Ein kritischer Blick auf die Pflegereform
Die größte Pflegereform seit Jahrzehnten – so nennt die Regierung die Reform 2022. 20 Maßnahmen werden auf der Website des Ministeriums vorgestellt. Doch was bedeuten die ersten Änderungen der Pflegereform?
Hört man sich die Reden der Klubobleute der Regierungsparteien aus der Nationalratssitzung vom 7. Juli 2022 an, könnte man glauben, dass unzählige Maßnahmen zur Verbesserung der Pflege in Österreich gesetzt wurden. Neue Ausbildungsformen, neue Gehaltszahlungen, neue Regeln für Pflegegeld und, und, und. So weit der Plan. Die Frage ist nur, wie viel davon tatsächlich umgesetzt werden kann und noch wichtiger: wie viel davon einen nachhaltigen Einfluss auf die Pflege haben wird.
Viele Punkte, kleine Rädchen
Am Tag der Pflege, dem 12. Mai, haben die Klubobleute Sigrid Maurer (Grüne) und August Wöginger (ÖVP) gemeinsam mit dem Gesundheitsminister die lange überfällige Pflegereform angekündigt. Seit der letzten großen Novelle des Gesundheits- und Krankenpflege Gesetzes (GuKG) 2015 wurden viele Änderungen im Arbeitsalltag von Pflegekräften diskutiert und gefordert, die Covid-Pandemie hat einen lange überfälligen Fokus auf die Pflege gelegt. Schon vor Jahren wurde immer wieder auf die schwierigen Arbeitsbedingungen hingewiesen, mittlerweile weicht der Alltag in Krankenhäusern und Pflegeheimen immer wieder von den gesetzlichen Rahmenbedingungen ab. Zu strikt sind die Begrenzungen des Gesetzes, zu oft geben Ärzte nur Anweisungen, und die offiziellen Arbeitsweisungen erfolgen erst im Nachhinein schriftlich. Auch auf die schwierigen Arbeitsbedingungen und den Personalmangel wurde hingewiesen, jeden Winter zeigte sich der Personalmangel erneut an der Notwendigkeit von Gangbetten.
20 Maßnahmen sollen nunmehr Abhilfe schaffen und zwar in drei verschiedenen Kategorien: Ausbildung, Arbeitsbedingungen und Maßnahmen für Betroffene und Angehörige.
Ausbildung
1. Ausbildungsfonds
2. Pflegestipendium
3. Entfristung Pflegeassistenz
4. Kompetenzerweiterungen
5. Lehre für Assistenzberufe in der Pflege
6. Überführung der Schulversuche zu Pflegeassistenz/ Pflegefachassistenz ins Regelschulwesen
7. Erleichterungen bei Nostrifikation
8. Durchlässigkeit erhöhen
Arbeitsbedingungen
9. Bundeszuschlag für Beschäftigte
10. Entlastungswoche Pflege
11. Nachtschwerarbeit
12. Erleichterungen für ausländische Pflegekräfte
Betroffene und Angehörige in der Pflege
13. Pflegekarenzgeld
14. Zuwendungen für die Ersatzpflege
15. Pflegekurse für pflegende Angehörige
16. Ausweitung des Angehörigengesprächs
17. Entfall der Anrechnung der erhöhten Familienbeihilfe auf das Pflegegeld
18. Erschwerniszuschlag
19. Angehörigenbonus
20. Förderung der 24-Stunden-Betreuung
Grundsätzlich kann man alleine an dieser Liste schon ohne eine inhaltliche Bewertung der Maßnahmen die Prioritäten der Regierung erkennen. Acht Punkte zur Attraktivierung der Ausbildung, die mehr Menschen dazu bringen sollen, einen Pflegeberuf zu ergreifen. Acht Punkte zur Erleichterung für Betroffene und Angehörige in der Pflege, um Angehörige und Betroffene zu entlasten. Und vier Punkte, die den Arbeitsalltag erleichtern sollen. Ebendort liegt für viele in der Pflege aber das Problem – der tatsächliche Arbeitsalltag spielt kaum eine Rolle in dieser Reform.
Maßnahmen zu den Arbeitsbedingungen
Den kleinsten Teil der Reform machen die Änderungen der Arbeitsbedingungen aus. Betrachtet man die Maßnahmen im Detail, sieht man nämlich: Sie ändern die Arbeitsbedingungen nicht. Der Bundeszuschlag für Beschäftigte wurde mit einem eigenen neuen Gesetz, dem Entgelterhöhungs-Zweckzuschussgesetz, beschlossen. Dieses sieht vor, dass innerhalb von zwei Jahren jeweils 285 Millionen Euro ausgegeben werden, um Pflegenden und Sozialbetreuer:innen einen Zuschuss in Höhe eines Gehalts auszuzahlen. Gesundheits- (und damit auch Pflege-)Minister Johannes Rauch ist fest überzeugt, dass sich nach diesen zwei Jahren niemand trauen wird, diese Gehaltserhöhung wieder zurückzunehmen. Sie soll ein zusätzliches Gehalt pro Jahr werden und einen Ausgleich zwischen verschiedenen Pflegeberufen darstellen. Gleichzeitig muss dieser Zuschuss in die Kollektivverträge verhandelt werden – und wie die Abwicklung aussehen soll, ist bis dato unklar. Klar ist, dass die Länder die Mittel abrufen müssen. Diese werden in Folge auf Basis der Einwohnerschlüssel – nicht der Anzahl von Pflegenden – zwischen den Ländern verteilt. Rufen die Länder die Mittel nicht ab, bekommt niemand das zusätzliche Gehalt.
