Geheimbünde: Sind wir Bilderberger oder Illuminati?
Verschwörungstheorien können unterschiedlichste Ereignisse oder Gruppen umfassen. Über die Verflechtung von Verschwörungstheorien und historischen Geschehnissen wird in „9/11 oder wie ich lernte, ab welcher Temperatur Stahlträger schmelzen (angeblich)“ erläutert. Doch eine weitere große Gruppe an Verschwörungstheorien sollte auch noch gesondert analysiert werden – Theorien über sinistre Gruppen, die entweder hinter den Kulissen das Weltgeschehen steuern, oder Gruppen, die für solche Beeinflussungen verwendet werden. Diese Gruppe an Verschwörungstheorien ist diffuser und vor allem fast immer mit den anderen großen Legenden verknüpft: wer etwa hinter der Ermordung von John F. Kennedy stand, oder wer das Coronavirus entwickelte.
Spoiler: Bilderberger, Echsenmenschen, Illuminati oder Jüd:innen.
Verschwörungstheorien, die Jüd:innen als die Mächtigen im Hintergrund darstellen, haben wir im Text „Das Judentum: Von der Schuld an der Kreuzigung bis zu Weltraumlasern“ innerhalb dieser Materie gesondert behandelt, weil keine andere Gruppe so massiv unter dem Hass und dem Misstrauen gelitten hat, die durch diese Legenden verursacht wurden. Abseits von ihnen werden gerne Geheimbünde, mächtige Zirkel im Hintergrund, heraufbeschworen. Diese müssen nicht einmal Menschen sein – aber mehr davon später im Text. Zuerst soll einmal definiert werden, warum es diese Art von Verschwörungstheorien gibt.
Bilderberger oder Illuminati sind nur zwei der sehr beliebten Geheimbünde, die Verschwörungstheorien zufolge angeblich die Geschichte prägen. Das Prinzip dahinter ist aber meist dasselbe: Im Nachhinein werden wichtige historische Augenblicke miteinander verknüpft, komplexe Entwicklungen, die zu diesen Momenten geführt haben, ignoriert, ersetzt durch die angeblichen Pläne jener, die im Dunkeln agieren. Es klingt spannend, es lädt tragische Momente mit einem „Sinn“ auf, der fast tröstlich sein kann. Todesfälle bei Anschlägen, Pandemien oder Kriege werden zu Opfern von diabolischen Gruppen, ihrem Tod kommt eine – wenn auch dunkle – Bedeutung im ewigen Kampf gegen diese Geheimbünde zu, wie Tom Phillips und Jonn Elledge in ihrem Werk „Conspiracy. A History of Bollocks Theories, and How Not to Fall For Them“ beschreiben.
The Grand Bilderberg Hotel
Wer Verschwörungstheorien vertritt, ortet gerne sinistre Machtzirkel, wenn es internationale Treffen gibt: G7 etwa, oder vor allem die Bilderberg-Konferenzen. Da bei diesen Treffen nichts von den Gesprächsinhalten nach außen drängt, lässt sich um sie herum hervorragend darüber spekulieren, was besprochen worden sein könnte. „Verschwörungen werden ja schon vermutet, wenn […] sich drei Leute auf dem Flur unterhalten und absolut nicht sagen wollen, worum es ging“, betont Thomas Grüter, der Bücher über Verschwörungstheorien geschrieben hat.
Wenn sich nun aber sogar hochkarätige Wirtschaftsführer:innen und Politiker:innen treffen und hinterher keine Statements abgeben, ist das ein Fest für alle, die böse Geheimnisse hinter jeder Ecke vermuten. Neben der „Entscheidung“ über neue Staatenlenker:innen geht es dann wahlweise auch um die jüdische Weltverschwörung, eine Verschwörung der Konzerne oder auch einfach der internationalen Eliten. Bilderberg reize die Fantasie vieler Leute, so Grüter.
Rund um ein Bilderberg-Treffen im Juni 2015 in Tirol tauchte das Gerücht in einschlägigen Foren auf, dass bei diesem Zusammentreffen die neue Regierungschefin Deutschlands beschlossen werden sollte: die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Was die tatsächliche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu dieser angeblichen Personalrochade gesagt hat, ist leider nicht bekannt. Aber die Prognosen haben sich nicht bewahrheitet: Merkel blieb bis 2021 Kanzlerin, von der Leyen wurde 2019 vom Europäischen Parlament zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt. Wie viele Bilderberger bei der Abstimmung dabei waren, ist nicht bekannt.
Die Anfänge der Bilderberg-Konferenzen hatten ähnliche Beweggründe wie die Vorläuferin der EU, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. 1954 initiierte Prinz Bernhard der Niederlande das erste Treffen von Regierungschefs und weiterer Führungspersonen im Hotel Bilderberg im Niederländischen Oosterbeek. Er wollte damit die langsam wieder entstehenden Spannungen zwischen den europäischen Mächten und zwischen Europa und den USA in einer entspannten Konferenz abbauen, abseits offizieller Gipfel. Prinz Bernhard war davon überzeugt, dass die „westliche Welt mehr miteinander reden und nicht so sehr aufeinander schießen sollte“. Man wollte sich einmal im Jahr treffen, um miteinander zu sprechen, ohne die ganze Zeit offizielle Standpunkte wiederholen zu müssen, sondern mit der Möglichkeit, „auch mal ins Unreine zu formulieren“, so Grüter.
