Ukraine-Krieg: Warum russische Desinformation so gefährlich ist
Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Feber 2022 hat nicht nur unsagbares Leid über das Land und die Bevölkerung gebracht, sondern auch eine massive digitale Desinformationskampagne des Kremls in den sozialen Medien. Eine aktuelle Studie der EU hat die Bemühungen der russischen Führung innerhalb der Union analysiert und kommt zum Ergebnis, das die Kreml-Propaganda um die 165 Millionen Abonnent:innen auf allen Social-Media-Plattformen hat und ihr Content zumindest 16 Milliarden Views verzeichnen konnte. Ein dramatisches Ausmaß, mit der die Unterstützung für die Ukraine innerhalb der europäischen Bevölkerung unterwandert und die Debatte darüber zusehends vergiftet wird.
Der Kampf um die Zukunft der Ukraine wird nicht nur am Schlachtfeld geführt – sondern auch digital. Und auf Social Media scheint Russland erfolgreich zu sein. Denn trotz der Reformen, die die Europäische Union im Kampf gegen Desinformation im Internet beschlossen hat, kommt eine EU-Studie zum Ergebnis, dass die Propaganda des Kremls die öffentliche Sicherheit, fundamentale Rechte und das Wahlsystem in der EU bedroht:
We find that the Kremlin’s ongoing disinformation campaign not only forms an integral part of Russia’s military agenda, but also causes risks to public security, fundamental rights and electoral processes inside the European Union. Moreover, we observe that disinformation is only one weapon in the Kremlin’s information warfare arsenal. The Kremlin’s operations on online platforms often build on other inflammatory or deceptive content, and a range of malign behaviours designed to silence opponents and suppress the truth about the war in Ukraine.
Je länger der Krieg dauert und das Interesse des Westens abnimmt, desto mehr können prorussische Profile Zweifel säen und die Stimmung beeinflussen. Die wichtigsten Erkenntnisse der Studie sind:
- Neben der Beeinflussung der Meinung über die Ukraine zielt russische Desinformation auch darauf ab, das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen sowie die Grundrechte zu schwächen.
- In absoluten Zahlen sind die meisten Pro-Kreml-Profile auf den beiden Meta-Plattformen Facebook und Instagram zu finden. Den stärksten Anstieg seit Ausbruch des Kriegs verzeichnen allerdings Telegram (Verdreifachung), TikTok (mehr als verdoppelt) und YouTube (fast verdoppelt).
- Die Maßnahmen der einzelnen Plattformen gegen die Kreml-Kampagne hat bis jetzt kaum Früchte getragen. Zwar wurden die offiziellen Profile der russischen Regierung und Medienhäuser massiv eingeschränkt, doch abseits davon ist das Einschränken des Einflusses von andere Profilen, die Desinformation verbreiten, kaum erfolgreich.
- Eine sehr enge Definition von Desinformation bei den meisten Plattformen erschwert es zudem, das Publizieren und Verbreiten von Falschmeldungen zu bekämpfen. Und im Fall von Telegram gibt es keinerlei Moderation von Posts, hier ist das Verbreiten von Desinformation am leichtesten.
Wie schlecht die Reaktion der Plattformen auf die Desinformation des Kremls ist, zeigt auch ein Versuch der Autor:innen der Studie: Sie meldeten zahlreiche Postings, die Gewaltdarstellungen zeigen, auf verschieden Plattformen. Doch nicht einmal die Hälfte dieser Meldungen wurde berücksichtigt und die Postings von den Plattformen gelöscht. Offensichtlich sind die Moderationsbemühungen der großen Social-Media-Konzerne der konzertierten Kampagne der russischen Führung nicht gewachsen.
So klingt russische Propaganda
Das wichtigste Ziel Russlands ist klar: Man will durch Desinformation im Westen die Unterstützung in der Bevölkerung für weitere Militärhilfe an die Ukraine unterwandern, damit die Ukraine die Fähigkeit verliert, sich effizient zu verteidigen. Der Krieg – der bereits viel länger dauert, als die russische Propaganda anfänglich behauptet hat – soll auch im Westen von so vielen Menschen wie möglich als eine richtige Tat Russlands angesehen werden.
Genau deshalb setzt man bei der Desinformationskampagne auf Social Media so massiv auf die Entmenschlichung der Ukrainer:innen. Angefangen von persönlichen Angriffen gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seine Ehefrau, wird das Bild eines korrupten Landes gezeichnet, das aggressiv sei, vom Westen oder anderen Kräften gesteuert und einen Kampf gegen die eigene russischsprachige Bevölkerung führen soll. Seit dem Start des Kriegs spricht Russland ja davon, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen – dieses Wording spiegelt sich auch in der Propaganda wider. Es werden Meldungen über angebliche Massaker an russischsprachigen Ukrainer:innen geteilt, gleichzeitig wird von dem besseren, sicheren Leben in den von Russland „befreiten“ Gebieten im Osten der Ukraine berichtet.
