Die Ukraine schlägt sich besser, als viele glauben
Der frühere Brigadier und Offizier Gerald Karner rückt im Gastbeitrag die öffentliche Debatte über den Ukraine-Krieg zurecht. Denn die Ukraine stehe bei weitem nicht so schlecht da, wie von vielen behauptet wird – unter anderem von russischer Propaganda.
Die Ukraine hat den Krieg schon längst verloren. Zumindest, wenn es nach einigen Beobachtern geht. Die besetzten Gebiete könne man nicht mehr zurückgewinnen, so heißt es, die Sanktionen des Westens seien wirkungslos und würden über China, Indien, den Iran und Nordkorea übergangen. Noch dazu verfüge Russland über Atomwaffen und sei daher für einen Gegner, der diese nicht besitzt, niemals zu besiegen, da es jederzeit die „Eskalationsdominanz“ habe, so der deutsche Politikwissenschaftler Johannes Varwick.
Und es geht weiter: Die russische Bevölkerung hätte noch gar nichts vom Krieg bemerkt, ein weiteres Sterben auf dem Schlachtfeld für eine bereits verlorene Sache sei daher sinnlos. Waffenlieferungen an die Ukraine würden nur zu einer Verlängerung des Leidens der ukrainischen Menschen führen. Logische Konsequenz: Der Krieg wäre über einen sofortigen Waffenstillstand „einzufrieren“, man müsse unverzüglich an den Verhandlungstisch zurückkehren. Die Ukraine müsse „die Realitäten anerkennen“ – und somit bereit sein, auf etwa ein Viertel ihres völkerrechtlich anerkannten Territoriums zu verzichten.
Diese Erzählung mit einem vordergründig rationalen Duktus stößt bei den westlichen Bevölkerungen mit ihren eigenen Alltagsproblemen und der abstoßenden Bilder des Krieges müde auf offene Ohren. Dass Russland darüber hinaus alle Möglichkeiten nutzt, dieses Narrativ im Westen zu befördern, versteht sich von selbst, ist es doch an seiner Entstehung zumindest beteiligt. Dass ernsthafte Friedensverhandlungen nicht zuletzt durch die unannehmbaren Forderungen Russlands nicht zustande kommen und letztlich die Ukraine – und nur sie – über ihre Verhandlungsbereitschaft zu entscheiden hat, geht in der westlichen Diskussion ebenfalls allzu oft unter.
Hier sollen nun nicht die Folgen einer derartigen Entwicklung für die europäische und globale Sicherheit, die Bedrohung der europäischen Wertegemeinschaft und eine gefährliche Verschiebung der globalen Machtverhältnisse behandelt werden. Das ist ein separates Thema und wird weiter zu diskutieren sein. Hier soll es um eine kurze Analyse gehen, eine Art Faktencheck, inwieweit dieses russische Narrativ auf den realen Entwicklungen beruht, was beide Seiten wirklich erreicht haben, und was das für das kommende Kriegsjahr bedeuten kann.
Hohe Erwartungen und kleine Erfolge
Zunächst ist das sogenannte Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 das stärkste Indiz dafür, dass es den ukrainischen Streitkräften nicht möglich wäre, einen durchschlagenden Erfolg zu erringen. Nun, richtig ist, dass der durch die Verspätung der westlichen Waffenlieferungen verzögerte Beginn der Landoperation im Süden der Ukraine den russischen Kräften die Möglichkeit eröffnete, ihre Verteidigung mit tief gestaffelten und gut ausgebauten, mit Minenfeldern enormen Ausmaßes verstärkten Stellungen vorzubereiten. Nachdem es klugerweise nicht den ukrainischen Prinzipien (und Möglichkeiten) entspricht, unter Inkaufnahme horrender Verluste Durchbrüche erzwingen zu wollen, blieb der Raumgewinn dort daher verhältnismäßig bescheiden.
Dass die ukrainische Gegenoffensive auch andere Elemente umfasste und an anderen Fronten teilweise große Erfolge zeitigte, ging allzu oft in der Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Bodenkämpfe im Süden unter. So gelang es der Ukraine etwa, nach der Zerstörung bzw. schweren Beschädigung mehrerer Einheiten den Abzug der russischen Schwarzmeerflotte aus dem nordwestlichen Schwarzen Meer zu erzwingen, ohne selbst über eine Flotte zu verfügen. Das ermöglichte der Ukraine eine Wiederaufnahme der so wichtigen Getreideexporte, vor allem reduzierte dieser Erfolg die Optionen für Russland, den See- und Luftraum über dem nordwestlichen Schwarzen Meer für Angriffe auf die Westukraine zu nutzen.
