Warum wir die Vereinigten Staaten von Europa brauchen
Ich war noch nicht einmal drei Monate alt, da entschied sich der Großteil der österreichischen Bevölkerung dafür, der Europäischen Union beizutreten. Ich wurde in ein Jahrzehnt des Aufbruchs, der Entwicklung und des Aufbaus hineingeboren. Europa, das stand für meine Generation von Anfang an für Freiheit, für Fortschritt und für Frieden. Es ist ein sicheres Zuhause, in dem unsere Rechte hochgehalten werden und unsere Chancen eine Zukunft haben. Das wohl erfolgreichste politische Projekt, das uns die Generationen vor uns geschenkt haben.
Als meine Tochter noch nicht einmal drei Monate alt war, verübte die Hamas einen Terroranschlag auf Israel, es herrscht Krieg auf europäischem Boden, und unsere Rechte und Freiheiten werden von rechten Nationalisten bedroht. Das heile Europa aus meiner Kindheit droht zu zerbröckeln. Zu lange haben wir uns auf den Errungenschaften der vorigen Generationen ausgeruht. Zu lange zugesehen, wie die Möglichkeiten der Europäischen Union im letzten Jahrhundert zurückgeblieben sind. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: den Kopf in den Sand stecken – oder mutig voranzugehen, etwas Neues bauen, das wir den nächsten Generationen schenken.
Die Vereinigten Staaten von Europa
In der Geschichte Europas gab es immer wieder Visionen eines vereinten Europas. Unterschiedliche Herrscher, vom alten Rom bis zu Napoleon wollten die gesamte Europäische Landmasse und Bewohner:innen unter ihre Regentschaft bringen. Hätte man ihnen erzählt, dass die Europäerinnen und Europäer im 20. Jahrhundert schafften, was ihnen missglückte, sie hätten es uns wohl nicht geglaubt. Die Europäische Union selbst war lange Zeit die Vision einiger mutiger Vordenker, heute ist sie Realität. Was hindert uns daran, auch heute eine mutige Vision zu verfolgen?
Die Vereinigten Staaten von Europa sind diese Vision. Sie sind ein Sinnbild für Fortschritt und weitere europäische Integration. Ein Europa, vereint nicht unter einem Herrscher, sondern durch das Volk. Ein Europa, das in der Welt mit einer Stimme spricht. Und zwar mit einer demokratischen, mit einer, die sich für Menschenrechte und unsere Welt einsetzt. In diesem Europa haben wir alle einen europäischen Pass, und außerhalb von Europa kümmern sich unsere europäischen Botschaften um unsere Rechte.
Die Basis dafür ist gelegt, wir müssen nur den nächsten Schritt gehen. Wir haben bereits einen Europäischen Auswärtigen Dienst. Machen wir ihn zu einem echten Europäischen Diplomatenkorps! Wir haben bereits Häuser der Europäischen Union, machen wir echte Europäische Botschaften daraus! Ich bin Europäerin. Innerhalb der EU habe ich dieselben Rechte wie jemand, der in Deutschland, Polen oder den Niederlanden geboren ist. Ich möchte auch im Ausland gleichgestellt sein mit einem Deutschen, einer Polin oder jemandem aus den Niederlanden. Oder mehr noch: Ich möchte einem Georgier und einer Nordmazedonierin gleich sein. In einem Europa, das wahrhaftig vereint ist, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer.
Ein gemeinsames Europa für grenzenlose Chancen
In den Vereinigten Staaten von Europa sind die Chancen grenzenlos. Es zählt, was man kann und wer man ist, nicht woher man kommt oder wie viel man hat. Jeder Mensch findet die Möglichkeit vor, seine Talente zu entfalten, seine Ideen zu entwickeln. So ist Europa nicht mehr nur Ort innovativer Ideen, sondern innovativer Umsetzung. Europa kann 580 Millionen Menschen vereinen. Das sind 580 Millionen Talente, 580 Millionen Geschichten, 580 Millionen Ideen und damit 580 Millionen Mal die Chance, Großes zu schaffen.
Unser vereintes Europa birgt nicht nur große Künstler:innen, wichtige Denker:innen der Zukunft. Die Herausforderungen unserer Zeit, allen voran die Klimakrise, werden mit neuen Ideen von mutigen Menschen gelöst. Wir müssen sicherstellen, dass diese auf fruchtbaren Boden fallen. So wird Europa nicht nur wirtschaftlich zum Vorreiter. Wir bieten Lösungen und Entwicklungen, die den Menschen auf der ganzen Welt das Leben erleichtern. Europa als Weltverbesserer, ist das eine naive Utopie? Ein versteckter Neokolonialismus? Während Despoten und Autokraten ihre Interessen mit Panzern vorantreiben, treiben wir als vereintes Europa durch Innovation und Handel unsere Welt voran. Vielleicht sind es große Visionen, doch es sind keine absurden. In jedem Fall sind sie es wert, nach ihnen zu trachten.
