Europas schlafwandelnde Abhängigkeit
Trotz aller geopolitischer Warnzeichen will sich Europa nicht aus der sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA entziehen. Es fehlt an europäischem Denken.
Als sich das Containerschiff Ever Given im März 2021 im Suezkanal querstellte und diesen wichtigen Seeweg sieben Tage lang blockierte, schrillten in Europa die Alarmglocken. Unternehmen fragten sich, wie lange sie ihre Produktion ohne den just-in-time Ersatzteilnachschub aufrechterhalten könnten, die Finanzmärkte und die Politik, welche Auswirkungen die Blockade auf Inflation und Beschäftigung haben würde. Etwa 10 Milliarden Dollar an Gütern waren von der Kanalschließung betroffen.
Dass diese Fragen erst nach dem Unfall der Ever Given am Radar der europäischen Entscheidungsträger:innen auftauchte, zeugt von mangelnder strategischer Weitsicht in Europa. Immerhin gehen 10 Prozent des Welthandels durch den Suezkanal, der Großteil der Güter kommt aus oder geht nach Europa; immerhin liegt dieser an einer der gefährlichsten Meerengen der Welt, am Bab-al-Mandab, das den Zugang zum Roten Meer im Süden einengt. In unmittelbarer Reichweite von selbst relativ primitiven Raketen zu dieser Meeresstraße liegen gleich mehrere Staaten, die seit langem von geopolitischen Planer:innen als „Failed States“ oder Hochrisikostaaten betrachtet werden: Jemen, Somalia (und die abtrünnige Region Somaliland), sowie Eritrea und nicht weit im Inland die Bürgerkriegsländer Äthiopien und Sudan.
Man hätte sich erwarten dürfen, dass es für eine Blockade des Suezkanals Notfallpläne gibt, um Europas Wirtschaft nicht vollends von einem Navigationsfehler (Ever Given) oder einem Angriff eines Nachbarstaats abhängig werden zu lassen. Nun beschießen die Huthis, eine Gruppe von ehemaligen Rebellen, die mittlerweile aber mit iranischer Hilfe zu einer Armee angewachsen sind, Schiffe im Roten Meer von ihren Basen im Jemen aus. Und wieder hat Europa keinen Plan.
Plan A, B und C: Die U.S. Navy
Der Grund für die Plan- und Ratlosigkeit ist die in die Nachkriegsgenetik Europas eingegangene Abhängigkeit von den USA. Während Europa sich zwar gerne über amerikanische Hegemonie beschwert, hat es sich doch gerne von den USA verteidigen lassen, und seine eigenen Ressourcen der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Aufbau des europäischen Sozialsystems gewidmet.
Es waren die Vereinigten Staaten, die durch ihren Einsatz im Nahen Osten den Zugang der westlichen Welt zum Schmiermittel der modernen Wirtschaft, dem Rohöl, garantierten und bei drohenden Unterbrechungen auch militärisch intervenierten. Auch griffen die USA in den Konflikten im Nahen Osten ein, die eigentlich hauptsächlich Europas Stabilität beeinträchtigten und daher von Europa hätten gelöst werden sollen. Dass Westeuropa sich viel Geld erspart hat, weil die USA es gegen Stalin und dessen sowjetische Nachfolger verteidigt haben, steht ohnehin außer Streit.
Nun aber hat Washington begonnen, sich umzuorientieren. Dabei geht es nicht nur um das bizarre Phänomen Donald Trump. Auch ist das Ende des Kalten Krieges nicht alleine daran schuld, dass die USA sich weg von Europa und in Richtung China ausrichten. Schon seit langer Zeit ist klar, dass die USA aufgrund der langfristigen globalen Wirtschaftsentwicklung eine abnehmende Rolle spielen werden. Schon in der Präsidentschaft von George W. Bush (Sohn) wurde aus einer Zwei-Kriege-Strategie eine Anderthalb-Kriege-Strategie: auf einem Schauplatz gewinnen und auf dem zweiten die Front halten. Der Hauptschauplatz verlagerte sich unter Präsident Barack Obama nach Asien; Europa, die größte Weltwirtschaft, sollte mehr Eigenverantwortung übernehmen.
Drohkulisse Trump II
Allein, Europa wollte nie so recht an die neue Weltordnung glauben. Bis zum Tag der russischen Invasion in der Ukraine – die aufgrund von acht Jahren hybridem Krieg wirklich keine Überraschung war – verließ sich Europa auf die Friedensdividende und rüstete ab statt auf. Wie in Christopher Clarks Analyse des Ersten Weltkriegs, Die Schlafwandler, verschließt sich Europas politische Klasse gegenüber der Realität und macht Innenpolitik auf Kosten der Sicherheit Europas.