Genau diese Absenz von Medien schafft aber auch ein Nachrichtenvakuum, das mit Verschwörungstheorien aufgefüllt werden kann. So wurde über die Jahrzehnte aus dem regelmäßigen Austausch im Hotel Bilderberg mit dem Ziel der besseren Zusammenarbeit der Staaten eine sinistre Kabale der Eliten. Wo es keine oder zu wenig greifbare Informationen gibt, florieren Verschwörungsfantasien. Vor allem wenn die Gruppe, um die es sich handelt, gar nicht mehr aktiv ist – diesem Schicksal sind die Illuminati des 18. Jahrhunderts anheim gefallen.
Illuminati: Die beste PR-Strategie der Geschichte
Nicht viele kennen den Bund der Perfektibilisten – eine Gruppe von progressiven Denker:innen rund um den Professor für Kirchenrecht und praktische Philosophie an der Universität Ingolstadt, Adam Weishaupt. Der Name leitet sich vom lateinischen Begriff für „Vollkommenheit“ ab. Dieser Verein Gleichgesinnter, der 1776 gegründet wurde, sollte die Ideale der Aufklärung in die verkrusteten Ebenen der Verwaltung und Politik des Kurfürstentums Bayern bringen – ein „Marsch durch die Institutionen“ lange vor Rudi Dutschke und der westdeutschen Studierendenbewegung ab 1969. Den Bund gab es rund zehn Jahre, bevor er sich durch interne Spannungen und ein zu rasches Wachstum selbst in die Luft sprengte.
Kaum jemand würde heute überhaupt von dieser gut gemeinten Vereinigung wissen, hätte sie in den zehn Jahren ihres Bestehens nicht einen der besten Rebrandings der Geschichte unternommen. 1780 trat Adolph Freiherr von Knigge – ja, der Knigge – den Perfektibilisten bei und wurde neben Weishaupt zur wichtigsten Figur in der Gruppe. Er lieferte auch den Anstoß für den neuen Namen: Aus den Vollkommenen wurden die Erleuchteten, der Bund der Illuminati. Fundamentale Unterschiede zwischen den zwei Führungspersonen in der Gruppe führten aber immer mehr zu Spannungen: 1786, so schreiben Phillips und Elledge, wurden von einer unbekannten Person interne Schreiben veröffentlicht, woraufhin das Kurfürstentum und benachbarte Gebiete die Gruppe verboten. Deren progressive Haltung gegenüber Religion, Freiheitsrechten und Fortschritt war den konservativen Machthabern:innen zu gefährlich. Doch bereits vor dem Inkrafttreten des Verbots in Bayern waren die Illuminati nicht mehr aktiv, bei den letzten paar Treffen gab es nur mehr eine Handvoll Teilnehmer:innen, wie Weishaupt in seinem Tagebuch vermerkte.
Doch dann wurde in Paris die Bastille gestürmt. 1789 brach die Französische Revolution aus, die das Königreich stürzte und Panik in den mehrheitlich konservativen Monarchien Europas verbreitete. Bereits 1791 wurde der Verdacht geäußert, dass der progressive Geheimbund der Illuminati – genauso wie Freimaurer – für den Sturz des Ancien Régime verantwortlich war, nicht die Verbreitung der Ideale der Aufklärung, die Missernte des Vorjahres und das schlechte Krisenmanagement König Ludwigs XVI. Der französische ehemalige Jesuit Augustin Barruel und der schottische Gelehrte John Robison verbreiteten diese These in ihren Werken über die Ursachen der Französischen Revolution. Eine Legende, die in der deutschsprachigen Welt vor allem von dem reaktionären Magazin Eudämonia verbreitet wurde. Im Vormärz und Biedermeier wurde das Schreckgespenst der Illuminati weiter als Vorwand für massive Zensur und den Polizeistaat genutzt: Die liberalen Revolutionen von 1848 wurden ebenso wie die Französische Revolution zu einem Umsturzversuch dieses Geheimbundes, der zu diesem Zeitpunkt schon fast 50 Jahre nicht mehr existierte.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die Illuminati mit dem Aufkommen des Nationalismus mit der „jüdischen Weltverschwörung“ vermischt. Im Nachhinein wurde die Gründung der Perfektibilisten zu einer Verschwörung von Jüd:innen, die in Anhänger:innen der Aufklärung willfährige Gesinnungsgenoss:innen fanden, um die Macht zu ergreifen. Diese Erzählung wurde vom Faschismus, aber auch vom Kommunismus in Ablehnung liberaler Ansichten im 20. Jahrhundert aufgenommen und verbreitet. Die englische Faschistin Nesta Webster konstruierte in den 1920er Jahren die fortan weit verbreitete Theorie, dass Jüd:innen hinter den angeblichen Komplotten der Illuminati stecken würden. Damit versuchte sie die Oktoberrevolution in Russland, die Radikalisierung der Arbeiter:innenbewegung auch in den westlichen Ländern und die Entstehung supranationaler Organisationen wie des Völkerbunds zu erklären. Webster und ihre Nachfolger:innen stützten sich dabei auf die erfundenen „Protokolle der Weisen von Zion“, in denen die Freimaurer und Illuminati als Deckorganisation einer jüdischen Weltverschwörung imaginiert wurden.