Im Oblast Cherson gelang der Ukraine die Bildung eines Brückenkopfs am linken Ufer des Dnipro. Auch wenn dieser nur von geringer Ausdehnung ist, bleibt er deswegen von Bedeutung, als damit russische Kräfte gebunden bleiben, weil eine ungehinderte Ausdehnung eine Bedrohung für die Besatzung der Krim bedeuten könnte.
Anlässe für ukrainischen Optimismus
Noch wichtiger für den weiteren Kriegsverlauf dürften drei weitere Ergebnisse der Kämpfe im vergangenen Jahr werden: Zum einen hatten die ukrainischen Streitkräfte bei der Bekämpfung jener russischen Ziele, die für eine erfolgreiche Fortsetzung der russischen Kriegsführung von entscheidender Bedeutung sind, besondere Erfolge zu verzeichnen. Zu nennen sind hier vor allem Führungszentralen, logistische Einrichtungen, Systeme für elektronische Kampfführung und Artilleriesysteme. Für Russland ist das nicht ohne weiteres schnell zu ersetzen.
Zum anderen gerieten die russischen Versuche, im Osten der Ukraine ab Oktober im Rahmen einer Herbstoffensive den gesamten Donbass einzunehmen, zu einem blutigen Fiasko. Die gesamten Verluste (Gefallene und Verwundete) dürften sich auf eine höhere Zahl belaufen, als zu Beginn des Überfalls 2022 an Soldaten eingesetzt war, also um die 300.000 Mann. Das im Allgemeinen eher zurückhaltende britische Verteidigungsministerium geht davon aus, dass bei einer Fortschreibung der im Herbst zu beobachtenden Verluste im Jahr 2024 die halbe Million erreicht würde.
Ähnliche Verhältnisse finden sich bei den Kampffahrzeugen der russischen Streitkräfte: Beobachter gehen davon aus, dass das zahlenmäßige Niveau an Kampfpanzern auf etwa jenes der ukrainischen Streitkräfte geschrumpft sein dürfte, und dass die Qualität der ukrainischen Panzer westlicher Provenienz wesentlich höher als die der russischen ist, die teilweise aus jahrzehntelanger Lagerung in Depots entmottet werden müssen. Die russischen Produktionskapazitäten reichen nicht aus, um die Verluste durch moderne Typen eins zu eins zu ersetzen.
Und schließlich haben sich die russischen Terrorangriffe der letzten Wochen auf zivile Ziele und die kritische Infrastruktur in der Ukraine als strategische Rohrkrepierer erwiesen. Viele Fehlschüsse sind ein Beleg für die mangelhafte Präzision der Systeme, vor allem aber die vielen Abschüsse durch die ukrainische Luftverteidigung entzauberten auch den Mythos der laut Wladimir Putin nicht abzuwehrenden Hyperschallwaffen vom Typ „Kinschal“. Während also die russischen „Wunderwaffen“ auf zivile Ziele verschwendet werden, mutet es typisch an, dass die Einnahme einer völlig in Schutt und Asche gelegten ostukrainischen Kleinstadt, Marinka, medienwirksam von Verteidigungsminister Sergei Schoigu an Wladimir Putin rapportiert wird.
Ausblick: Schlechte Karten für Putin
Kurz vor Beginn des dritten Kriegsjahres deuten jedenfalls die Parameter nicht auf einen russischen Erfolg hin. Russland benötigt offenbar Waffensysteme aus dem Iran und aus Nordkorea, um eine Fortsetzung des Kriegs zu ermöglichen. Während die ukrainische Bevölkerung trotz aller Opfer einen ungebrochenen Widerstandswillen an den Tag legt, scheint es in Russland hinter der Fassade zu bröckeln zu beginnen. Vor allem der eklatante Widerspruch zwischen den hoch gesteckten und immer wieder bekräftigten russischen Kriegszielen und dem minimalen Raumgewinn bei gleichzeitiger Inkaufnahme höchster Verluste dürfte zunehmend zu einem Problem für die russische Führung werden. Hunderttausende Tote in einer „militärischen Spezialoperation“ ohne zählbare Ergebnisse? Das plausibel zu erklären, wird auch der routiniertesten Propagandamaschine nicht ewig gelingen.
Und so dürfte Putin verstärkt auf jene Karte setzen, die er am besten spielt: Desinformation und Propaganda mit dem Ziel, den Westen zu spalten und zu schwächen, indem Wahlentscheidungen in seinem Interesse beeinflusst werden, weltweites Schüren von Krisen und Konflikten, um die Unterstützung für die Ukraine zu schwächen. Es wird nicht zuletzt von der Haltung und Unterstützung des Westens und damit von uns allen abhängen, ob die Ukraine eine reale Erfolgschance erhält und dem Ziel eines Friedens unter Wahrung der territorialen Integrität im kommenden Jahr einen entscheidenden Schritt näherkommt.