Was macht eigentlich die EU-Kommission?
Ursula von der Leyen wird den meisten politisch interessierten Menschen in Europa wohl ein Begriff sein. Sofern alt genug, dürfte man sich auch noch an Jean-Claude Juncker, José Manuel Barroso oder Romano Prodi erinnern, und auch der Name Jacques Delors dürfte einigen noch etwas sagen. Sie alle waren oder sind die Präsident:innen der EU-Kommission. In der öffentlichen Wahrnehmung ist diese Rolle am ehesten das „Gesicht der EU“ – auch wenn das Wissen darüber, was sie und die EU-Kommission als Ganzes genau innerhalb der Struktur der EU tun, wohl weniger verbreitet ist. Grund genug, sich das genau anzuschauen.
Die Rede zur Lage der Union, Auslandsbesuche, große Gesten und symbolische Ansprachen: So nehmen die meisten Bürger:innen Ursula von der Leyen wohl am ehesten wahr. Die EU-Kommissionspräsidentin ist, wenn es in den Medien um die EU geht, wohl das am meisten präsente Gesicht, mit Ausnahme der Staats- und Regierungschef:innen vielleicht.
Doch was genau ist die Kommission? Sie ist eines der drei zentralen Organe der Europäischen Union, die im Zusammenspiel Entscheidungen fällen und Gesetze und Bestimmungen beschließen. Die Mitglieder der Kommission, die EU-Kommissar:innen, werden von den Regierungen der EU-Staaten nominiert und vom Europäischen Parlament gewählt. Sie sollen in ihren Entscheidungen unabhängig sein und nur die gemeinsamen Interessen der Union, nicht die ihrer jeweiligen EU-Herkunftsstaaten, vertreten. Ihre Amtszeit entspricht der fünfjährigen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments, demgegenüber sie auch verantwortlich sind und das sie jederzeit abwählen kann.
Die Kommission wird von der:dem Präsident:in der Europäischen Kommission, derzeit Ursula von der Leyen, geleitet, die unter anderem die Ressortverteilung festlegt und auch einzelne Kommissare entlassen kann. Sie ist quasi die Regierungschefin der EU. Denn eine der zentralen Funktionen der Kommission ist, die „Regierung“ der EU zu sein.
Die Regierung Europas
Im Großen und Ganzen kann die EU-Kommission auch tatsächlich so beschrieben werden: Da sie in den meisten Politikbereichen das alleinige Initiativrecht für neue Gesetze hat, spielt sie die Rolle, die in Nationalstaaten eine Regierung gegenüber dem Parlament hat. Das heißt, nur sie kann den formalen Vorschlag zu einem EU-Rechtsakt machen und diesen dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament weitergeben. Rat und Parlament können die Vorschläge der Kommission zwar abändern und erweitern, sie können aber nicht von sich aus ein sogenanntes Rechtsetzungsverfahren einleiten.
Im Unterschied zu nationalen Regierungen hat die Kommission allerdings auch wenn das Verfahren bereits läuft noch einen gewissen Einfluss auf seine Entwicklung: So kann sie zu den von Rat und Parlament beschlossenen Änderungen positiv oder negativ Stellung nehmen, wodurch sich jeweils die zur Verabschiedung erforderlichen Mehrheiten in diesen beiden Institutionen verändern. Die Kommission kann ihren Vorschlag außerdem jederzeit im Verlauf des Verfahrens ändern oder zurücknehmen, solange kein Beschluss des Rates ergangen ist. Die Kommission kann ihren Rechtsetzungsvorschlag etwa zurücknehmen, wenn eine von Parlament und Rat beabsichtigte Änderung den Vorschlag in einer Weise verfälscht, die der Verwirklichung der mit ihm verfolgten Ziele entgegensteht. Dies war während und nach der Finanzkrise ab 2008 wichtig, weil einige Mitgliedstaaten es damals erschweren wollten, dass die Kommission einzelnen Ländern direkte Finanzhilfen überweisen kann. Eine entsprechende großzügige gesetzliche Grundlage auf Vorschlag der Kommission wurde von den Regierungschef:innen im Rat so verändert, dass die Kommission schlussendlich ihren ursprünglichen Antrag zurückzog und der damalige Kommissionspräsident Barroso in direkte Verhandlungen mit dem Rat trat.
Ähnlich wie eine nationale Regierung vertritt die Kommission die EU auch nach außen, vor allem in den Bereichen Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit. Sie repräsentiert die EU-Mitgliedstaaten beispielsweise in der Welthandelsorganisation und handelt die dort geschlossenen Übereinkommen selbstständig aus.
