Die ÖVP passt nicht mehr zu ihrer Parteienfamilie
Angesichts der diesjährigen Europawahlen von 6. bis 9. Juni geistert das Schreckgespenst eines gravierenden Rechtsrucks innerhalb des EU-Parlaments umher. Konnte dieser noch bei den letzten Europawahlen 2019 verhindert werden, indem massiv dagegen mobilisiert wurde, so deuten aktuelle repräsentative Umfragen auf eine deutliche Verschiebung nach rechts und weit rechts hin.
Erhebungen des Meinungsforschungsinstituts Ipsos prognostizieren genauso wie die aggregierten Umfragedaten von Politicos Poll of Polls deutliche Zugewinne für die rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen Europas. So würde die Fraktion Identität und Demokratie, zu der u.a. die FPÖ wie auch die AfD gehören, statt wie bisher 59 nun 81 Abgeordnete im EU-Parlament stellen. Die bisher größte Fraktion, die Europäische Volkspartei (EVP), zu deren Mitgliedern u.a. die ÖVP wie auch CDU und CSU zählen, würde demnach nur ein Mandat verlieren – 177 statt wie bisher 178 Parlamentssitze – und damit stärkste Fraktion bleiben. Stimmenverluste würden dagegen die liberale Parteienfamilie, die sozialdemokratische Fraktion und jene der Grünen einheimsen.
Risse im „Cordon Sanitaire“
Den bisherigen liberal-demokratischen Cordon Sanitaire gegen die rechten und antidemokratischen Fraktionen aufrechtzuerhalten, dürfte nach den diesjährigen Wahlen schwieriger werden. Dazu wäre laut den aktuellen Prognosen eine „Große Koalition“ notwendig. Dem widerspricht allerdings die Annäherung des EVP-Vorsitzenden und CSU-Politikers Manfred Weber an Giorgia Melonis Fratelli d’Italia – die wiederum, wie die polnische PiS von Jarosław Kaczyński – der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten angehört. Das hat umgekehrt zum Unmut anderer EVP-Mitglieder geführt, jedoch nicht aller. So zeigt sich allein die ÖVP seit 2022 uneinig über einen derartigen Vorstoß.
Vor dem Hintergrund der anwachsenden Rechten und der zunehmenden Risse in der Front dagegen werden hier die Position der ÖVP wie auch der FPÖ in ihrer jeweiligen Parteifamilie der Europäischen Volkspartei und der Fraktion „Identität und Demokratie“ näher beleuchtet. Unter Heranziehung der Daten von Chapel Hill Expert Survey (CHES) zeigt sich, dass die FPÖ in ihrer europaskeptischen Haltung zwischen 1999 und 2019 konstant bleibt, wohingegen die Europa-Begeisterung der ÖVP im selben Untersuchungszeitraum drastisch abfällt.
ÖVP auf Abwegen in der EVP
Die ÖVP galt vielen bisher als unangefochtene Europapartei, immerhin hatte sie 1994 gemeinsam mit ihrem damaligen Koalitionspartner SPÖ Österreichs EU-Beitritt vorbereitet. Als eine klare Mehrheit der Wahlberechtigten – fast 70 Prozent – auch noch für den Beitritt stimmte, war die Freude innerhalb der ÖVP groß. Aber von dieser proeuropäischen Haltung ist mittlerweile nicht mehr viel übrig.
Jüngstes Beispiel dieses teils befremdlichen ÖVP-Alleingangs ist deren Position beim Parteitag der Europäischen Volkspartei am 6. März in Bukarest. Nicht nur, dass die Österreichische Volkspartei bei ihrem monatelangen Veto gegen den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien bleibt – mit Ausnahmen für den Flugverkehr –, so lehnt sie das EVP-Programm sogar insgesamt ab.
Offiziell stimmte sie beim EVP-Treffen nicht dagegen, sondern enthielt sich der Stimme. Folglich konnte EVP-Fraktionschef Manfred Weber verkünden, dass das EVP-Parteiprogramm einstimmig angenommen wurde, ohne auf die Details einzugehen. Die ÖVP blieb hier auch die einzige Partei, die dem gemeinsamen Parteiprogramm der bürgerlichen und christdemokratischen Parteifamilie nicht zustimmte bzw. sich höflich der Stimme enthielt. Zu fragen bleibt: Wie konnte es so weit kommen?