Damit ist nicht gewährleistet, dass es sich um eine nachhaltige Maßnahme handelt. Denn eine derartige Regelung kann in den Finanzausgleich verhandelt werden, doch damit wäre nur für die Angestellten in Landeseinrichtungen – also vielen Krankenhäusern und Altenheimen – eine weitere Auszahlung gesichert. Pflegekräfte bei anderen Anbietern, z. B. bei der Caritas, Diakonie oder privaten Einrichtungen, hätten keine weitere Abdeckung dieser Zuschüsse durch den Bund. Es ist also anzunehmen, dass die Arbeitgeber diese nicht finanzieren können. Zumindest dieses Gesetz wird deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach keine langfristigen Folgen haben, und der Arbeitsalltag oder die täglichen Rechnungen werden durch Zusatzzahlungen ohnehin nicht leichter bewältigbar.
Die weiteren Maßnahmen sind eine weitere Urlaubswoche für alle Pflegekräfte ab dem Alter von 42 Jahren sowie geänderte Anrechnungen bei der Nachtschwerarbeit – zwei Maßnahmen, die theoretisch in den Gestaltungsbereich von Kollektivverträgen fallen und damit in den Aufgabenbereich der Sozialpartner und Arbeitgeber. Dass diese nun gesetzlich geregelt und erst recht über die Kollektivverträge abgewickelt werden sollen, konterkariert das System der Kollektivvertäge.
Auch wenn es intuitiv merkwürdig klingt: Nur wenige Pflegekräfte sind von der praktischen Umsetzung sonderlich begeistert. Das Problem ist nämlich die Frage, wie Diensträder für zusätzliche Urlaube besetzt werden sollen, wenn es ohnehin einen massiven Personalmangel gibt. Mehr Urlaub an sich klingt gut – aber nachdem viele Pflegekräfte schon jetzt manchmal ihren Urlaub nicht konsumieren können, wird sich die Frage stellen, inwieweit diese zusätzliche Urlaubswoche genutzt werden kann. Und für ihre Kolleg:innen wartet ein umso größeres Pensum an Mehrarbeit.
Die letzte Maßnahme, die die Regierungsparteien als Erleichterung der Arbeitsbedingungen zählt, ist eine Erleichterung für ausländische Pflegekräfte, etwa bei der Ausstellung einer Rot-Weiß-Rot-Karte und damit eines Arbeitsvisums. Das kann hoffentlich den Personalmangel etwas beheben, die Frage ist allerdings, wie nachhaltig das System dadurch verbessert werden kann. Da auch dazu aber noch die Umsetzungen fehlen beziehungsweise diese in die Zuständigkeit anderer Ressorts fällt, kann von diesen Maßnahmen nur eine als erledigt befunden werden.
Änderungen in der Ausbildung
In der Ausbildung gibt es mehrere Maßnahmen, allerdings sind auch diese teilweise „nur“ kleine Rädchen. Ein zusätzlicher Ausbildungsfonds wird ähnlich zu dem Entgelterhöhungs-Zweckzuschuss für drei Jahre eingerichtet. Damit sollen Pflegeanfänger:innen in der Ausbildung pro Monat 600 Euro erhalten. Auch hier wurde einfach eine Summe festgelegt – für wie viele Personen und welchen Zeitraum die vorgesehene Summe von 225 Millionen Euro ausreichen wird oder soll, wurde allerdings nicht berechnet. Für Berufsumsteiger:innen soll das AMS eigene Stipendien einrichten, auch die Berufsanerkennung von ausländischen Pflegekräften soll erleichtert werden. Zusätzlich sollen bisherige Schulversuche, die eine Pflegeausbildung beinhalten, ins Regelschulwesen überführt werden – unklar ist aber, welche der vielen Schulversuche damit gemeint sind.
Abseits der Pflege im Schulwesen soll eine eigene Lehre für die Pflegeassistenz und die Pflegefachassistenz eingeführt werden. Eine umstrittene Maßnahme, da es international keinerlei Anhaltspunkte für den Erfolg des Modells Pflegelehre gibt. Die Pflegeassistenz, für die damit eine Lehre geschaffen wird, wurde 2015 provisorisch als Mittel gegen den Pflegemangel eingeführt. Durch die kürzere Ausbildungszeit hoffte man auf mehr Personal, 2024 sollte das Berufsbild evaluiert werden. Nunmehr fällt die Frist für die Pflegeassistenz, die Änderungen von 2015 bleiben bestehen.
