontinents getragen und konnte sich dort mit lokalen Legenden und Ängsten vermischen. Um 1150 verfasste der englische Mönch Thomas von Monmouth die erste mittelalterliche Ritualmordlegende: Er behauptete, Jüd:innen hätten den Buben William von Norwich, der 1144 tot aufgefunden worden war, von Christ:innen gekauft, am damaligen Karfreitag gefoltert, gekreuzigt und heimlich zu beerdigen versucht, doch sei das Verbrechen durch Wundertaten des getöteten Opfers aufgedeckt worden. Zudem behauptete er, ein bekehrter Jude habe ihm von einem jährlichen Geheimtreffen von Rabbinern Spaniens in Narbonne berichtet: Dabei würden diese durch ein Losverfahren ein christliches Ritualmord-Opfer für das Folgejahr auswählen, „da sie ohne menschliches Blut weder Freiheit erlangen noch dereinst in das Land ihrer Väter zurückkehren können“.
Monmouth stellte Williams Folterung als verabredete Rache von Jüd:innen für Grausamkeiten dar, die Christ:innen ihnen bezüglich der Kreuzigung Jesu unterstellt hätten, beschreibt Jacob Rader Marcus in „The Jews in Christian Europe: A Source Book“. Diese Verschwörungsthese wurde auch von Thomas von Cantimpré (1201–1270 oder 1272) überliefert und diente dazu, frühere Pogrome zu rechtfertigen und einen Märtyrerkult in Norwich zu begründen, um Einkünfte durch christliche Pilger:innen zu erlangen. In ganz Europa wurde die Geschichte von Wiliam von Norwich durch Priester weitererzählt und weitere solcher angeblichen Ritualmorde wurden berichtet – einer davon war Anderl von Rinn.
Neben ritueller Tötung von Kindern und Trinken oder Verarbeiten von deren Blut kam im Mittelalter ein zweiter spezifischer Vorwurf auf, der bis heute in Verschwörungstheorien nachhallt – das Brunnenvergiften. Während der großen Pestpandemie 1347–1353 schrieben spanische und südfranzösische Flugschriften den vielfach in Ghettos konzentrierten Judengemeinden Europas eine heimlich verabredete Brunnenvergiftung zur Ausrottung der Christen zu. Dies löste eine schwere Pogromwelle in ganz Europa mit hunderttausenden jüdischen Opfern aus. Beide Legenden speisten das antijudaistische Motiv einer heimlichen Verabredung einflussreicher Jüd:innen gegen die gesamte Christenheit – dies gilt als eine historische Wurzel der Verschwörungstheorie vom Weltjudentum.
Diese Verschwörungstheorien wurden durch die Jahrhunderte weiter verbreitet, bis sie im 19. Jahrhundert durch das Aufkommen des Nationalismus eine neue, „rassische“ Weiterentwicklung erfuhren. Jüd:innen wurden mehr und mehr als ethnischer Fremdkörper innerhalb der Staatsgemeinschaft angesehen, deren „echte“ Loyalität angezweifelt wurde. Das Judentum wurde für Kritiker:innen immer mehr zu einem eigenen Volk, das eigene Ziele verfolgen und deshalb den Zielen der Länder, in denen es lebte, entgegenstehen würde. Ein Beispiel dafür war die Dreyfus-Affäre in Frankreich 1894. Dem jüdischen Offizier Alfred Dreyfus, der des Hochverats beschuldigt wurde, wurde damals unterstellt, dass er Geheimpapiere weitergegeben hatte, da er als Jude nicht loyal zum französischen Staat sein könne.
Die Idee der „jüdischen Rasse“ wurde immer radikaler und gipfelte in den Nürnberger Rassegesetzen und der Shoa des Nationalsozialismus. Ein Ende fanden diese Theorien mit dem Fanal der modernen Epoche allerdings nicht.
Antisemitismus im neuen Gewand
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wanderte der offene Antisemitismus in kleinere Ecken der Gesellschaft, in den Untergrund. Weg war er aber nie. Thomas Bernhards „Heldenplatz“ erzählt uns, wie dieses Gift noch Jahrzehnte später Wirkung zeigte. Nun wurde gerne die Shoa infrage gestellt oder die Zahl der ermordeten Jüd:innen angezweifelt, gerne auch mit dem Unterton, dass Jüd:innen nun eben für ihre „Taten“ durch die Jahrhunderte die gerechte Strafe erhalten habe.
Doch ein starker Anstieg und ein offeneres Auftreten ist vor allem seit der Jahrtausendwende zu verzeichnen, legen Phillips und Elledge in ihrem Buch dar. Der immer stärker werdende Populismus in der Politik im Westen hat immer weniger Skrupel, diese altbekannten Erklärungs- und Beschuldigungsmuster wiederaufzugreifen. Während der Finanzkrise ab 2007 war die Kritik am Vorgehen mancher Banken und Banker:innen klar wieder mit den alten Klischees der geldgierigen Jüd:innen verbrämt. Der Begriff US-Ostküste wurde gerne als Chiffre für Banken in New York City verwendet – ebenfalls mit Anspielung auf die angeblich vielen Jüd:innen, die in der Bankenbranche arbeiten.
Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends verschärfte sich die Tonalität noch einmal. Vor allem in den USA mit der Kandidatur Donald Trumps zog eine neue Qualität in der Rohheit des politischen Diskurses ein, der bald auch nach Europa überschwappte. Vor allem die QAnon-Verschwörungstheorie der Trump-Anhänger:innen verweist immer wieder auf alte antisemitische Verschwörungsgeschichten. Pizzagate, die Idee, dass die Demokraten sowie die TV-, Film- und Mainstream-Medienelite aus einer Pizzeria heraus eine Kabale betreiben, um gemeinsam das Blut von Kindern trinken zu können, ist eine Weiterentwicklung der Geschichte hinter Anderl und William. Besonders bizarr war auch die Spekulation der Trump-Anhängerin und Kongressabgeordneten Marjorie Taylor Greene, dass die verheerenden Waldfeuer im Herbst 2018 durch „jewish space lasers“ ausgelöst worden wären.
In Europa ist unter Rechtspopulist:innen wie Viktor Orbán oder auch der FPÖ die Verschwörungstheorie verbreitet, dass der jüdische Milliardär George Soros Millionen von Flüchtlingen nach Europa bringen will, um die Bevölkerung auszutauschen. Auch da wird die alte Legende der Verschwörung von mächtigen Jüd:innen gegen die (christliche) Mehrheitsbevölkerung zitiert.
Der Antisemitismus hat sich gewandelt, Verschwörungsfantasien über ein geplantes, gemeinsames Vorgehen hinter den Kulissen, um den Nicht-Jüd:innen zu schaden, sind aber weit davon entfernt auszusterben. Im Gegenteil, es wirkt, als ob diese Theorien durch schwindendes Vertrauen in die Politik und multiple Krisen der vergangenen Jahrzehnte Aufwind erfahren. Dass hier Menschen konkret betroffen sind, scheint von Anhänger:innen kaum berücksichtigt zu werden.