VfGH, quo vadis?
Der Verfassungsgerichtshof ist ein zentraler Baustein der österreichischen Staatsorganisation. Er kann unter anderem verfassungswidrige Gesetze oder Verordnungen aufheben, Minister:innen wegen Rechtsverstößen des Amts entheben oder Wahlen auf ihre Rechtskonformität überprüfen. Bei Umfragen, in denen das Vertrauen der Bevölkerung zu Institutionen untersucht wird, schneidet er regelmäßig sehr gut ab.
Die Bedeutung des Verfassungsgerichtshofs hat sich im Laufe der Zeit deutlich erhöht – denn einerseits hat er mehr Zuständigkeiten erhalten, andererseits ist er „mutiger“ geworden. Hat er sich früher – vor allem im Bereich Grundrechtsauslegung – um„judicial restraint“ (also zurückhaltende Auslegung) bemüht, so gestattet er sich heute einen weiteren Interpretationsspielraum. Dafür beispielhaft sind etwa die Entscheidungen zur „Ehe für alle“ oder zur „Sterbehilfe“ zu nennen.
In letzter Zeit entstand anlässlich der anwaltlichen Vertretungstätigkeiten eines Verfassungsrichters eine Diskussion über ein Berufsverbot für Verfassungsrichter:innen. Darüber hinaus hat sich der Präsident des Verfassungsgerichtshofs vor einigen Monaten zum Bestellungsmodus der Verfassungsrichter:innen zur Wort gemeldet. Das bietet Anlass, über die genannten Themen und darüber hinaus über andere Reformvorschläge zur Verfassungsgerichtsbarkeit nachzudenken.
1. Die Frage des Berufsverbots
Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten dürfen Verfassungsrichter:innen in Österreich neben ihrem Amt als Richter:in grundsätzlich einen Beruf ausüben und z.B. als Anwalt arbeiten oder an einer Universität lehren. Eine Praxis, die zuletzt wieder stark diskutiert wurde – auch, weil VfGH-Mitglieder durch ihre anwaltliche Vertretungstätigkeit in medienwirksamen Verfahren auftauchen.
Von Befürworter:innen eines Berufsverbots für VfGH-Mitglieder wird vorgebracht, dass die Aufgabenfülle erheblich sei und anwaltliche Vertretung im grundsätzlichen Widerspruch zur richterlichen Tätigkeit stehe. Außerdem verfassen einige Verfassungsrichter:innen regelmäßig Rechtsgutachten, in denen eine bestimmte Rechtsansicht vertreten wird – eine Aufgabe, der Richter:innen an anderen Gerichten meist nur mit besonderen Genehmigungen nachgehen dürfen. Von den Gegnern des Berufsverbots wird wiederum vorgebracht, die berufliche Tätigkeit abseits des VfGH würde aufgrund der Praxisnähe ein Abdriften in den gedanklichen Elfenbeinturm verhindern.
Auch wenn diesem Gedanken einiges abgewonnen werden kann, überzeugen schlussendlich die Argumente für ein Berufsverbot: Der Arbeitsanfall und die Gefahr des Anscheins der Befangenheit machen eine gleichzeitige Ausübung von Berufen wie jenem des Anwalts schwer möglich. Ausnahmen vom Berufsverbot sind dann möglich, wenn der Anschein von Befangenheit minimiert werden kann und sich der Arbeitsaufwand im Rahmen hält – denkbar wäre etwa das Abhalten einer Lehrveranstaltung an einer Hochschule.
2. Der Bestellmodus
Der aktuelle Bestellungsmechanismus sieht vor, dass acht von 14 Richter:innen von der Regierung, der Rest zu gleichen Teilen von National- und Bundesrat (jeweils mit einfacher Mehrheit) bestellt werden. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs meldete sich dazu relativ kritisch zu Wort und sprach sich für die parlamentarische Bestellung mit Zweidrittelmehrheit aus. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung führte er aus:
„Eine Zweidrittelmehrheit hat den Vorteil, dass die Regierung den Kompromiss mit der Opposition suchen muss. Es wäre ein zusätzliches Sicherheitsnetz für die rechtsstaatliche Demokratie, wenn die Verfassung den Konsens zwischen Regierung und Opposition vorschreiben würde. Wir sehen in Polen und Ungarn die Gefahren einer politisch einseitigen Besetzung des Verfassungsgerichts.“ Weiters betonte der Präsident, dass eine Bestellung durch das Parlament die Transparenz erhöhen würde, weil es bereits jetzt bei den parlamentarisch bestellten Verfassungsrichter:innen Hearings gebe. Zudem seien ,eine Zweidrittelmehrheit und die Mitwirkung des Parlaments europaweit Standard‘.“
Als Gegenargument wird oftmals vorgebracht, dass eine derartige Regelung dazu führen könnte, dass einem Drittel der Abgeordneten eine Sperrminorität zukommt, die die Bestellung von Verfassungsrichter:innen blockieren und somit die Arbeit des Verfassungsgerichtshofs beeinträchtigen könnte. Als Beispiel für diese These könnten die Vorgänge rund um die Bestellung der DSN-Kontrollkommission (DSN = Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst, eine mit bedeutenden Aufgaben betraute Behörde) vorgebracht werden – die Bestellung der drei Mitglieder dieser Kommission erfordert eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da ein Jahr lang keine Einigkeit über die drei Mitglieder erzielt wurde, wurde die Mitgliederanzahl via Gesetzesänderung Anfang des Jahres 2023 auf fünf erhöht. Allerdings konnte eine Zweidrittelmehrheit noch immer nicht gefunden werden, die Kontrollkommission ist weiterhin unbesetzt.
