Russland: Das Ende einer militärischen Großmacht
Im Februar 2023 jährt sich der Beginn des Überfalls von Russland auf die Ukraine. Es ist ein Krieg, der enormes Leid und Tod gebracht und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat.
Dieser Krieg geschieht nicht in einem internationalen Vakuum, sondern hat neben den persönlichen Folgen auch weltpolitische – vor allem, was das Ansehen und die Einschätzung über Macht und Einflussstärke Russlands angeht. Der Russische Bär scheint keine Krallen zu haben. Die Folgen für das weltweite Machtgefüge sind noch gar nicht absehbar.
Während in den ersten Wochen des Krieges die militärische Übermacht Russlands mit dem Angriff direkt auf Kyiv und raschen Geländegewinnen im Osten der Ukraine groß wirkte, waren Militärbeobachter:innen bald von der schlechten Führung und unflexiblen Strategie Russlands überrascht. Die Armee würde weit unter ihren Möglichkeiten kämpfen, war bald die überwiegende Einschätzung – ein Bild, das bis heute besteht.
Allein anhand der Übermacht an Truppen und schwerem Material wurde erwartet, dass Russland den Widerstand der Ukraine rasch brechen würde. Doch fast ein Jahr nach dem Kriegsausbruch ist klar, dass sich Russland verspekuliert hat – nicht nur militärisch, sondern auch außenpolitisch. Denn der Ruf als militärische Großmacht ist wohl Geschichte.
Eine kurze Geschichte der globalen Sicherheitsbalance
Der Historiker Eric Hobsbawn beschreibt in einem seinem Standardwerke „Das lange 19. Jahrhundert“ die multipolare Sicherheitsarchitektur der damals dominierenden Großmächte als fragile Balance, die auch von einem groben militärischen Gleichgewicht stabilisiert wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion auch als „Gleichgewicht des Schreckens“ bezeichnet. Beide Beispiele beruhten darauf, dass die jeweiligen Konkurrenten die militärische Stärke des jeweils anderen als mehr oder weniger ebenbürtig der eigenen Macht einschätzten und daher vor einem Angriff zurückschreckten.
Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach das Zeitalter der „neuen Unübersichtlichkeit“ an, wie es der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas beschrieb. Er meinte damit das Ende der „stabilen“ Ordnung durch den Kalten Krieg, der zwar jederzeit heiß hätte werden können, aber die globalen Dynamiken trotzdem auch klar einteilbar machte. Mit nur einer verbliebenen Weltmacht, einem kleineren Russland und aufkommenden Regionalmächten würde die globale Ordnung volatiler und eben unübersichtlicher werden. Aufsteigen würden jene Staaten, die sowohl wirtschaftlich als auch militärisch reüssierten. Interessenkonflikte zwischen diesen neuen aufsteigenden Mächten würden nicht mehr dem großen Konflikt zwischen den zwei Weltmächten unterworfen werden.
Die beiden historischen Beispiele und die Gedanken von Habermas betonen, dass Staaten, die zumindest als militärisch stark eingeschätzt werden, auch mehr Einfluss auf der Weltbühne genießen. Und hier kommen wir zurück zum aktuellen Krieg in der Ukraine – und der Demaskierung des Trugbilds der militärischen Großmacht Russland.
Putins neue Kleider auf der Weltbühne
Russland, als Nachfolger der Sowjetunion, konnte nach der Wende auf einen großen Teil der ehemaligen sowjetischen Armee zurückgreifen und tat es. Unter Wladimir Putin wurden durch Kriege in Tschetschenien, in Georgien und durch die Okkupation der Krim militärische Erfolge erzielt, die auch internationalen Beobachtern deutlich machen sollten, dass Russland zumindest militärisch immer noch eine Großmacht war. Zusammen mit kluger Diplomatie, Einflussnahme in einzelnen Ländern des Westens und Kooperation mit Ländern des globalen Südens wurde auch auf Soft Power gesetzt. Das alles ging recht gut – bis zum Februar 2022.
Neben der Verteidigung ihrer Heimat können die Ukrainer:innen nämlich auch die Entzauberung des Despoten Putin und Russlands auf der Weltbühne für sich beanspruchen. Das so lange aufrechterhaltene Bild der militärischen Macht überlebte nicht länger als die Offensive der Russ:innen im Schlamm der im Frühling auftauenden Ebenen der Ostukraine.
Und das hat schon jetzt schon Machtverschiebungen auf der Weltbühne verursacht. Der starke Mann im Kreml scheint isoliert zu sein, selbst China bemüht sich inzwischen um Neutralität im Konflikt. Am Anfang des Krieges positionierte sich die zweite aufstrebende Großmacht Indien als neutral, hat sich inzwischen aber der Seite der Ukraine angenähert. Am 26. Dezember 2022 telefonierten die Präsidenten der Ukraine und Indiens, Wolodymyr Selenskyj und Narendra Modi, miteinander. Gleichzeitig kann Russland den massiv reduzierten Gas- und Ölexport nach Europa mangels Infrastruktur nicht einfach kompensieren – die russische Wirtschaft leidet massiv.
Es ist zu erwarten, dass Russland weiter Einfluss und Soft Power auf der Weltbühne verlieren wird. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hätte eine Machtdemonstration Putins sein sollen, ein rascher Sieg einer militärischen Großmacht. Doch was geschehen ist und immer noch geschieht, ist die Demaskierung des Russischen Bären.
Damit soll keine Sekunde das Leid der Menschen in der Ukraine relativiert werden, oder jenes der zwangsrekrutierten russischen Soldaten, die mit zu wenig Ausbildung an die Front geschickt werden. Dieser Krieg ist ein Verbrechen, und der Blutzoll, den die Ukrainer:innen für die Verteidigung ihrer Freiheit zahlen müssen, ist unmenschlich hoch.