Eine solche Offenheit gegenüber Innovation und Ideenreichtum muss Hand in Hand gehen mit der Freiheit eines jeden Einzelnen. Grenzenlose Chancen können nur bestehen, wenn auch unsere Rechte grenzenlos sind. Klar ist, ein vereintes Europa ist ein Europa der Menschenrechte. Wo die Meinungsvielfalt ebenso floriert wie die Vielfalt der Persönlichkeiten. Wo Sexualität und Identität kein Thema mehr ist und niemand ausgegrenzt wird für das, was er ist. Dafür müssen wir aber auch sicherstellen, dass diese Rechte verteidigt werden, sowohl gegenüber anderer als auch gegenüber Obrigkeiten. Eine orbánsche Einschränkungspolitik oder eine polnische Ausgrenzungspolitik hat in einem vereinten Europa nichts zu suchen.
Das vereinte Europa als Insel der Seeligen, so könnte man meinen. Der Fleck Erde, an dem alle sicher sind, in Frieden leben und sich entfalten können. Doch es wird nicht reichen, unser Europa zu gestalten und uns zurückzuziehen. Europa muss Leuchtturm der Demokratie und Menschenrechte sein, der über seine Grenzen hinaus leuchtet.
Ein vereintes Europa in der Welt
Europa kann sich nicht abschotten, eine Festung errichten und die Augen vor dem Rest der Welt verschließen. Wollen wir das Beste für Europa, dann müssen wir auch unsere Rolle in der Welt wahrnehmen. Europa soll nicht die Rolle des Global Policeman der USA übernehmen, denn militärisch einzugreifen und die eigenen Interessen mit harter Hand und Schutzmachthaltung zu verteidigen, das wird uns nicht weiterbringen. Es darf auch gar nicht unser Ziel sein, als selbsternannte Exekutivmacht anderen unsere Gesetze, unsere Strukturen überzustülpen. Viel eher sollten wir daran arbeiten, Global Partner zu werden. Jene Vereinigung, zu der jeder aufsieht, mit der jeder die Kooperation sucht und die sich auch selbst nicht davor scheut dazuzulernen.
Es ist unsere Aufgabe als Europa, uns selbst schützen zu können, dafür ist ein gewisses Maß an Autonomie notwendig. Doch wir dürfen auch wirtschaftlich keine protektionistische Festung errichten. Stattdessen müssen wir unseren Handel nutzen, um Kooperationen zu schließen, miteinander und voneinander zu lernen. Gemeinsam Hand in Hand unsere Welt in ein Zeitalter führen, in dem die Menschenrechte grundlegend sind und Innovation und Unternehmergeist unser Motor ist. Ein Handel, der auf Augenhöhe statt auf Ausbeutung basiert, und bei dem wir uns für unsere Werte einsetzen.
Nur wenn Europa mit einer Stimme spricht, können wir unser politisches Gewicht nutzen. Unsere Welt wird gebeutelt von menschengemachten Krisen und globalen Herausforderungen. Wenn wir glauben, diesen als Europa allein entgegenstehen zu können, dann ist das nicht naiv, sondern kurzsichtig. Wir brauchen Partner:innen in unserem Kampf gegen den Klimawandel, in der Entwicklung neuester Technologien und in der Transformation unserer Systeme. Doch ebendiese Partner werden heute abgeschreckt, von undurchsichtigen Institutionen, 27 Außenminister:innen und ebenso vielen Staatschefs und fehlender Glaubwürdigkeit echter Repräsentation durch unsere europäischen Vertreter:innen. Sprechen wir mit einer Stimme, so sprechen bis zu 580 Millionen Menschen. Haben wir eine Stimme, dann haben wir Gewicht. Das Vereinte Europa unserer Zukunft wird auf dem internationalen Parkett Relevanz haben, eine unüberhörbare Position, die die Welt verändern kann.
Unser gemeinsames Europa birgt unheimliche Chancen. Wir haben es in der Hand, der nächsten Generation einen Kontinent zu hinterlassen, der für Fortschritt steht, auf dem Frieden herrscht und Freiheit siegt. Heute ist der Moment, der in Geschichtsbüchern stehen könnte. Der Tag, an dem wir uns entschieden haben zusammenzustehen, das Unerwartete zu tun und aus einer Utopie Wirklichkeit zu machen. Lassen wir ihn nicht vorbeiziehen.