Die Sorgen um die Sperrminorität sind jedoch unbegründet: Die Richter:innen werden bis zum Ablauf jenes Jahres bestellt, in dem sie 70 werden. Der Gerichtshof hat sechs Ersatzmitglieder. Zudem genügt für die Beschlussfähigkeit die Anwesenheit des Vorsitzenden und von acht Richter:innen. Bis zur ernsthaften Beeinträchtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs wären daher aller Voraussicht nach mehrere Wahlen ins Land gezogen.
3. Cooling-off-Phasen
Im „Transparenzpaket“, das die Bundesregierung 2021 präsentierte, wurden u.a. die Einführung von Cooling-off-Phasen für (angehende) Verfassungsrichter:innen und die Einführung der „dissenting opinion“ vorgeschlagen.
Der Vorschlag der Cooling-off-Phase war zweifellos eine Reaktion auf den direkten Wechsel des früheren Verfassungsrichters Wolfgang Brandstetter von der Regierungsbank in den VfGH – mit dem damit verbundenen Problem, dass sich Brandstetter mehrfach für befangen erklären musste, weil er bei den auf Verfassungskonformität zu prüfenden Gesetzen selbst mitgearbeitet hatte. Bereits jetzt gibt es eine fünfjährige Cooling-off-Phase für Mitglieder der Bundes- oder Landesregierung, eines allgemeinen Vertretungskörpers (Nationalrat, Bundesrat, Landtage …) oder des Europäischen Parlaments. Diese gilt aber aktuell nur für die Ernennung des Präsidenten oder Vizepräsidenten des Gerichtshofs. Es spricht nichts dagegen, diese Cooling-off-Phase für alle angehende Verfassungsrichter:innen verbindlich zu machen.
Weitere Teile dieses Transparenzpakets bildeten übrigens die Erweiterung der Rechnungshof-Kontrolle und die Einführung eines Informationsfreiheitsgesetzes. Alle Vorhaben liegen momentan auf Eis.
4. Dissenting und Concurring Opinion
Die Entscheidungen von Verfassungsgerichten werden in der Regel von mehreren Richter:innen im Kollegium gefällt. Gerade bei heiklen Fällen werden Entscheidungen oft nicht im Konsens, sondern mit Mehrheit getroffen. Welche:r Richter:in wie abgestimmt hat, dringt nicht an die Öffentlichkeit. Aus Gründen der Transparenz wurde aber angedacht, das zu ändern: Das von der Bundesregierung 2021 vorgeschlagene Transparenzpaket sah die Einführung von dissenting sowie concurring opinions am VfGH vor.
Unter dissenting opinion versteht man die Möglichkeit eines Richters (oder mehrerer Richter:innen), ein von der Mehrheitsmeinung abweichendes Stimmverhalten und die Begründung dafür darzustellen. Unter concurring opinion versteht man die Möglichkeit eines Richters, eine von der Mehrheitsmeinung abweichende Begründung darzustellen: Hier wird zwar dem Ergebnis (z.B. Aufhebung oder eben Nicht-Aufhebung eines Gesetzes) zugestimmt, jedoch eine von der Mehrheitsmeinung abweichende Begründung dargestellt.
Als Gegenargument wird ins Treffen geführt, dass die Autorität des Gerichtshofs geschwächt und Druck auf Richter:innen ausgeübt werden könnte. Dem ist zu entgegnen, dass es eine Vielzahl an Verfassungsgerichten gibt, die über die Möglichkeit der Sondervoten verfügen und deren Autorität nicht (oder zumindest nicht deshalb) infrage gestellt wird. Zudem sind die Richter:innen über ihr 70. Lebensjahr bestellt, somit geht auch das Argument der beruflichen Abhängigkeit ins Leere.
Die Einführung der dissenting bzw. concurring opinion wäre aus Transparenzgründen wünschenswert. Große Veränderungen in der Öffentlichkeitswahrnehmung der Verfassungsgerichtsbarkeit wären aber unwahrscheinlich: Zwar ist anzunehmen, dass der interessierten Bevölkerung ein besseres Verständnis für die Arbeitsweise des VfGH vermittelt wird und gelegentlich medial ein Minderheitsvotum aufgebauscht wird. Den größten Effekt hätten die Sondervoten aber wohl für die (Aufarbeitung in der) Rechtswissenschaft.