ÖVP sieht „rote Linien“ bei EVP
Ihre Haltung begründete die ÖVP noch vor dem Parteigipfel damit, dass für sie „zu viele rote Linien überschritten“ seien. Konkret bezog sich der ÖVP-Generalsekretär und zugleich Delegationsleiter Christian Stocker auf die – von Österreich torpedierte – vollständige Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in den Schengen-Raum, den von der ÖVP zutiefst abgelehnten Übergang vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip im Europäischen Parlament und schließlich auf die in Österreich höchst umstrittene Atomenergie. Man denke nur an die Protestkundgebungen anlässlich des Baus des AKW Zwentendorf – mit dem Ergebnis, dass das unter der Regierung Kreisky gebaute Atomkraftwerk seit seiner Fertigstellung nie in Betrieb genommen wurde.
Eine weitere Folgeerscheinung der breiten Bewegung war die Formierung einer damals neuen Partei, der Grünen, die sich anfangs auch europaskeptisch zeigten. Der Verweis von Bundeskanzler Karl Nehammer, dass die Ablehnung von Atomkraft in Österreich lange Tradition habe, bezieht sich somit auf die jüngere Zeitgeschichte. Was neben Österreichs Schengen-Veto ebenfalls höchst unkooperativ erscheint, ist das dezidierte Nein bzw. die Ablehnung von teils notwendigen EU-Reformen – wie die erforderliche Abschaffung des lähmenden Einstimmigkeitsprinzips. Auffällig an diesem Nein ist, dass sich diese Position mit jener der Fraktion Identität und Demokratie überschneidet. Also mit der Parteienfamilie, in der auch FPÖ und AfD zu Hause sind.
Innenpolitik im Europäischen Parlament
Mit nationalen Interessen EU-Politik zu betreiben, das ist eigentlich auch eine Spezialität der FPÖ und ihrer nicht nur europaskeptischen, sondern sogar europafeindlichen Fraktion. Wie die kürzlich erfolgte Brüskierung ihrer eigenen europäischen Fraktion zeigt, betreibt dies nun auch die ÖVP. Das populistisch motivierte Nein zum Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien verdeutlicht das ganz besonders. Hatte noch der frühere Bundeskanzler Sebastian Kurz seine damalige deutsche Amtskollegin Angela Merkel mit etlichen rechtspopulistischen Attitüden irritiert, so scheint Nehammer mit der Fortsetzung dieses populistischen Kurses seine eigentlich verbündeten Parteifreunde ebenfalls vor den Kopf zu stoßen. Schließlich widerspricht der aktuelle ÖVP-Kurs dem gemeinsamen EVP-Kurs.
Dass die ÖVP nach Ablehnung des EVP-Programms zumindest die (wohlgemerkt konkurrenzlose) EVP-Spitzenkandidatin, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützt, dürfte die Situation zwar besser machen, aber nicht gänzlich beruhigen. Schließlich hätte der gemeinsame Parteitag – ähnlich jenem der Sozialdemokraten oder der Liberalen – als Formalakt Einigkeit, nicht Differenz zur Schau tragen sollen. Spannend wird es daher sein, wie die ÖVP heuer von der Chapel Hill Expert Survey (CHES) eingestuft wird. Denn bis 2019 verzeichnen die CHES-Daten bei der ÖVP eine unverkennbare, anwachsende Europaskepsis.
Der Sinneswandel der ÖVP
Um den EU-Sinneswandel der ÖVP nachzuzeichnen, lohnt sich ein Blick in den frei zugänglichen Datenpool dieser Expert:innenbefragung. Bei der Chapel Hill Expert Survey handelt es sich um eine quantitative Erhebungsmethode zu den verschiedenen politischen und ideologischen Positionen der Parteien in den EU-Mitgliedsländern, zuvor teils EU-Kandidatenländern. Anhand von standardisierten Fragebögen haben 1999 über hundert bzw. 2019 mehr als zweihundert internationale Expert:innen die politischen und ideologischen Positionen der Parteien über zwanzig Jahre evaluiert. Auf diese Weise können ideologische Schwenks – wie beispielsweise im Fall der ÖVP – im längeren zeitlichen Verlauf nachgezeichnet werden.
