Die größten Bedrohungen, kurz- und langfristig
Eine Risikoanalyse zeigt: Kurzfristig haben die wirtschaftlichen Krisen oberste Priorität, langfristig aber die Folgen des Klimawandels.
Während Österreich mit einer zweistelligen Inflationsrate und hohen Energiepreisen kämpft, stehen die nächsten Herausforderungen schon Schlange: Klimawandel, Migration und geopolitische Risiken werden die Politik auch dann noch auf Trab halten, wenn die Teuerung abnimmt. Und das mitten in einer Debatte darüber, wie Österreichs Sicherheitspolitik eigentlich auszusehen hat und auf welche Risiken sie sich vorbereitet.
Worauf sollte sich die Politik, worauf das Bundesheer, worauf eine gesamtstaatliche Sicherheitspolitik konzentrieren? Um diese Frage zu beantworten, hat das World Economic Forum mehr als 1.200 Personen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft befragt. Der Global Risk Report fasst die Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick über die kommenden Risiken, ihren Schweregrad, ihre Folgen und die Vorbereitung darauf.
Kurzfristig: Teures Leben stellt Gesellschaften auf die Probe
Die Befragten aus Politik und Wirtschaft sind sich einig, dass die steigenden Lebenskosten das kurzfristig brennendste Thema sind. Das hat einerseits mit der angespannten Energiesituation zu tun: Verglichen mit den Vorhersagen Anfang 2022 werden die Energiepreise dieses Jahr international etwa um 46 Prozent steigen, die Abhängigkeit von russischem Gas heizt das Problem noch weiter an. Die hohen Treibstoffpreise führten bereits in 92 Staaten zu Protesten. Aber auch Lebensmittel werden auf absehbare Zeit teuer bleiben: Der Preisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation liegt auf dem höchsten Level seit seiner Einführung im Jahr 1990. Sollte Russland aus der Schwarzmeer-Getreide-Initiative aussteigen, drohen noch höhere Preise, vor allem afrikanische Staaten würde das besonders hart treffen.
Nicht nur in Österreich, sondern auch in vielen G20-Staaten ist Inflation aktuell das größte wirtschaftliche Thema. In der Türkei und in Argentinien lag die Inflation zeitweise bei über 80 Prozent, in Staaten wie Syrien, Venezuela, Simbabwe oder dem Sudan sogar im dreistelligen Bereich. Da die Inflation wohl eher langsam abebben wird, werden weitere Zinsanhebungen durch die Zentralbanken erwartet – was wiederum das Wirtschaftswachstum hemmen, aber auch z.B. die Zinszahlungen für Österreichs Staatsschulden wesentlich teurer machen könnte. Für das weltweite Wirtschaftswachstum könnte 2023 das drittschwächste der letzten 20 Jahre werden.
Dazu kommt das Risiko einer Eskalation durch geoökonomische Kriegsführung. Die Russland-Sanktionen, aber auch Boykott-Aufrufe gegen diverse Unternehmen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, hätten wirtschaftliche Maßnahmen gegen andere Staaten wieder salonfähig gemacht. Die Gefahr liege darin, dass dieser Trend jetzt auf andere Bereiche ausgeweitet werde – wenn Staaten alle Abhängigkeiten, die sie technologisch oder finanziell haben, reduzieren und in Richtung Autarkie gehen, könnte das zum „Ende einer wirtschaftlichen Ära“ führen, die sich durch billiges und globalisiertes Kapital auszeichnet. Es drohe ein Teufelskreis, in dem sich Staaten gegenseitig nicht mehr vertrauen – und damit ihrer eigenen Produktivität schaden.
Eine Folge aus vielen zusammenwirkenden Problemen und Krisen ist die Erosion des sozialen Zusammenhalts. Eine wachsende Kluft zwischen Werten sei eine existenzielle Herausforderung für demokratische, aber auch für autoritäre Systeme, da wirtschaftliche und soziale Unterschiede sich in politische verwandeln würden. Das führe nicht nur zu Protesten, sondern auch zu Gewalt und sinkendem Vertrauen in das politische System an sich. Ein Trend, von dem auch Österreich betroffen ist, wie der „Demokratiemonitor“ zeigt. Polarisierung in Fragen wie Migration, Geschlecht, Ethnie, Religion, aber auch Sachthemen wie Abtreibung oder Klimaschutz hätten weltweit viele Wahlen geprägt. Das alles könnte auch die Demokratie bedrohen – nur noch 13 Prozent der Menschen weltweit leben in liberalen Demokratien, 44 Prozent in „Wahl-Autokratien“.
Unfreiwillige Migration könnte die Folge davon sein. Durch Nahrungsmittelknappheit, bewaffnete Konflikte, ökonomische Probleme und die Folgen des Klimawandels werden viele in den betroffenen Gebieten ihre Heimat verlassen. Das heizt wiederum andere Probleme an: Auch in Österreich polarisiert das Thema Migration z.B. seit Jahren, was sich wiederum auf den sozialen Zusammenhalt auswirkt. Wer diese Entwicklung verhindern will, muss Fluchtursachen bekämpfen – und dafür sorgen, dass all die Herausforderungen, die im Risk Report des World Economic Forum angeführt werden, nicht noch schlimmer werden.