Viele dieser Punkte werden in der öffentlichen Debatte in der EU über den Ukraine-Krieg immer wieder genannt: dass die Ukraine ja nicht viel besser wäre als Russland, dass das Ehepaar Selenskyi privat durch den Krieg reich werden würde oder dass die Ukraine Teile der eigenen Bevölkerung verfolgen würde. Auch die Lüge, dass die Ukraine (und der Westen) den Überfall Russlands quasi provoziert hätten, weil immer mehr osteuropäische Staaten sich der NATO anschlossen, wird gerne von Kritiker:innen der Militärhilfen für die Ukraine wiederholt.
Besonders beunruhigend ist, dass diese Desinformation den Sprung vom Digitalen in die analoge Debatte erfolgreich geschafft hat. Vor allem rechte Parteien in Europa (zu einem kleineren Teil auch linke Parteien) wiederholen in den Parlamenten, Zeitungen und Nachrichtenseiten Europas die Propaganda des Kremls. Sei es die AfD in Deutschland, Viktor Orbán in Ungarn, Marine Le Pen in Frankreich oder auch Robert Fico in der Slowakei – oder die FPÖ in Österreich. Wie gefährlich es ist, dass die FPÖ unter Kickl offen Verschwörungstheorien weiterverbreitet und ihnen damit mehr Verbreitung und Signifikanz gibt, hat Materie bereits analysiert. Doch in der Frage des Ukraine-Kriegs ist das Unterwandern der Debatte durch die FPÖ – unter dem Deckmantel der Neutralität – besonders folgenschwer.
Die Folgen dieses Einflusses der russischen Kriegspropaganda auf Parteien in Europa kann man aktuell sehr gut in der Slowakei mitverfolgen: Der dortige Premierminister Robert Fico stellt die Ukraine als „von den USA gesteuert“ und korrupt dar und will das Land auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt in der NATO sehen. Die Ukraine müsse sich stattdessen damit abfinden, Teile ihres Gebiets für Frieden an Russland abtreten zu müssen.
Entscheidende EU-Wahl
Ficos Wahlerfolg zeigt, was 2024 auf Europa zukommen könnte: Denn bei den Wahlen zum EU-Parlament im Juni zeigen die Umfragen fast überall starke Gewinne für rechte Parteien, die dem Kreml-Narrativ folgen. Sie setzen auf den Ärger über die hohe Inflation und stellen sie als Folge der Sanktionen gegen Russland dar, um damit frustrierte Wähler:innen zu locken. Gleichzeitig werden die Waffenlieferungen und Militärhilfe für die Ukraine als „Kriegstreiberei“ dargestellt, die nur das Sterben verlängere.
Sollten diese Kräfte wirklich massiv bei den Wahlen zulegen und damit Einfluss im EU-Parlament gewinnen, könnte das auch die neue EU-Kommission und ihren Rückhalt für die Ukraine beeinflussen. Das weiß auch der Kreml – die EU-Studie warnt davor, dass die russische Desinformationskampagne massiv versucht, die Wahl durch falsche Narrative auf Social Media zu beeinflussen. Auf der einen Seite soll das Vertrauen in die Wahl selbst unterwandert werden, auf der anderen Seite wird versucht, die Stimmung für jene Parteien zu verbessern, die das russische Narrativ wiederkäuen.
Europa muss wachsam bleiben
Die Studie der EU zeigt klar die Gefahr für die Union und für die Ukraine auf – die russische Führung hat bereits Erfolge mit ihrer Desinformation erzielt, und mit den bisherigen Anstrengungen der EU und den Social-Media-Plattformen kann man ihr zu wenig entgegensetzen. Zwar hat der Digital Service Act – eine neue Regulierung von Social-Media-Diensten innerhalb der EU – das Potenzial, die Plattformen zu mehr Anstrengungen im Kampf gegen Desinformation und Hate Speech zu verpflichten. Doch muss das erst noch geschehen.
Und auch die Zivilgesellschaft und Parteien, die für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte eintreten, dürfen die Gefahr, die das Vorgehen Russlands bedeutet, nicht ignorieren. Die Debatte über die Unterstützung der Ukraine muss offen, aber auf Basis von Fakten, nicht Propaganda geführt werden. Offensichtliche Lügen oder Spins von Kreml-nahen Parteien in Europa müssen konsequent aufgezeigt werden. Nur so kann der Einfluss der russischen Propaganda – auch im privaten Umfeld – zurückgedrängt werden. Denn letztendlich geht es beim Krieg Russlands gegen die Ukraine um sehr viel: um Menschenleben, aber auch um unser demokratisches Lebensmodell.