Die Mär vom billigen russischen Gas
Wenn an Stammtischen Aussagen fallen wie „Wenn wir die Sanktionen gegen Russland aufheben, wird das Gas wieder billig“, „Die Russen haben uns immer verlässlich billiges Gas geliefert“ oder „Der Krieg in der Ukraine geht uns nichts an, unsere Wirtschaft braucht billige Energie“, dann spiegelt das eine weit verbreitete Meinung wider. Eine grundsätzliche Zustimmung zum Mythos „billiges russisches Gas“ ist tief in den Köpfen der österreichischen Bevölkerung verankert. Aber ist das wirklich so? Zahlen wir in Österreich tatsächlich weniger für russisches Gas als für Gas aus anderen Ländern?
Völlige Abhängigkeit
Während die meisten EU-Staaten ihre Abhängigkeit von russischem Gas seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine weitestgehend auf null gebracht und ihre Importquellen diversifiziert haben, ist der Anteil an russischen Gasimporten hierzulande nach wie vor hoch. Kamen 2021 noch rund 45 Prozent der Gaslieferungen in die EU aus Russland, waren es 2023 nur noch 14,8 Prozent, aufgefangen durch Importe aus Norwegen (30,3 %), den USA (19,4 %), den nordafrikanischen Staaten (14,1 %), sowie dem Vereinigten Königreich (5,7 %) und Katar (5,3 %), wie die Europäische Kommission im vergangenen Jahr berichtete. In Österreich ist der Anteil russischer Gasimporte nach wie vor exorbitant hoch: In den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 lag ihr Anteil durchschnittlich bei rund 90 Prozent, von einer Diversifizierung und Verringerung der Abhängigkeit gegenüber Russland kann also keine Rede sein.
Zugegebenermaßen ist die Situation für Österreich schwieriger als für viele andere EU-Staaten. Politische Fehlentscheidungen, fragwürdige Risikoeinschätzungen, eine jahrzehntelange russlandfreundliche Wirtschaftspolitik und ein auf Eigennutzmaximierung ausgerichtetes Neutralitätsverständnis haben tiefe Wurzeln geschlagen.
„Die Neutralität dient nicht der Orientierung an der Ausgewogenheit, sondern deckt als Mantel die ungenierten Anbahnungsversuche zur Absicherung des eigenen Vorteils.“
– Prof. Herbert Lechner, An der Gasleine (2023)
Deutschland konnte als mengenmäßig größter Gasimporteur seine direkten Gasimporte aus Russland bereits im September 2022 von 55 Prozent auf null reduzieren und setzt seither verstärkt auf Importe aus den USA, Norwegen und Katar. Als Binnenland ohne Zugang zum Meer kann Österreich naturgemäß keine LNG-Terminals errichten, wie sie Deutschland oder Italien an ihren Küsten gebaut haben, um Flüssigerdgas aus anderen Teilen der Welt zu importieren. Während es anderen Ländern gelungen ist, ihre Bezugsquellen zu diversifizieren und ihre Energiesicherheit zu erhöhen, ist Österreich jedoch nach wie vor an das an Russland ausgerichtete Pipelinenetzwerk gebunden.
Wie man nicht verhandeln sollte: Der Gazprom-Vertrag
Ein entscheidender Faktor ist der Vertrag zwischen dem teilstaatlichen Energiekonzern OMV und Gazprom, der 2018 unter der türkis-blauen Regierung abgeschlossen wurde. Dieser Vertrag verpflichtet Österreich, jährlich sechs Milliarden Kubikmeter russisches Gas abzunehmen. Die darin enthaltene „Take-or-pay“-Klausel bedeutet, dass Österreich auch dann zahlen muss, wenn das Gas gar nicht benötigt wird. Der Vertrag läuft bis 2040 und erschwert es Österreich, seine Bezugsquellen zu diversifizieren und seine Energiesicherheit zu erhöhen. Was bei der Vertragsunterzeichnung im Juni 2018, also rund vier Jahre nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, noch als Ausdruck einer Vereinbarung zum beiderseitigen Vorteil „zur Sicherung der Energiesicherheit Österreichs und Europas“ gewertet wurde, erweist sich rückblickend als gravierende Fehleinschätzung der Risiken. Obwohl der vorherige Vertrag noch bis 2028 gelaufen wäre, ist die vorzeitige Ankettung an Russland bis 2040 im Nachhinein schwer nachvollziehbar.
