Pflegeskandal in Salzburg – der Versuch einer Herleitung
Mein Name ist Andreas Gruber, und ich bin wohl der einzige Erwachsene in Österreich, der in einem Seniorenpflegeheim groß geworden ist.
Meine Eltern haben 1977 in der Stadt Salzburg ein privates Pflegeheim geleitet, das ich nach dem Studium der Betriebswirtschaft an der FH Salzburg elf Jahre auch selbst geleitet habe. 2018 habe ich mich dann als Unternehmensberater für Seniorenimmobilien selbstständig gemacht und berate seitdem gemeinnützige Träger, Projektentwickler sowie andere Interessenten zu meinem Fachgebiet.
Wenn ich auf den Pflegeskandal in Salzburg angesprochen werde, kann ich aus elf Jahren Heimleitung natürlich ganz eigene Erfahrungen zu diesem Thema berichten – und die möchte ich auch gerne hier teilen. Dabei möchte ich nicht, wie medial verkürzt gerne üblich, die Schuldfrage stellen und einen „Schuldigen“ definieren, sondern Hintergründe erläutern, wie es dazu kommen konnte, und noch einen Schritt weiter gehen, indem ich die Frage stelle: Was muss auf welcher Ebene passieren, damit so etwas nicht mehr passiert?
Die Hintergründe des Pflegeskandals
Die Vorwürfe, die im Bericht der Volksanwaltschaft aufgedeckt wurden, sind vielfältig. Von „Verwahrlosung, Unterernährung, offenen Wunden und Dekubiti“ – das sind Fleischwunden bis auf die Knochen – ist da zu lesen. Eine Bewohnerin ist kurz nach der Einweisung ins Krankenhaus auch verstorben.
Ohne den Versuch einer Bewertung – denn das kann ich aus der Entfernung nicht – kann ich erklären, dass es Krankheitsbilder gibt, in denen Menschen nicht mehr ernährt werden wollen, z.B. verschiedene Formen der Demenz. Ein pflegebedürftiger Mensch darf aber auch vom Pflegepersonal nicht zwangsernährt werden, wenn die juristische Grundlage dafür fehlt: die Freigabe eines/einer gesetzlichen Vertreter:in. Die Pflegefachkräfte können also sehr schnell in eine Situation kommen, wo ein:e Bewohner:in einerseits Nahrung und Flüssigkeit verweigert, allerdings niemand die rechtliche Befugnis hat, die Ernährung zu verlangen – und genau dann kommt die Kontrolle. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten: Das passiert sehr oft. Und wenn dann der Kontext nicht berücksichtigt wird, kann sich ein verheerendes Bild abzeichnen.
Was man ebenso lesen konnte, ist die Überforderung der Mitarbeiter:innen, z.B. durch zu wenige Fachkräfte. Ja, das kann nach den letzten sehr fordernden 2,5 Jahren durchaus vorkommen. Und wenn Pflegekräfte überfordert sind, dann bleiben wichtige Tätigkeiten wie Essen eingeben oder Medikamentenvergabe auf der Strecke. Darf nicht sein, passiert aber, wenn für viele pflegebedürftige Bewohner:innen nicht genügend Fachkräfte anwesend sind.
Das Pflegegesetz ist nicht mehr zeitgemäß
Und hier ist auch der erste Fehler im System zu finden: Das Salzburger Pflegegesetz – die Grundlage, auf der die Salzburger Heimaufsicht die Heime kontrolliert – ist meiner Meinung nach nicht mehr zeitgemäß. Es wurde in der heutigen Form vor mehreren Jahren erlassen und seitdem nicht mehr angepasst. So fehlt in Salzburg z.B. jegliche Form eines Personalschlüssels.
In § 18 (1) des Salzburger Pflegegesetzes heißt es:
(1) Die Träger von Senioren- und Seniorenpflegeheimen haben sicherzustellen, dass ihnen für die Leistungserbringung eine ausreichende Zahl […] zur Verfügung steht.
Während in anderen Bundesländern der Personalschlüssel genau definiert ist – wie viele Mitarbeiter:innen pro Bewohner:in und Pflegestufe –, braucht es in Salzburg nur „ausreichend“ Personal. Ohne jetzt erklären zu wollen, warum diese Definition über viele Jahre sowohl für Entscheidungsträger:innen als auch Betreiber:innen „praktisch“ war, so kann man heute festhalten: Hier liegt ein Grundübel des Pflegeskandals.
