Wie ein Mann den European Way of Life kidnappte
Viktor Orbán stört etwas. Die Beitrittsperspektive für die Ukraine. Das Land, das an der EU-Außengrenze sich selbst und die europäischen Werte verteidigt, dürfe genauso keine Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft bekommen wie Moldau und Bosnien und Herzegowina. Mit dieser Meinung steht er so gut wie alleine: Seit in Polen eine proeuropäische Koalition die Trendwende geschafft hat, ist der ungarische Ministerpräsident auf EU-Ebene isoliert. Aber das stört ihn normalerweise alles nicht. Immerhin herrscht in der EU das Einstimmigkeitsprinzip.
Viktor Orbán will auch etwas anderes: Geld. Geld, das die EU-Kommission aus dem Gemeinschaftsbudget zurückhält, weil er den Rechtsstaat verletzt. Und da gehen die Verhandlungen los: Was kostet Viktor Orbáns Veto-Verzicht? Und was sagt schon alleine diese Frage über die Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union aus? Ein europäischer Gipfel in vier (ständig überarbeiteten) Akten.
Mittwochabend – Hagelgewitter
Ein Aufruhr geht durch das Europäische Parlament, das gerade in Straßburg tagt. Drüben in Brüssel hat die EU-Kommission rechtzeitig vor dem am Donnerstag beginnenden Europäischen Rat 10 Milliarden Euro an Ungarn freigegeben. Die Gelder aus dem Kohäsionsfonds wurden bisher aufgrund des Artikel 7 der EU-Verträge zurückgehalten – dem sogenannten Rechtsstaatsmechanismus.
Dieses Verfahren ist praktisch eine „Lex Orbán“. Es wurde vor genau drei Jahren mit qualifizierter Mehrheit beschlossen, um einen Mindeststandard an europäischen Werten zu definieren. Dieser sollte unter anderem an Förderungen geknüpft werden und damit gravierend illiberales Verhalten von Mitgliedstaaten sanktionieren. Was waren alle stolz auf so viel European Way of Life! Niemand war so humanistisch wie wir Europäer:innen. Sogar einen eigenen Kommissar haben wir dafür: Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas, ein griechischer Konservativer, hält das Portfolio „Promoting our European Way of Life“.
Doch nun, in einem Wimpernschlag, wird alles über Bord geworfen, um einen vermeintlichen Deal mit Viktor Orbán zu begünstigen. Dieser hatte nämlich zuvor gedroht, weder dem Start der EU-Beitrittsverhandlungen noch dem Beschluss weiterer Hilfszahlungen an die Ukraine zuzustimmen, würden die blockierten Mittel nicht sofort freigegeben. So zumindest die einhellige Lesart quer durch die EU-Bubble.
Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen! Alles reiner Zufall – kein Zusammenhang mit den Veto-Drohungen. Ungarn hat Besserung bewiesen, behaupten freilich der zuständige Budgetkommissar Johannes Hahn (ÖVP) und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). „It smells bad!“, sagt Luxemburgs liberaler Premierminister Xavier Bettel, „Madness!“ twittert ein EU-Parlamentarier. Sie sprechen aus, was der Großteil der gemäßigten Kräfte denkt: Gute Nacht, Europa!
Donnerstag Früh – Katerstimmung
Jeder EU-Gipfel beginnt mit den sogenannten Doorsteps: Die Regierungschef:innen trudeln nacheinander ein und nützen den Großauflauf von Medienvertreter:innen aus aller Welt, um sich im Vorfeld der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Verhandlungen zu positionieren. Kleine 2-Minuten-Statements, die hinterher den Verlauf der großen Entscheidungen in die gewollte Richtung lenken sollen. Wer die Kunst dieser taktischen Manöver beherrscht, kann viel erreichen. Denn die Welt hört hin.