Ersichtlich wird dabei, dass sich die ÖVP genau in der Zeit der großen EU-Euphorie von 1999 bis 2004 glaubwürdig als Europapartei positionierte. „Wir sind Europa“ war der gemeinsame Slogan der SPÖ-ÖVP-Regierung zum EU-Beitritt und darüber hinaus. Der EUphorie tat die Koalition mit der FPÖ und der daraus folgende Eklat mit der EU-Spitze keinen Abbruch. Und das, obwohl kurzzeitig auch gegen Österreich Sanktionen verhängt wurden. Der proeuropäische Sog hielt auch bis zur bisher größten EU-Erweiterung im Jahr 2004 an.
Erste Risse erfuhr das gemeinsame Europa mit der Ablehnung einer gemeinsamen Verfassung im Jahr 2005. Abgesehen davon stand bis zur zweiten Erweiterungswelle 2007 alles im Zeichen von breit akzeptierten EU-Reformen, die das Leben und Arbeiten in Europa erleichtern sollten. Die ÖVP mit glühenden EU-Verfechtern wie dem EU-Parlamentarier und späteren Vizepräsidenten des EU-Parlaments Othmar Karas stand stets an erster Stelle.
Der proeuropäische Kurs von ÖVP und der EVP überstand auch Zeiten der Eurokrise seit der internationalen Finanz- und Währungskrise 2007, verbunden mit dem erforderlichen Euro-Rettungsschirm seit 2012. Zwar büßte die EU mit der Eurokrise und notwendigen Fiskalpolitik vor allem gegenüber Griechenland und Spanien international an ihrer bisherigen Strahlkraft ein. Innerhalb der EVP hielt man europaweit, also mit den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedern, Kurs. Das änderte sich drastisch mit der sogenannten Migrationskrise, die ihren Höhepunkt 2015 erreichte.
Innerhalb der EVP stellte sich die ungarische Fidesz unter Premier Viktor Orbán vehement gegen Merkels Willkommenskultur, was bis zum Austritt der Fidesz 2021 jahrelange EVP-interne Differenzen brachte. Die ÖVP begann seit dem regierungspolitischen Einstieg von Sebastian Kurz zweigleisig zu fahren. Während Karas den bisher üblichen proeuropäischen Kurs fortsetzte, schloss sich Kurz der europaskeptischen Haltung der Visegrád-Länder an, allen voran Viktor Orbán. Als Bundeskanzler widersprach Kurz nicht nur dem Kurs der EVP-Mehrheit und damit seiner Amtskollegin Merkel, sondern seinem Parteikollegen Karas. In der Folge gingen bei den letzten Europawahlen 2019 für die ÖVP zwei prominente Kandidat:innen ins Rennen: Othmar Karas und die von der Partei lautstark unterstützte Karoline Edtstadler, die letztlich die meisten Vorzugsstimmen erhielt.
Zur „österreichischen Leitkultur“
Beim Vergleich der CHES-Daten von 2014 und 2019 zeigt sich, dass seit Kurz’ Kanzlerschaft der proeuropäische Kurs der ÖVP drastisch eingebrochen ist. Unter dessen Nachfolger Karl Nehammer verfestigt sich diese rechtspopulistische Richtung, was ja nicht nur der EVP-Parteitag in Bukarest, sondern auch die vom Zaun gebrochene Diskussion rund um eine „österreichische Leitkultur“ verdeutlicht. So als ob es keine UN-Charta für Menschenrechte und keine bereits gültigen europäischen Rechte und Freiheiten geben würde.
Was populistische Politiker:innen seit Jahren vorgeben – nämlich die besseren Demokrat:innen zu sein, und dabei rechtsstaatliche Prinzipien aushöhlen – scheint Ziel der aktuellen Scheindebatte zu sein, mit rechtspopulistischen Methoden von den eigenen Korruptionsaffären abzulenken und gegen die desaströsen Umfragewerte anzukämpfen. Vergessen wird dabei das seit 2000 gültige EU-Motto „In Vielfalt geeint“. Das bedeutet, sich gemeinsam für Frieden und Wohlstand in Europa einzusetzen, wobei die europäischen Kulturen, Traditionen und Sprachen gleichermaßen anerkannt werden. D.h. die EU ist offen für all jene und „Noch-nicht-Mitglieder“, sofern diese die „Vielfalt als das Eigentliche Europas“ anerkennen.