5. Rechtsschutz bei rechtswidrigen Anfragebeantwortungen
Das Interpellationsrecht – also das Recht, die Geschäftsführung der Bundesregierung zu überprüfen und die Minister:innen über ihr Vollziehungshandeln zu befragen – ist eines der wichtigsten Instrumente der Parlamentarier:innen (vor allem der oppositionellen). Schließlich herrscht zwischen Regierung und Parlament oftmals eine Informationsasymmetrie zugunsten der Regierung, deren Handeln jedoch vom Parlament kontrolliert werden soll.
Mit parlamentarischen Anfragen können die Abgeordneten schriftlich Auskünfte verlangen. Diese Anfragen müssen innerhalb von zwei Monaten vom jeweiligen Mitglied der Bundesregierung beantwortet werden. Die Anfragen werden aber oft ungenügend beantwortet: Teilweise werden Unzuständigkeit oder Verwaltungsaufwand als Argumente für eine Nichtbeantwortung vorgeschoben. Allerdings ist anzumerken, dass einige Abgeordnete auch Fragen stellen, die tatsächlich nicht in die Zuständigkeit des Ministers fallen. Im Lichte dieser Gegebenheiten wird dann regelmäßig über die Qualität und Rechtskonformität der Anfragebeantwortungen (medial) diskutiert.
Eine Überprüfung der Rechtskonformität kann aber nicht stattfinden, weil den Abgeordneten gegen eine unzureichende bzw. rechtswidrige Anfragebeantwortung kein Rechtsmittel zur Verfügung steht. Anzudenken wäre daher, den Abgeordneten ein Rechtsmittel beim Verfassungsgerichthof zur Verfügung zu stellen. In Deutschland ist ein derartiges Organstreitverfahren im Grundgesetz (Art 93) festgelegt und könnte in den wesentlichen Zügen als Vorbild dienen: Das deutsche Bundesverfassungsgericht stellt regelmäßig die unzureichende Beantwortung parlamentarischer Anfragen fest und verpflichtet die Bundesregierung zur Auskunftserteilung.
6. Der Umgang mit Eilverfahren
Während der Corona-Krise sorgte der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Aussagen zum Verfassungsgerichtshof für Irritationen. Auf eine mögliche Grundrechts- und somit Verfassungswidrigkeit von „Corona-Verordnungen“ angesprochen, meinte er sinngemäß, dass das nachrangig sei – die entsprechende Verordnung würde zum Zeitpunkt der Prüfung durch den VfGH sowieso schon außer Kraft getreten sein.
Und in der Tat: Verhängt etwa der Gesundheitsminister mit der Begründung der Gesundheitsgefährdung ein Verbot, die Wohnungen bzw. Häuser zu verlassen, so kann der Verfassungsgerichtshof mit seinen jetzigen Instrumenten nur eingeschränkt reagieren. Zwar könnte er eine Zwischensession einberufen und somit jederzeit eine Entscheidung fällen. Verfahrensrechte, wie das Parteiengehör, kann er dabei aber nicht wahren. Von Spezialfällen abgesehen, reicht die Zeit schlicht nicht aus, um eine qualitätsvolle Prüfung der Verfassungs- bzw. Gesetzeskonformität durchzuführen. Die Verfassungskonformität der Verordnung könnte bei Wahrung der üblichen Verfahrensrechte erst nach Monaten beurteilt werden.
Auch hier gäbe es in Deutschland Inspirationsmaterial: Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeit „Eilverfahren“ durchzuführen bzw vorläufigen Rechtsschutz (also zum Beispiel die Nichtanwendung einer Verordnung) anzuordnen. Dies setzt Voraus, dass „dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“ (§ 32 d BVerfGG). Das Gericht prüft dabei nicht, ob die Maßnahme (also etwa eine Verordnung) verfassungswidrig ist, sondern nimmt eine Folgenabwägung vor: Die Folgen, die einträten, wenn der vorläufige Rechtsschutz nicht gewährt wird, obwohl die Maßnahme verfassungswidrig ist, werden gegenüber den Nachteilen abgewogen, die entstehen, wenn der vorläufige Rechtschutz erlassen wird, die Maßnahme aber verfassungskonform ist.
Will man derartige Eilverfahren in Österreich umsetzen, so muss sichergestellt werden, dass diese kein „gewöhnliches“ Rechtsmittel darstellen sollen. Vielmehr sollten sie nur für außergewöhnliche Situationen konzipiert werden, um offensichtlich verfassungswidriges staatliches Handeln rasch unterbinden zu können. Beispielhaft wäre hier an Auseinandersetzungen zwischen Verfassungsgerichten und Regierungen zu denken, bei denen Letztere Erstere auf verfassungswidrigem Weg beschränken oder abschaffen wollen. Man denke an die österreichische Bundesregierung unter Dollfuß, die die Ausschaltung des VfGH in der ersten Republik verfügte oder die mittlerweile schon mehrjährige Auseinandersetzung zwischen dem polnischem Verfassungsgericht und der polnischen Regierung.
Freilich sind derartige Eilverfahren keine Garantie für ein stabiles, verfassungskonformes Staatswesen, können aber unter Umständen einen kleinen Beitrag dazu leisten. Insgesamt wären die Vorteile einer Einführung größer als die Nachteile.