Karl Nehammer meidet an diesem Tag auffallend stark die Mikrofone – lediglich seine überschwängliche Begrüßung des gerade noch rechtzeitig vereidigten, neuen polnischen Regierungschef Donald Tusk wird übrig bleiben. Ein Bild, das – gewollt oder nicht – mehr sagt als tausend Worte: ein Handschlag mit dem Pro-Europäer der Stunde. Dem Mann, der gerade Polen auf dem Weg zur orbánesken, antieuropäischen Autokratie gerettet hat. Ein Land, das tausende Kilometer Grenze mit der Ukraine teilt und schon alleine deshalb immer stärker an deren Seite stehen wird als andere. Nach dem Flurfunk aus dem EU-Hauptausschuss Anfang der Woche, auch Nehammer könnte ein Veto gegen ein stärkeres Europa einlegen, eine eindeutige Botschaft des Einlenkens für mehr europäische Integration.
Einer, der das Schauspiel noch besser für sich zu nützen weiß, ist Viktor Orbán: Entschieden herrscht er in die Kameras, er denke gar nicht daran, den Beitrittsgesprächen mit Bosnien und Herzegowina, der Republik Moldau und der Ukraine zuzustimmen. Die Ukraine – in Orbáns (!) Augen das korrupteste Land Europas – erfülle noch lange nicht die Kriterien für die Aufnahme von Verhandlungen. Micdrop.
Was hatte Ursula von der Leyen denn erwartet? Die Auszahlungen der zurückgehaltenen Mittel standen doch schließlich ganz, ganz bestimmt in keinem Zusammenhang mit den darauffolgenden Ratsbeschlüssen! Also war Orbán ihr auch keine Kehrtwende schuldig.
Wieder ist die Bestürzung groß. Das Urteil ist eindeutig: Die EU-Kommission hat sich erpressen lassen, Viktor Orbán hat seine Macht demonstriert, die Ukraine steht im Regen, und Wladimir Putin setzt ein Dankesschreiben an seinen Handlanger in Budapest auf. Wir haben Solidarität bei Wish bestellt, und – oh Wunder – sie ist uns in den Händen zerbrochen.
Donnerstagabend – EUphorie
Ich verlasse gerade den Zug aus Straßburg am Brüsseler Hauptbahnhof. Soeben habe ich die erste – äußerst pessimistische – Version dieses Artikels abgeschickt, da verbreitet sich die Agenturmeldung, es wurde eine Einigung über die EU-Erweiterung erzielt. Niemand hatte mit weißem Rauch gerechnet. Schon gar nicht so schnell. Die Journalist:innen vor Ort hatten sich schon auf eine (nicht unübliche) Marathonsitzung bis Sonntag eingestellt. Und dann stürzt Ratspräsident Charles Michel aus dem Raum und verkündet den „historic moment“ für die Europäische Union. Aus seinem Strahlen sprüht die Freude schöner Götterfunken.
Die Ukraine wird – nach Kriegsende und Erfüllung aller notwendigen Kriterien – offiziell ein Teil von Europa sein. Eine liberale Demokratie. Ein Teil der westlichen Hegemonie. Ein Teil des European Way of Life. Denn die Ukrainer:innen wollen das. Und wir jetzt auch. Entschieden. Und Wladimir Putin will genau das nicht. Ihm werden eindeutig Grenzen aufgezeigt. Im wahrsten Sinne des Wortes. United we stand, divided we fall!
Man will Viktor Orbán fast dankbar sein. Hatte er doch nur gebellt, aber am Ende nicht gebissen?! Weiß er doch insgeheim genauso gut wie alle anderen, wie wichtig die Solidarität mit der Ukraine auch für die Sicherheit im eigenen Land ist? Denn Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft – ob er will oder nicht. Die populäre estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas meint:
„As long as he says the wrong things but does right things, it is fine for us!“
In der Erstversion dieses Textes mutmaße ich zwei Stunden zuvor: „[…] habe ich vorerst einmal nur den Optimismus in petto, dass sein vorläufiges „Njet“ nur ein Machiavellismus ist und in den Verhandlungen noch aufweicht.“ Im Ergebnis jedenfalls ein kluger Schachzug von Orbán.