Salzburg hat schon vor Jahren verpasst, das Pflegegesetz anzupassen, und hat somit eine zahnlose Personaldefinition, die Betreiber:innen alle Möglichkeiten offen lässt. COVID, Fachkräftemangel, Arbeitsbedingungen usw. sind dabei praktische Ausreden. Wie dieser Absatz im Speziellen, so bietet das Salzburger Pflegegesetz viele nicht mehr zeitgemäße Definitionen.
Und noch mit einem kurzen Nebensatz zur Salzburger Heimaufsicht, die ja die „Exekutive“ des Landes darstellt und die Heime auch kontrolliert: Auch wenn die legistische Grundlage mangelhaft ist, ist es nicht die Aufgabe der Heimaufsicht, diese zu verbessern. Die Aufgabe der Exekutive ist, das Gesetz zu exekutieren, nicht, das Gesetz infrage zu stellen. In meinen elf Jahren habe ich ausschließlich gute Erfahrungen mit der Salzburger Heimaufsicht gemacht, die meiner Meinung nach – auf einem mangelhaften Gesetz aufbauend – wirklich gute Arbeit macht.
Das angesprochene Problem der legistischen Grundlage führt somit direkt zu mehreren wesentlichen Fragen und dem zweiten Problem im System.
Wie ist es möglich, dass es in Österreich und seinen Bundesländern so unterschiedliche Pflegegrundlagen gibt?
Und warum gibt es keine Definition des Bundes – der die Pflege ja schlussendlich bezahlt – dafür, was „gute Pflege“ ist? Warum reden wir zumeist nur über die „Mindeststandards“ (also das absolut geforderte Minimum, knapp über „warm, satt, sauber“), aber nie darüber, wie wir uns gute oder optimale Pflege vorstellen? Wieso ist es legitim, dass die Pflege je nach Wohnort unterschiedlich definiert ist und man im Alter entweder Glück oder Pech haben kann? Und warum definiert der Bund nicht, wie in Österreich, egal ob in Wien, Salzburg oder Osttirol, gepflegt werden soll?
Ich halte es für dringend erforderlich, dass die Definition der Pflegequalität, wie sie in Österreich gewünscht ist, auf Bundesebene und nicht auf Länderebene erfolgt. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich alle paar Jahre mit wechselnden Regierungsprotagonist:innen ändert. (Diese Gefahr gibt es natürlich auch auf Bundesebene – diese könnte aber Mindeststandards vorgeben, an die sich die Länder zu halten haben.)
Und wenn dieser Diskurs hoffentlich schnellstmöglich und zwingend unter Einbindung von Pflegefachkräften geklärt wurde, ist der dritte Fehler im System zu klären:
Wie finanzieren wir die Pflege?
Wenn in Österreich nur die Mindeststandards definiert und dann auch nur diese finanziert werden, werden wir auch nur „Mindestpflege“ bekommen. Das ist ganz logisch, darf aber nach meinem Verständnis nicht sein. Denn die Menschen, die dieses Land aufgebaut und groß gemacht haben, haben sich, wenn sie im Alter pflegebedürftig werden sollten, die bestmögliche Pflege verdient; und nicht nur die Mindestpflege.
Aber genug des Pathos, noch einmal zur Finanzierungsfrage: Wir haben in Österreich ein diversifiziertes System. Öffentliche Hand und private (gemeinnützige) Betreiber:innen decken den von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich von der öffentlichen Hand – der Auftraggeberin – definierten Bedarf ab. Auch Caritas, Diakonie, Volkshilfe, Lebenshilfe, Rotes Kreuz usw. sind übrigens private Träger. Nur eben gemeinnützig.
Fakt ist, wir können weder die Pflege-Infrastruktur noch die Versorgung zu 100 Prozent öffentlich abdecken. Also gilt es, einen Weg zu finden, im Schulterschluss zwischen öffentlich und privat gute Pflege zu transparenten, korrekten Finanzierungssätzen anzubieten. Und bei dieser Finanzierungsfrage sollte die Auftraggeberin zwingenderweise auch definieren, wie viel „Gewinn“ eine private (sowohl gemeinnützige als auch gewinnorientierte) Betreiberin in der Pflege machen darf. Denn bis jetzt werden die Tarife in den Bundesländern zumeist als „kostendeckend“ definiert.
Aber das ist meiner Meinung nach falsch, inkorrekt und intransparent – denn auch gemeinnützige Betreiber:innen, die keinen Gewinn machen dürfen, müssen in einigen Jahren dann ihre Gebäude sanieren, Investitionen tätigen uvm. Und wie sollen sie das machen, wenn sie in den Jahren des Betriebes keinen Gewinn machen durften?