Langfristig: Klimawandel wirkt sich auf alle Bereiche aus
Das Versagen beim Klimaschutz ist ein langfristiges Risiko und aktuell nur in einem Staat, Sambia, die größte wahrgenommene Gefahr. Trotzdem geben mehr als 70 Prozent der Befragten an, die bisherigen Maßnahmen seien wenig bis gar nicht effektiv. Wenn es bei den aktiven Zusagen bleibt, geht das IPCC von einer Erwärmung von 2,7 Grad bis Mitte des Jahrhunderts aus. Und 600 Millionen Menschen in Afrika leben laut World Economic Forum noch ohne Zugang zu Elektrizität – es ist also davon auszugehen, dass viele davon nicht darauf warten werden, neue, „grüne“ Infrastruktur zu nutzen. Umso wichtiger wäre es, besonders betroffene Entwicklungsländer zu unterstützen und gleichzeitig im Westen ambitionierte Maßnahmen zu setzen.
Die Anpassung an den Klimawandel wiederum ist jetzt schon in vielen Staaten in den Top 5 der Prioritäten, in den Niederlanden sogar die größte. Das World Economic Forum warnt aber auch davor, dass eine zu große Aufmerksamkeit auf Anpassung die Verhinderung des Temperaturanstiegs verlangsamen könnte. Wer sich also nur anpassen will und das verfügbare Geld nur in Anpassungsprojekte steckt (statt z.B. in den Umstieg auf erneuerbare Energie), könnte paradoxerweise genau die Erwärmung verschlimmern, an die man sich anpassen will.
Eine Folge des Klimawandels, die alle Staaten der Welt betrifft oder betreffen wird, sind Naturkatastrophen und Extremwetterereignisse. Der Klimawandel begünstigt viele dieser Katastrophen, die besonders heiße Luft führt z.B. zu stärkeren Stürmen. Daher werden sie gerade dort als besonders akute Bedrohung eingeschätzt, wo sich heiße Küstenstädte befinden: Lateinamerika, Afrika oder Südostasien. Für Österreich bedeutet das z.B., dass Hitzesommer, Tropennächte und Dürren wahrscheinlicher werden – und wenn es dann regnet, dann stärker als früher, wodurch die Gefahr von Hochwasser steigt.
Und was 2023 noch nicht die Schlagzeilen beherrscht, aber immer akuter wird: das Artensterben. Etwa die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung ist von der Natur abhängig, der Zusammenbruch von Ökosystemen wird weitreichende wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen haben. Dazu gehören das Auftreten von Zoonosen – also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übergehen –, aber auch Rückgänge von Ernteerträgen und Nährwerten insgesamt. Zunehmende Wasserknappheit könnte Konflikte verschärfen, die Zerstörung natürlicher „Hochwasserschutzsysteme“ wie Auen oder Mangroven könnte Hochwässer noch weiter verschlimmern.
Lösungen aus der Polykrise
Im Risiko-Bericht ist auch die Rede von einer „Polykrise“ – also vielen Krisen, die zu einer großen Gesamtkrise werden. Wer z.B. Maßnahmen treffen will, die „klimaschädliches“ Verhalten unattraktiv machen, hat in Zeiten hoher Lebenserhaltungskosten weniger Spielraum. Wer wiederum das (politische und wirtschaftliche) Kapital hat, ambitionierte Anpassungsmaßnahmen zu finanzieren, wird trotzdem von Migration betroffen sein. Wer jetzt alles darauf setzt, sich unabhängiger von anderen Staaten zu machen, verpasst das Zeitfenster für Klimaschutz und Anpassung. All diese Risiken haben also miteinander zu tun. Dass einige davon akuter sind als andere, heißt nicht, dass man diese anderen ignorieren sollte.
Das alles klingt nach einem düsteren Ausblick, aber Lösungen für all diese Probleme existieren. Es ist nur schwer, sie umzusetzen. Will man z.B. Kipppunkte im Weltklima aufhalten, braucht es Eingriffe in sämtliche Lebensbereichen: in die Klimaschutz-Strategien von Staaten, in Produktion und Transport von Gütern, im Nahrungsmittelbereich, in der Änderung des Konsumverhaltens. Erste Schritte in diese Richtung gibt es: Beim CBD COP15, der internationalen Konferenz zur Biodiversität, einigten sich die Staaten der Welt 2022 darauf, 30 Prozent der geschädigten Ökosysteme wieder aufzubauen. Aufforstung, regenerative Landwirtschaft, der Schutz von Ökosystemen, ein schnellerer und ambitionierterer Umstieg auf erneuerbare Energien – all das sind Lösungen, mit der die zahlreichen Risiken im Umweltbereich angegangen werden könnten.
Wie sich diese Risiken entwickeln werden? Das hängt vor allem davon ab, wie gut die Staaten der Welt zusammenarbeiten – aber auch davon, wie schnell und katastrophal sich die Folgen des Klimawandels auswirken. Die Politik steht jedenfalls gleich vor mehreren Mammutaufgaben. Denn auch, wenn sich die hohen Lebenserhaltungskosten bald beruhigen sollten, werden die Herausforderungen nicht kleiner.