Denn schnell stellt sich heraus: So staatsmännisch, wie es sich anfühlt, war die Stimmungsumkehr des Viktor O. gar nicht. Er hatte eine österreichische Lösung gewählt: Im entscheidenden Moment nahm er die Aufforderung von Bundeskanzler Olaf Scholz an, den Saal zu verlassen. So konnte er den Weg freimachen für den notwendigen Einstimmigkeitsbeschluss, ohne selbst sein Gesicht zu verlieren. Win-win, quasi. Oder doch nur ein Puzzlestück seiner großen Erpressung? Denn so gönnerhaft hätten wir ihn doch gar nicht eingeschätzt. Was verspricht er sich also davon? Morgen würden wir mehr wissen.
Freitag – Cliffhanger
Halbwegs ausgeschlafen und vorsichtig erleichtert startet der zweite Gipfeltag. Auf der Tagesordnung steht der zweite Teil der Orbán’schen Erpressungsmasse: Weitere 50 Milliarden Euro an dringend benötigten Hilfsgeldern sollen für die Ukraine aufgestellt werden. Dafür muss der MFF – der mehrjährige Finanzrahmen der EU – aufgeschnürt werden. Und dazu braucht es wieder einmal die Einstimmigkeit im Rat. Also auch die Zustimmung von Ukraine-Kritiker Orbán.
Blockiert er, läuft die Ukraine Gefahr, im zweiten Kriegswinter an der Front ohne Waffennachschub und seine schwer leidende Bevölkerung ohne ausreichend zivile Hilfe dazustehen. Glaubt man Expert:innen, kann das den gesamten Kriegsverlauf beeinflussen. Was die Macht von Vetos bewirkt, weiß man in Österreich nur allzu gut, wenn man nach Rumänien und Bulgarien blickt.
Bald greift die Nachricht um sich, Orbán lege sich quer. Never change a winning Erpressung. Sein Junktim ist unmissverständlich: 20 Milliarden für ihn im Austausch für 50 Milliarden für die Ukraine. Denn die zuvor bereits erpressten 10 Milliarden sind nur ein Drittel der Kohäsions-Mittel, die von der EU-Kommission aufgrund von Rechtsstaatlichkeitsbedenken in Ungarn zurückgehalten werden. Er macht klar: Solange er sein Geld nicht bekommt, brauche man nicht weiterreden. Damit endet der Gipfel gegen 15 Uhr und viel früher als gedacht. Mit einem klaren Bühnentriumph für Orbán. Ein Mann im Alleingang übertönt das Schicksal Europas. Gegen die Führungsschwäche der EU-Kommission.
Nachspiel 2024 – neues Jahr, neues Glück
Beim nächsten Gipfel im Jänner muss also abermals über die Ukraine-Hilfen verhandelt werden. Es wird wieder ein hitziges Auf und Ab, davon ist auszugehen. Olaf Scholz sagte heute schon, er könne nicht jedes Mal Orbán vor die Türe schicken. Was er damit meint, ist: Wir können uns nicht jedes Mal erpressen lassen. Und er malt damit die Perspektive, einen Beschluss unter den restlichen 26 Mitgliedstaaten alleine durchzuziehen.
Die Legist:innen müssen nun kreative Wege für das Unionsbudget finden. Es muss ein Fonds aufgesetzt werden, in den alle außer einem einzahlen werden, um so die Einstimmigkeit zu umgehen und nicht ein weiteres Mal vor Orbán in die Knie zu gehen. Das wäre ein lautes Zeichen, dass wir uns nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Vielleicht holen wir ihn uns ja doch zurück, den European Way of Life. Die Chance ist da. Wir müssen nur wollen.
FANNI GAISMAYER ist Büroleiterin der NEOS-Vertreterin im Europaparlament, Claudia Gamon. Sie studierte Betriebswirtschaft an der WU Wien und Human Decision Science an der Maastricht School of Business & Economics.