Der umstrittene Liefervertrag sollte Österreich langfristig günstiges Gas sichern, aber ein Blick auf die Gaspreisentwicklung für Haushaltskunden zeigt ein anderes Bild. In kaum einem anderen europäischen Land sind die Gaspreise (inklusive aller Steuern und Abgaben) seit Ende 2021 so stark gestiegen wie in Österreich. Von der zweiten Jahreshälfte 2021 bis zur zweiten Jahreshälfte 2023 haben sich die Gaspreise in Österreich um rund 111 Prozent erhöht. EU-weit war der kumulierte Anstieg nur in Litauen mit 253 Prozent höher. Ende 2023 lag der Preis pro Kilowattstunde bei durchschnittlich 14,77 Cent und war damit der vierthöchste in der EU. Bei einem durchschnittlichen Jahresverbrauch von 20.000 kWh zahlt daher ein österreichischer Haushalt rund 660 Euro mehr als ein deutscher und 966 Euro mehr als ein belgischer Haushalt. Trotz der langjährigen Lieferbeziehungen – und dem vermeintlich guten Gaspreis im Gazprom-Vertrag – zeigt die Datenlage der letzten Jahre, dass österreichische Haushalte mehr bezahlen müssen als viele ihrer europäischen Nachbarn.
Und historisch? Auch da stellt sich das Narrativ vom billigen Russengas als falsch heraus. Wie eine Analyse des NEOS Lab zeigt, war russisches Gas entgegen des Narrativs keinesfalls günstiger als nichtrussisches Gas. Von 2007 bis 2021 wurde russisches Gas zu üblichen Marktpreisen bewertet und war somit in der Regel nicht günstiger als Gas aus anderen Quellen. Im Jahr 2021 ließ die Gazprom die europäischen Gasspeicher, vor allem in Deutschland, absichtlich leeren, um einerseits grünes Licht für Nord Stream 2 zu erhalten und andererseits die Gaspreise in Vorbereitung auf den Einmarsch in die Ukraine weiter in die Höhe zu treiben. Die Analyse der Außenhandelsstatistik durch das NEOS Lab zeigt, dass Russland im Jahr 2023 durchschnittlich um 22 Prozent höhere Preise für sein Gas verrechnet hat als andere Länder. Diese überhöhten Preise sind ein klarer Indikator dafür, dass der vermeintliche Vorteil Österreichs, viel billiges russisches Gas beziehen zu können, in der Realität nicht existiert. Russland nutzt seine marktbeherrschende Stellung gezielt aus, um sich politische und wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Österreich zahlt nicht nur höhere Preise, sondern unterstützt mit dem Gazprom-Vertrag indirekt die geopolitischen Ambitionen Russlands auf Kosten der europäischen Stabilität und Sicherheit. Insgesamt hat Österreich in den Jahren 2022 und 2023 mehr als 11 Milliarden Euro für russisches Gas in Richtung Kreml überwiesen und damit mehr an Putins Kriegstreiberei als an das eigene Bundesheer. Die Zahlen zeichnen in Summe also ein düsteres Bild: Russisches Gas wird weder zuverlässiger geliefert noch ist es billiger als Gas aus anderen Quellen.
Baustelle Unabhängigkeit
Während die meisten EU-Staaten ihre Abhängigkeit von russischem Gas weitestgehend auf null gebracht und ihre Importquellen diversifiziert haben, ist der Anteil von russischem Gas in Österreich nach wie vor sehr hoch. Die entscheidende Frage, die sich Österreich nun stellen muss, ist, wie es angesichts dieser Entwicklungen weitergehen soll. Mit dem drohenden Transitstopp durch die Ukraine Ende 2024 wird die Lage noch kritischer. Will man wirklich weiterhin ein Land finanzieren, das einen Krieg gegen einen souveränen Staat in unmittelbarer Nähe führt, Österreich auf die Liste der „unfreundlichen Staaten“ gesetzt hat und Energiepolitik gezielt als Waffe einsetzt, um Europa zu destabilisieren?
Die nächste Bundesregierung muss viele große Reformen in Angriff nehmen, und eine der dringlichsten Aufgaben ist es, sich energiepolitisch von Russland zu lösen. Die Argumentation heimischer Russlandfreund:innen, die Aufhebung der Sanktionen würde Gas wieder billig machen, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich: Weder ist russisches Gas billig noch ist die Lieferung zuverlässig oder weiterhin erstrebenswert. Es ist nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft, sondern auch der politischen Verantwortung, sich aus den Fängen dieser Abhängigkeit zu befreien. Nur so kann Österreich seine Energiesicherheit nachhaltig gewährleisten und gleichzeitig verhindern, dass man weiterhin Milliarden in ein Regime pumpt, das Krieg führt und unsere Sicherheit gefährdet.