Rechte und rechtsextremistische Gruppen und Personen verbreiten bis heute weiterhin Verschwörungsthesen über die Illuminati und weben die Geschichte weiter. Corona, 9/11 und die Bankenkrise 2008 sollen ihnen zufolge alles „Angriffe“ der Illuminati sein.
Das Grande Finale – die Neue Weltordnung
Egal welches Bündnis im Hintergrund die Strippen zieht: In Verschwörungstheorien der höchsten Stufe, in denen alles hinterfragt wird, läuft alles auf Machtergreifung und totale Kontrolle hinaus. Oft werden verschiedene Hierarchien oder Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Akteuren konstruiert – etwa dass das Judentum die Illuminati erfunden hat, während es selbst Befehle von Außerirdischen oder Echsenmenschen empfängt. Das Ziel ist immer dasselbe:
„The goal is the breakdown of national sovereignty via economics. In the end, unless all of it will be stopped, the ,new world order‘ will emerge and freedom will be a mere memory.“
So beschrieb John McManus, Vorsitzender der rechtsextremen Verschwörungstheorien-Vereinigung John Birch Society, 1995 das „Ziel“ der globalen Elite. Die Regierungen der Welt, gesteuert von Geheimbünden und reichen Personen wie George Soros oder Bill Gates, würden gemeinsam auf eine autoritäre, supranationale Weltregierung hinarbeiten. Diese Idee der Neuen Weltordnung oder New World Order zusammen mit der Idee des „Great Replacement“ wurde vor allem in den 1990ern in den USA beliebt. Nach dem Ende des Kalten Kriegs entwickelten vor allem rechte, regierungskritische Gruppen in den USA die immer größer werdende Angst, dass nach dem Ringen mit einem konkurrierenden Gesellschaftsmodell der Staat nun vermehrt nach innen kontrollieren würde. Die Angst vor einem regionalen Umsturz durch Freimaurer etc. wurde aufgeblasen zu einer weltweiten Kabale der Eliten, die gemeinsam herrschen wollen. Seitdem werden alle Konflikte und Krisen in dieses Narrativ verwoben: Jedes Attentat, jedes Bilderberg- oder G7-Treffen ist ein Beweis für die voranschreitende Verschwörung.
Es gibt keine belastbaren wissenschaftlichen Studien darüber, wie verbreitet der Glaube an solche massiven Verschwörungstheorien ist. Die Sozialforschung läuft gegen Wände, wenn die Befragten hinter jeder Frage Spionage der Illuminati vermuten. Doch der Einfluss dieser Theorien ist feststellbar. Wie in „Das Judentum: Von der Schuld an der Kreuzigung bis zu Weltraumlasern“ erwähnt, führte die Pizzagate-Verschwörung zu einer Schießerei in Washington DC, die QAnon-Fantasie trug nach der US-Präsidentschaftswahl 2020 zur Erstürmung des Kapitols bei. Die Attentäter von Oslo, Christchurch und Halle (Saale) verwiesen alle auf die Great-Replacement-Theorie. Die „Reichsbürger“ in Deutschland und Österreich verstehen sich ebenso als Gegenbewegung zur Neuen Weltordnung – im Dezember 2022 wurden bei Razzien in beiden Ländern insgesamt 25 Mitglieder verhaftet und Waffen gefunden. Die Gruppe hatte die Erstürmung des deutschen Bundestags geplant.
Verschwörungstheorien können amüsant, enervierend oder gefährlich sein. Was mit Zweifeln an der Harmlosigkeit von 5G beginnt, kann in der Leugnung des Coronavirus enden. Muss es aber nicht. Vor allem dort, wo es keine Informationen über Geschehnisse gibt, können solche Ideen wuchern. In einer aufgeklärten Gesellschaft muss man mit solchen Theorien leben – doch wir müssen uns auch der Verantwortung bewusst sein, dass wir solche Ansätze nicht durch Spott oder Wegschauen eliminieren können, wenn Familienmitglieder oder Freund:innen hineingezogen werden. Verständnis und ehrliche Auseinandersetzung sind in der frühen Phase des Interesses an diesen Theorien ein Weg, ein tieferes Einsinken in diese Parallelwelt zu verhindern. Auch das Bildungssystem kann hier mit mehr Fokus auf kritisches Denken einen Beitrag leisten. Das mag mehr Aufwand sein, ist aber langfristig der bessere Weg für alle.