Diese Rolle der EU-Kommission ist die am besten bekannte, es ist quasi das tägliche Brot innerhalb der EU und ist leicht verständlich, eben weil es einen direkten Vergleich zu nationalen Regierungen gibt. Eine andere für die EU enorm wichtige Aufgabe ist seltener in den Medien präsent, kann jedoch genauso große Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten und ihre Bürger:innen haben: die Kontrolle des Einhaltens der Verträge der EU.
Die „Hüterin der Verträge“
Im komplexen Geflecht aus Aufgaben, Regeln und Kontrolle, das auf einer Vielzahl von verschiedenen Verträgen zwischen den Mitgliedstaaten basiert, ist es die Rolle der EU-Kommission, auch darüber zu wachen, dass alles im Sinne dieser Verträge abläuft. Sie achtet also darauf, dass die Mitgliedstaaten die europarechtlichen Verpflichtungen, die sie mit den EU-Verträgen eingegangen sind, auch einhalten.
Sie prüft beispielsweise im Rahmen der Beihilfekontrolle, ob Subventionen der Mitgliedstaaten gegen die Regelungen zum Europäischen Binnenmarkt verstoßen; die Mitgliedstaaten müssen sich solche Subventionen daher von der Europäischen Kommission genehmigen lassen, was sowohl im Zuge der Finanzkrise als auch während der Corona-Pandemie zu Konflikten führte.
Bei Rechtsverstößen der Mitgliedstaaten kann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof einleiten. Österreich hat aktuell zum Beispiel 74 offene Vertragsverletzungsverfahren gegen sich laufen, unter anderem, weil die türkis-grüne Bundesregierung sich aktuell nicht auf einen Klimaplan einigen kann – die Abgabefrist dafür aber schon abgelaufen ist.
Die kompliziertere Realität
Bereits die ganz grundsätzliche Aufzählung der Aufgaben der EU-Kommission lässt erahnen, wie kompliziert die reale Ausgestaltung sein muss. Und tatsächlich hat sich über die Jahre gezeigt, wie schwierig es teilweise ist, die genaue Rolle der Kommission zu definieren.
Es beginnt, zeitlich passend zur anstehenden Wahl des EU-Parlaments im heurigen Juni, bereits bei der Zusammenstellung der Kommission. Denn die großen Fraktionen im EU-Parlament, die quasi eine Koalition beschließen, müssen sich auf eine:n Kandidat:in für den Posten des:der Kommissionspräsident:in einigen, das ist üblicherweise der:die Spitzenkandidat:in der größten Fraktion im Parlament. Doch diese Person hat dann keinen Einfluss darauf, wer in ihrer Kommission sitzen wird – weil es die Entscheidung der Mitgliedstaaten ist, wer als Kommissar:in des jeweiligen Landes in diesem Gremium sitzt.
Im Unterschied zu nationalen Regierungen hat die EU-Kommission bei der Gesetzgebung mit dem EU-Parlament und dem Rat der Staats- und Regierungschef:innen auch zwei erheblich „mächtigere“ und selbstbewusstere Partner, die einem Vorschlag zustimmen müssen – mit teilweise ganz anderen Eigeninteressen. Vor allem der Europäische Rat hat, da dort nationale Politiker:innen entscheiden, oft andere inhaltliche Schwerpunkte als Parlament und Kommission, die beide eher das „große Ganze“ der Union im Blick haben. Trotzdem müssen sich alle drei Institutionen auf einen Kompromiss einigen.
Und auch bei der Vertretung nach außen sind die Kompetenzen der Kommission eingeschränkt. Denn dafür gibt es den:die Außenbeauftragte:n der Union, aktuell Josep Borrell. Dieser vertritt in außenpolitischen Themen die EU, leitet den entsprechenden Rat der Außenminister:innen und ist auch Vizepräsident der Kommission. Doch im Unterschied zur Kommission muss diese Rolle auch von den Staats- und Regierungschef:innen beschlossen werden.
Die EU-Kommission ist auf der einen Seite also innerhalb des komplizierten Geflechts der EU-Institutionen enorm mächtig, gleichzeitig hat sie aber weniger Kompetenzen als eine nationale Regierung. Sie prägt allerdings während der Amtsperiode die weitere Entwicklung der EU entscheidend mit. Da die Führung der Kommission direkt mit den Machtverhältnissen im Europäischen Parlament zusammenhängt, wählen die Bürger:innen bei der EP-Wahl nicht nur das Parlament der EU, sondern indirekt auch, in welche Richtung die neue Kommission die EU nach den Wahlen führt. Entsprechend mächtig ist also die Stimme der Wähler:innen bei den EU-Wahlen im Juni.