Europas Weg aus der klimapolitischen Fatalismusfalle
Fangen wir mit einer Behauptung an. Europa hat in der Klimapolitik „kein Leiberl“, weil der Rest der Welt unökologisch agiere – Stichwort China. Mit dieser Aussage aus der ORF-Pressestunde rechtfertigt Reinhold Lopatka, warum sämtliche klimapolitische Ambitionen fruchtlos bleiben würden, solange nicht aller Herren Länder mitziehen. Fatalismus galore! Das Narrativ: Wir müssen uns machtlos dem Schicksal der Klimakatastrophe ergeben. Oder, weil’s eh schon wurscht ist, eben gleich mit dem Verbrenner weiterfahren.
Er bedient sich hier eines nur allzu gern strapazierten Stammtisch-Arguments. Sofort tönt in meinem Ohr die Stimme meiner Mutter, wenn ich als Kind nach diesem oder jenem blödsinnigen Trendteil bettelte, weil es Freund:innen von mir doch auch besaßen. Sie konterte dann immer mit der rhetorischen Frage: „Und nur weil die Susi aus dem Fenster springt, springst du dann auch!?“
Das falsche Argument des Reinhold Lopatka
Au contraire, Reinhold Lopatka sitzt hier im besten Fall einem Syntax-Fehler auf. Im schlechtesten Fall streut er seinem Publikum Sand in die Augen. Wenn alle (Länder) so argumentieren, beißt sich die Katze in den Schwanz. Die Antwort ist viel eher: „Be the change you want to see in the world!“ wie die Mahatma Gandhis dieser Welt sagen, oder „Marktimpulse“, wie die Ökonom:innen sagen.
Dass die europäischen Konservativen kein liebevolles Verhältnis zum European Green Deal haben, habe ich schon in einem anderen Artikel dargestellt. Ihren vorgeschützten Beweggründen dafür, die versuchen, wahltaktisch-populistische Motive zu verschleiern, möchte ich heute entgegnen.
Man könnte an dieser Stelle moralinsauer und gefühlsduselig erläutern, warum mit unserem großen zivilisatorischen und ökonomischen Wohlstand auch die Verantwortung kommt, mehr Beitrag zu leisten als the bare minimum, oder die stolzen europäisch-humanistischen Werte bedienen. Ich will aber heute nüchtern das basale wirtschaftliche Prinzip von Marktmacht und deren Effekte vergegenwärtigen. Freilich kommt man hier nicht ganz ohne Polemik aus – liefert doch der Spitzenkandidat der Ex-Wirtschaftspartei ÖVP selbst satirische Verballhornungen der betreffenden Marktgesetze: Er visioniert über Europa als zukünftiger Weltmarktführer für Verbrennungsmotoren.
Die ÖVP hat Marktwirtschaft nicht verstanden
Er will also die Größe des europäischen Markts nützen, um auf die Weltwirtschaft einzuwirken – mit einer antiquierten Technologie, deren Momentum gute 50 Jahre zurückliegt. Also quasi die Avantgarde in einem spezifischen Bereich darstellen, die internationale Nachfrage erzeugt. Ist er sich noch immer nicht ganz sicher, so lese er bei Wikipedia unter dem Stichwort „Marktmacht“ nach:
Die Komposition Marktmacht setzt sich aus den Bestandteilen „Markt“ und „Macht“ zusammen. Die Fähigkeit eines Marktteilnehmers (Anbieter, Nachfrager, sonstige Interessenten), auf andere Marktteilnehmer einzuwirken, muss sich auf einem Markt entfalten. Dabei ist erforderlich, dass sich der Einfluss eines Marktteilnehmers derart verstärkt, dass er auf Preise oder andere Marktdaten einwirken kann. […]
Marktmacht ist deshalb die Möglichkeit, das Marktverhalten von Marktteilnehmern im Sinne der eigenen Unternehmensziele zu beeinflussen. Marktmacht ist somit stets Zeitpunkt- und Einzelfall-bezogene relative Marktübermacht eines Marktteilnehmers gegenüber einem anderen.
Es geht also um eine relative Übermacht gegenüber Marktteilnehmern. Betrachtet man die relativen Anteile der großen Volkswirtschaften am globalen Bruttoinlandsprodukt, erkennt man schnell, dass China mit 18,7 Prozent bereits heute deutlich voran liegt. Es folgen die USA mit 15,5 und Indien mit 7,6 Prozent. Auf den weiteren Rängen finden sich Japan und Deutschland bereits abgeschlagen bei 3,7 bzw. 3,2 Prozent. Österreich – zum Vergleich – hält aktuell bei nicht ganz 0,4.
Kumuliert man jedoch die BIP der 27 Staaten des europäischen Binnenmarkts, so landen die EU-27 bei 14,2 Prozent. Sie verkörpern also schlagartig die viertstärkste Marktmacht in der Weltwirtschaft.
Wir lernen also: Je kleiner der Marktanteil, desto kleiner die Marktmacht. Je größer der Marktanteil, desto größer die Marktmacht.
It’s the economy, stupid!
Dieser Argumentation folgend erkennt man: Europäische Gesetzgebung wirkt direkt auf einen europäischen Binnenmarkt, der gut ein Achtel des Weltmarkts ausmacht. Auch Klimagesetzgebung. Globalisierung bedeutet: Globale Firmen suchen globale Abnehmer:innen. Und ein Achtel des Markts setzt hier unweigerlich internationale Impulse, auch mit ökonomischen und ökologischen Standards.
Das bedeutet übersetzt: Gerade europäische Gesetze, gegen die sich die ÖVP wehrt – wie das Verbrennerverbot oder das Renaturierungsgesetz – haben das Potenzial, weit über die Binnenmarktgrenzen hinaus den Weltmarkt und damit die globale Dekarbonisierung zu beeinflussen. Vorgehüpft haben wir das bereits bei der DSGVO oder zuletzt beim AI Act: Beide Gesetze haben in Kalifornien internationale Nachahmung gefunden. Wir haben also Impact. Weil wir das Angebot von und die Nachfrage nach ökologischer Innovation und klimafreundlichen Produkten steigern. Und wir als vereintes Europa in einer globalisierten Welt nicht irrelevant sind.
Das sollten wir uns nicht kleinreden lassen. Auch nicht von Herrn Lopatka.