Verschwörungen: Was heißt da Theorie?!
Vom Anderl von Rinn bis zu Echsenmenschen und jüdischen Weltraumlasern: Seit Menschen Geschichten erzählen, erzählen sie auch Verschwörungsgeschichten. Eine Alternative zur Realität, der Verweis auf die „Wahrheit“ hinter der gängigen Erzählung kann kurios oder witzig sein, zu oft kann es aber auch der Ursprung von Ablehnung, Fragmentierung der Gesellschaft und Gewalt werden. Die Corona-Pandemie ist eines der aktuellsten Beispiele, wie Verschwörungstheorien massiv Einfluss gewinnen können, sogar von politischen Parteien aufgegriffen werden und zur Radikalisierung eines Teils der Anhänger:innen führen können – zum Schaden jener, die daran glauben, aber auch für die Allgemeinheit.
Diese Materie soll eine knappe historische Übersicht über einige der bekanntesten Verschwörungstheorien durch die Geschichte hindurch geben. Was die Beschäftigung mit diesen Theorien nämlich für eine aufgeklärte Gesellschaft wichtig macht, ist das Wissen über die möglichen Folgen. So steht die Legende des angeblich von Jüd:innen getöteten (christlichen) Buben Anderl im Tiroler Rinn auch als Beispiel dafür, wie Antisemitismus im Mittelalter dargestellt, weitergegeben und vertieft wurde und damit heute noch Einfluss hat – siehe Pizzagate.
Was aber sind Verschwörungstheorien, und wie wird ihre Popularität erklärt?
Der Unterschied zwischen Glauben und Prüfen
Die Sozialwissenschaft definiert zwei grundlegende Arten, die unterschieden werden müssen:
- Verschwörungshypothesen, auch „Zentralsteuerungshypothesen“
- Verschwörungsideologien und Verschwörungsmythen
Verschwörungshypothesen sind fundierte Theorien über mögliche Verschwörungen, die entweder bestätigt oder falsifiziert werden können. Ein historisches Beispiel dafür sind Theorien zur Watergate-Affäre, die sich durch weitere Recherchen von Medien als wahr herausstellten und schlussendlich den Verantwortlichen, US-Präsident Richard Nixon, zum Rücktritt zwangen.
Die zweite Kategorie, Verschwörungsideologien, entspricht eher dem, was allgemein als Verschwörungstheorie bezeichnet wird. Dabei geht es selten um verifizierbare alternative Erklärungen, sondern um Vorstellungen, die einer kritischen Analyse nicht standhalten können, aber mit Überzeugung geglaubt werden. Das ist der springende Punkt – Hypothesen können überprüft, Ideologien nur geglaubt werden.
Der österreichisch-britische Philosoph Sir Karl Popper trug wesentlich zur Bekanntheit und Differenzierung der zwei Arten bei. In seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde spricht er 1945 von einer „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“. Damit meint er Versuche, soziale Phänomene und historische Ereignisse durch den Nachweis zu erklären,
„daß gewisse Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und daß sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden.)“
In diesem Text und in dieser Materie soll auf die zweite Kategorie fokussiert werden. Hypothesen kontrollieren und verifizieren sich selbst, wenn sie falsch sind, Ideologien können aber wachsen und weitere Menschen beeinflussen – mit allen möglichen Konsequenzen.
Die Entstehung einer Verschwörungsideologie
Verschwörungsideologien sind gerade dort vertreten, wo sich mehr oder minder große Teile einer Gesellschaft von außen bedroht fühlen, so definiert es der Soziologe Helmut Reinalter in seinem Standardwerk Handbuch der Verschwörungstheorien. Insofern kann ihr gehäuftes Auftreten als Symptom einer Krise verstanden werden. Das war etwa bei der Pest des Mittelalters genauso der Fall wie im elisabethanischen England, als man panische Angst vor einer Verschwörung hatte, die das Reich zurück in den Schoß der katholischen Kirche bringen sollte. Im revolutionären Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts keimten genauso viele Theorien auf wie in den 1920er Jahren, als die unerwartete Niederlage im Weltkrieg und der als nationale Schmach verrufene Versailler Vertrag ebenso die Suche nach einem Sündenbock motivierten. Dazu passt auch die teilweise in Panik ausartende Angst vor der realen oder angenommenen Bedrohung durch den Bolschewismus während des Kalten Krieges und in der Auseinandersetzung mit dem Dschihadismus (9/11) oder der Corona-Pandemie. In solchen verunsichernden Zeiten versuchen Menschen die komplexen Strukturen und Prozesse, die die Ursachen ihres Leids sind, zu personalisieren und auf die bösen Absichten einiger weniger zurückzuführen.
Ein breiteres Erklärmuster arbeitete die Frankfurter Schule aus. Im Sinne der Dialektik der Aufklärung können Verschwörungstheorien als „das Andere der Vernunft“, als Schattenseite und gleichzeitig Gegenbewegung einer sich zu schnell vollziehenden Modernisierung und Rationalisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen gedeutet werden. Es gibt keinen allmächtigen Gott mehr, der indirekt alle Geschehnisse erklären kann.
Gleichzeitig kam in dieser Zeit, dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, durch die Ausdifferenzierung der Berufe und die wachsenden Komplexität aller gesellschaftlichen Beziehungen eine Gegenbewegung auf, die Neigung zu simpel erzählten und gemeinschaftsstiftenden Deutungsmodellen. Wenn man nicht mehr alles mit dem Wirken eines allmächtigen Gottes erklären könne, so die Ableitung der Dialektik, wachse die Neigung, unerfreuliche Phänomene den Machenschaften einer Verschwörergruppe zuzuschreiben – irgendjemand muss ja dafür verantwortlich sein. Das ist eine Mechanik, die bis heute Verschwörungstheorien ermöglicht.
Verschwörungstheorien: Ein gefährlicher Glaube
Die weiteren Texte in dieser Materie gehen auf konkrete Beispiele für Verschwörungstheorien ein und darauf, wie sie unsere Realität beeinflussen, etwa durch deren Aufgreifen durch manche Akteur:innen in der Politik. Aber als grundlegendes Rüstzeug für das Verständnis muss einmal verstanden werden, womit wir es eigentlich genau zu tun haben: Ja, Verschwörungstheorien können unterhaltsame, ungefährliche Spleens sein, doch in ihnen schlummert der Keim der Skepsis gegenüber grundlegenden Fakten unserer Existenz. Von der Überzeugung davon, dass die Erde eine Scheibe ist, ist es kein weiter Sprung zur Leugnung anderer wissenschaftlicher Fakten.
Wie problematisch das auch für eine Gesellschaft als Ganzes sein kann, hat die Corona-Pandemie mit dem „Glaubensstreit“ um die Impfungen klar gezeigt. Wir müssen also wachsam bleiben.