Ukraine: Die Qual der Wahl
Kann die Ukraine Wahlen kriegsbedingt verschieben und sich dennoch Demokratie nennen?
Das Mandat des ukrainischen Präsidenten und Oberbefehlshabers Wolodymyr Selenskyj endet im Frühjahr 2024. Kann und soll mitten in einem Krieg gewählt werden? Oder wäre es besser, den Urnengang bis ans Kriegsende zu verschieben?
Schon regen sich die ersten Stimmen – aus Ukraine-unfreundlichen Kreisen – die sagen, die Ukraine könne keinen Demokratiebonus in der freien Welt einfordern, wenn ihr Präsident einem Diktator gleich ohne Ermächtigung durch den Souverän, das Volk, regiert.
Doch so einfach ist die Sache nicht. Zuallererst sieht ukrainisches Wahlrecht vor, dass es keine Wahlen im Krieg geben darf – aus guten Gründen, die noch beleuchtet werden. Außerdem gilt Selenskyj selbst eher als Befürworter von Wahlen nächstes Frühjahr. Als erfolgreicher Kriegsherr sind seine Popularitätswerte himmelhoch, und die Kritik am obersten Feldherrn im Wahlkampf wäre wohl verhalten. Dazu kommt, dass einige der aussichtsreichen Gegenkandidaten derzeit im Militär dienen und sich daher einer Wahl für die zivile Position des Präsidenten nicht stellen dürften. Aus genau diesen Gründen sind auch Oppositionelle skeptisch, was Wahlen im Frühjahr 2024 angeht.
Sorge vor unbestimmter Verzögerung
Argumente für Wahlen kommen daher eher aus der freien Welt. Nicht nur die Freunde Putins in Österreich schießen sich bereits auf den bald illegitimen Selenskyj ein – auch Außenminister Alexander Schallenberg hat bereits erklärt, dass eine Verschiebung der Wahl nur dann infrage komme, wenn ein präziser Ersatztermin festgelegt würde. Selenskyj dürfe nicht auf unbestimmte Zeit Präsident bleiben, so Schallenberg: Denn wer bestimmt, wann es ausreichend friedlich ist, um zu wählen, wenn nicht der Präsident selbst?
Die Gefahr einer Endlosverschiebung der nächsten Wahlen und ein damit verbundenes Abgleiten in die Diktatur ist jedoch gering. Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit und ihren Platz in Europa. Die Bevölkerung würde das Ende der Demokratie wohl nicht so einfach akzeptieren, vor allem wenn es mit dem Ende aller EU-Beitrittshoffnungen verknüpft wäre.
Dazu kommt, dass die ukrainische Regierung so massiv vom guten Willen Europas und der USA für den Wiederaufbau nach dem Krieg abhängig sein werden, dass Brüssel und Washington zum opportunen Zeitpunkt leicht auf Neuwahlen bestehen könnten.
Wahlen als Legimitierung
Die Frage ist daher eher, welche Art von Wahlen der Legitimierung der Regierung zuträglicher wäre: eine Wahl mit stark eingeschränktem passivem Wahlrecht, bei der ein Teil der Ukrainer:innen nicht wählen könnte und der Wahlkampf stark eingeschränkt wäre, oder eine auf einen späteren Zeitpunkt verschobene.
Der wohl berühmteste Fall einer Wahlverschiebung war Winston Churchills Entscheidung, erst nach Kriegsende wählen zu lassen. Seine Bedenken galten der Sicherheit der Menschen, die sich unter deutschem Bombenhagel vor Wahllokalen anstellen müssten, und der Tatsache, dass die vielen außerhalb der britischen Inseln kämpfenden Soldaten keine Stimme hätten.
Moderne Technologie, wie eine Online-Abstimmung, könnte beiden Probleme lösen, wenngleich die Vielzahl russischer Wahlbeeinflussungsversuche durch Cyberattacken auch hier ein Risiko darstellen würde. Eine große Wähler:innengruppe bliebe aber definitiv von ihrem Wahlrecht ausgeschlossen, nämlich all die Menschen, die in von Russland besetzten Gebieten leben oder gar nach Russland verschleppt wurden. Diese Menschen würden nun ein zweites Mal ihrer Bürger:innenrechte als Ukrainer:innen beraubt.
Auch würde ein Urnengang ohne genau die Menschen, um deren Befreiung es im Krieg geht, von Putin und seinen internationalen Freunden unweigerlich propagandistisch ausgeschlachtet werden: Diese Menschen würden nicht gefragt, ob sie überhaupt Ukrainer:innen sein wollen, und schon gar nicht, um welchen Preis. Ungeachtet des Ausgangs der Wahlen würde die Abwesenheit dieser Stimmen der russischen Propaganda dienen, dass der Anschluss der Provinzen Krim, Luhansk, Donetsk und Saporischija gerechtfertigt sei, denn die neue Regierung in Kiew würde ja nur die Bevölkerung des Rests des Landes repräsentieren.
Symbolbild, produziert mit Adobe Firefly AI
Ebenso undemokratisch wäre der Ausschluss aller im Militär dienenden Menschen vom passiven Wahlrecht. Wie in vielen Demokratien sieht ukrainisches Recht eine Trennung von Militär und Zivilregierung vor. Um bei einer Wahl anzutreten, muss ein Militärangehöriger erst die Uniform an den Nagel hängen. Das ist natürlich mitten im Krieg nicht ohne Weiteres möglich. Da aber eine faire und freie Wahl sowohl allen Wahlberechtigten die Teilnahme wie auch allen legitimen Kandidat:innen die Kandidatur ermöglichen muss, wäre eine Wahl mitten im Krieg demokratiepolitisch hoch suspekt.
Besser später, dafür fair
Wahlen sind eine notwendige, aber nicht die einzige Grundbedingung einer funktionierenden Demokratie. Ein wahrhaft demokratischer Prozess braucht freien Zugang zu Informationen, freie Wahlkämpfe, Zugang zu finanziellen Mitteln für alle Kandidat:innen, freies passives Wahlrecht und freien und sicheren Zugang zu Wahlurnen für alle berechtigten Wähler:innen.
Wenn wir Wahlen in autokratischen Staaten anfechten, weil sie nicht all diese Grundprinzipien erfüllt haben, wäre es inkonsistent, in der Ukraine Wahlen einzufordern, die diese Grundprinzipien – aufgrund von Russlands Aggression – nicht erfüllen können. Eine verschobene Wahl ist rechtens, denn das Wahlrecht – aus Zeiten vor Selenskyjs Präsidentschaft – sieht eine Verschiebung vor. Ein späterer Urnengang wäre auch demokratischer, wenn alle Wahlberechtigten wählen und alle Interessierten sich als Kandidat:innen der Wahl stellen könnten.
Die demokratische Welt muss natürlich darüber wachen, dass niemand das Kriegsrecht über Gebühr verlängert, um an der Macht zu bleiben. Aber das wäre aufgrund des Einflusses der demokratischen Welt auf die Ukraine leicht zu gewährleisten. Eine Verschiebung bis die Bedingungen für eine freie und faire Wahl nach allen dafür notwendigen Kriterien zu ermöglichen, ist daher demokratischer als eine Wahl, von der ein großer Teil der Stimmberechtigten ausgeschlossen bleibt, viele Kandidat:innen aufgrund ihres Wehrdiensts kein passives Wahlrecht genießen und kein fairer, flächendeckender Wahlkampf möglich ist.