Selbst deutliche Verringerungen der US-Truppenkontingente auf europäischem Boden ließen keine Alarmglocken schrillen. Und Donald Trumps Versuche, die USA aus Westeuropa zurückzuziehen, brachten kein merkliches Umdenken.
Als Resultat des kollektiven Schlafwandels hat Europa heute keine Rüstungsindustrie, die den Anforderungen des politischen Ziels, die Ukraine – aus Eigeninteresse gegenüber den imperialen Gelüsten Wladimir Putins – zu verteidigen, gerecht werden könnte. Es kann nicht einmal ausreichend Munition produzieren, von Kampfflugzeugen, Panzern oder Raketen ganz zu schweigen. Sollte Trump im November tatsächlich zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt werden und diesmal dank der Erfahrungen aus der ersten Amtszeit etwas weniger Inkompetenz dabei an den Tag legen, seine Versprechen in tatsächliche Politik umzumünzen, dann könnte Putin sehr schnell an den Grenzen eines vollständig von den USA abhängigen Europa stehen.
Europas neue Rolle
Dabei ist die Beschaffung von Waffen nicht das Problem. Ein gut mit amerikanischen F-35 Kampfflugzeugen, israelisch-amerikanischen Arrow-Raketen und südkoreanischen gepanzerten Kampffahrzeugen ausgerüstetes Europa könnte sich genauso gut verteidigen wie eines mit französischen oder deutschen Waffen. Auch Putin kämpft mit nordkoreanischen Granaten und iranischen Drohnen. Das Problem ist die anhaltende Entscheidungsunfähigkeit in einem Europa, das immer noch innerstaatliche Prioritäten vor das große Ganze stellt.
So streiten sich Frankreich, Deutschland und Spanien um die besten Stücke eines europäischen Kampfflugzeugprojekts FCAS. Auch beim Panzerprojekt MGCS verhindern Verteilungskämpfe zwischen Deutschland und Frankreich jeden merklichen Fortschritt. Bei der gemeinsamen Raketenabwehr schmollt Frankreich, weil es seine eigenen Raketen als Herzstück des Systems sehen will, statt des in Israel kampfgetesteten Produkts Arrow.
Damit zurück zum Suezkanal. Die US-Wirtschaft hängt nur minimal von dieser Transportroute ab. Der Handel der USA geht über den Atlantik, den Pazifik und durch den Panama-Kanal. Dennoch ist es die U.S. Navy, die hauptsächlich mithilfe der Briten Huthi-Angriffe auf Handelsschiffe abwehren und mittlerweile auch gegen Huthi-Raketenabschussbasen vorgehen.
Und Europa? Konnte sich nicht einigen. Zuerst legte Spanien ein Veto gegen einen Marineeinsatz ein. Dann, Mitte Jänner, stimmte Spanien letztendlich zu, stellte aber gleichzeitig klar, dass es nicht teilnehmen würde. Spanien hat also einen Einsatz verhindert, an dem es ohnehin nicht teilnimmt! Auch Österreich hat Ähnliches bei der Mittelmeer-Marineaktion Sophia getan, als sich die Bundesregierung mit einer harten Linie bei der Migration profilieren wollte, indem sie ein Veto gegen eine Mission einlegte, die mit Österreich direkt eigentlich nichts zu tun hatte.
Nun aber ist der Weg frei für eine EU-Marinemission ins Rote Meer. Es müssen nur noch die Modalitäten ausgehandelt werden, und dann die Staats- und Regierungschef:innen ihr Placet geben. Der Termin dafür ist – falls nicht einem doch noch ein Kuhhandel im Gegenzug für ein Ja-Votum einfällt, der dann alles verzögert – der 22. Februar. Die gute Nachricht: Es handelt sich um den 22. Februar dieses Jahres.
Europa muss handlungsfähiger werden
Es ist Krieg. Und die Staatschefinnen und -chefs verhandeln, kuhhandeln, verzögern. Containerschiffe brauchen acht bis zehn Tage länger und verursachen gewaltige Mehrkosten für jede Fahrt, die nicht durch den Suezkanal führen kann.
Europa braucht eine institutionelle Reform. Zumindest in Themenbereichen, in denen Zeit essenziell ist – wie etwa Krieg – braucht es eine zentrale Kommandostelle und ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips. Die Debatte über die NATO ist hier völlig fehlgeleitet. Eine vollständige Verteidigung Europas ist ohne eine zentrale, von der EU gesteuerte, atomare Fähigkeit unvorstellbar. Aber solange Europa nicht einmal seine ureigensten Interessen in der Peripherie gegen eine kleine Gruppe von jemenitischen Rebellen durchsetzen kann, muss auch niemand in Europa einmarschieren, um es zu kontrollieren.
Der strategische Kompass der Europäischen Union ist auf die Wahrung dieser Interessen ausgelegt. Für diese Missionen hat Europa sogar die Waffen. Allein es fehlt der Wille.