Im Gegenzug erhalten Pflegeassistent:innen und Pflegefachassistent:innen zusätzliche Kompetenzen beim Verabreichen von Infusionen. Die Kompetenzerweiterungen sind allerdings nur geringfügig, in der Praxis kommt es ohnehin oft vor, dass Pflegefachassistent:innen auch selbstständig Infusionen tauschen. Zu guter Letzt soll auch die Durchlässigkeit bei Pflegeberufen erhöht werden, allerdings gibt es auch für diese Maßnahme noch keinen Umsetzungsplan.
Mit den ersten Änderungen im GuKG wurden bereits vier dieser acht dieser Maßnahmen umgesetzt, darunter die Entfristung und die „Kompetenzerweiterung“, das Pflegeausbildungs-Zweckzuschussgesetz wurde im Juli 2022 beschlossen, und die Erleichterungen der Berufsanerkennung wurden bereits in der Nationalratssitzung im Mai beschlossen.
Reform für Betroffene und Angehörige
Die größten Würfe gab es in den Änderungen für Betroffene und Angehörige, also im Bundespflegegeldgesetz. Mit einem einstimmigen Beschluss wurde der Rechtsanspruch auf das Pflegekarenzgeld erhöht, dieses kann jetzt für drei Monate beansprucht werden. Zusätzlich gibt es finanzielle Unterstützung für Pflegekurse für pflegende Angehörige, um auch deren Pflegeniveau zu heben und so die Pflege durch Angehörige qualitativ zu verbessern.
Außerdem werden die erhöhte Familienbeihilfe und Pflegegeld in Zukunft nicht mehr angerechnet – in der Praxis handelt es sich aber nur um eine Verwaltungsumstellung. So erhalten Eltern von einem Kind mit Behinderung sowohl Pflegegeld als auch erhöhte Familienbeihilfe. Bis vor kurzem wurden diese aber gegenseitig angerechnet, weshalb es nicht zu vollen Auszahlung kam. Auch für Menschen mit einer psychischen Behinderung oder Demenz gibt es in Zukunft einen Erschwerniszuschlag, wodurch pro Monat mehr Stunden für Betreuungsleistungen zur Verfügung stehen werden.
Bei der Pflegereform für Betroffene wurden also bereits fünf von acht Maßnahmen umgesetzt, und das mit einer einzigen Gesetzesänderung. Die Bedingungen des Pflegegeldes für Bezieher:innen zu erleichtern, bringt für die Gepflegten (finanzielle) Erleichterungen, allerdings ändert sich dadurch nichts an den Arbeitsbedingungen. Stattdessen verweisen viele dieser Änderungen wieder auf die Notwendigkeit, dass Angehörige als Pflegende tätig sind. Für diese hätte der Angehörigenbonus die größte Erleichterung darstellen sollen, allerdings wurde dieser wieder aus der Gesetzesvorlage gestrichen. Zu groß war der öffentliche Protest, weil zu viele Personen nicht berücksichtigt wurden. Auch Lösungen für die Angehörigengespräche und Änderungen bei der 24-Stunden-Betreuung liegen noch keine vor – bei diesen Punkten gibt es auch noch keine Informationen, wie sie ausgestaltet werden sollen.
Übersehenes Personal
In Summe kann nach rund zwei Monaten gesagt werden, dass bereits die Hälfte der angekündigten Maßnahmen umgesetzt wurde. Eine überraschend hohe Anzahl, die allerdings kaum zur tatsächlichen Lösung des Pflegemangels beitragen wird. Zu geringfügig sind die Auswirkungen auf den Arbeitsalltag von Pflegekräften, zu wenig wurde auf Kompetenzverteilungen geachtet.
Die Erleichterungen bei der Berufsanerkennung für ausländische Pflegekräfte können allerdings wohl kaum als Teile einer weitreichenden Reform gesehen werden – immerhin stehen Pflegeberufe seit Jahren auf den Mangellisten für einen leichteren Zugang zur Rot-Weiß-Rot-Karte. Darüber hinaus hat sich der Personalmangel in der Pflege auch auf den Ausbildungsbereich ausgeweitet: Selbst wenn ausreichend viele Menschen in die Pflege wechseln wollten, könnte nicht genügend Pflegepersonal ausgebildet werden. Eben auch, weil die Arbeitsbedingungen nicht passen.
Ausbildungsanreize alleine sind kein Allheilmittel, wenn Pflegekräfte dann gerade einmal fünf Jahre in der Pflege tätig sind. Nachhaltige Reformen werden daher unumgänglich sein – egal, mit wie vielen Superlativen die Änderungen des Jahres 2022 beschrieben werden.