Gute Arbeit soll Gewinn bringen (dürfen)
Auch gewinnorientierte Betreiber:innen, wie die Senecura, könnten sich durch einen definierten Rohaufschlag überlegen: Machen wir diese Arbeit für diesen Gewinn? Oder eben nicht? Und dann wäre auch gleichzeitig der Vorwurf ausgelöscht, dass private Betreiber:innen auf Kosten der Bewohner:innen, Mitarbeiter:innen oder Sonstigen sparen würden.
Denn ich halte es für absolut legitim, dass man mit guter Arbeit – auch in der Pflege – Geld verdienen darf. Nur wie viel, das sollte vom Auftraggeber definiert werden und nicht über Hintertürchen den Betreiber:innen überlassen werden.
Schließlich ist es auch in anderen Bereichen, die mit dem Tod zu tun haben, erlaubt, Gewinne zu machen. Selbst der Tod kostet das Leben, und damit wird vom (Privat-)Krankenhaus über die Versicherung bis zum Bestatter auch überall Geld verdient. Wenn die Leistung gut ist, halte ich das für angebracht und akzeptabel.
Somit würde ich hier z.B. ein Anreiz-System vorschlagen. Definieren wir bitte bundesweit einheitlich, wie „gute Pflege“ zu sein hat. Und dann, was uns diese gute Pflege wert ist – also die Finanzierung. Wenn die Betreiber:innen diese gute Pflege erreichen, dann sollen sie auch Geld verdienen dürfen. 3, 4, 5 Prozent – keine Fantasie-Renditen. Aber einen ehrlichen und transparenten Gewinn, der die Leistung widerspiegelt und in einer Relation zum Aufwand steht und ein „Leben und Leben lassen“ für alle bedeutet.
Schlussendlich führt das – meiner Meinung nach – zu einer weiteren wesentlichen Verantwortung auf Bundesebene.
Zur Frage des Fachkräftemangels
Wir brauchen in Österreich allein bis 2030 – diversen Schätzungen zufolge – zwischen 75.000 und 100.000 zusätzliche Pflegekräfte. Nur, um den Status quo zu erhalten. Da reden wir noch nicht von einer „Verbesserung“. Und jetzt mal ganz im Ernst: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir unter den geltenden Rahmenbedingungen österreichische Arbeitskräfte akquirieren werden können? Genau, fast null.
Also wäre es meiner Ansicht nach zwingend notwendig (gewesen), Fachpersonal aus Drittländern einfacher auf den österreichischen Arbeitsmarkt zu bringen. Die Eintrittshürden sind trotz reformierter Rot-Weiß-Rot-Karte zu hoch. Es verunmöglicht die Mitarbeitergewinnung in Drittländern. Aus verschiedenen Berichten weiß man z.B., dass im Kosovo fast 20.000 ausgebildete Pflegekräfte auf Arbeit in der EU warten. Leider allerdings sind die Einstiegshürden in Österreich so hoch, dass es fast unmöglich ist, eine Pflegekraft aus dem Kosovo auf den österreichischen Arbeitsmarkt zu bekommen. Das darf nicht sein.
Meiner Meinung nach sollten die Nostrifikationsbestimmungen gesenkt, Ausbildung „on the job“ ermöglicht und Nostrifikanten steuerbefreit werden, um während der Nachschulungen trotzdem für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können. Die Unternehmen, die Nostrifikanten beschäftigen, sollten von einem Teil der Lohnnebenkosten befreit werden, um mit diesen Mitteln die Integration und Ausbildung zu fördern. Damit könnte sich Österreich als gutes Arbeitsland für Drittländer positionieren und hätte eine realistische Chance, den Fachkräftemangel zu beheben. Wenn wir diese Chance nicht nutzen, werden uns andere europäische Länder zuvorkommen – und wir haben alleine schon in der Pflege ein veritables Problem. Dann werden nämlich Skandale, wie jetzt in Salzburg, bundesweit auf der Tagesordnung stehen, weil die Lücke zwischen Bedarf und Angebot immer größer wird und somit eine noch größere Versorgungslücke entsteht.
Fazit und Ausblick
Ein Punkt ist mir in der Beleuchtung noch wichtig: Gesundheit und Pflege müssen von der Bundesebene abwärts durchgehend gedacht und finanziert werden.
Erst vor kurzem hat Priv.-Doz. Dr. Paul Sungler, Chef der Salzburger Landeskrankenanstalten, festgehalten, dass es in Salzburg allein 5.000 Fehlbelagstage im Krankenhaus gibt – mit Personen, die aufgrund mangelnder pflegerischer Versorgung nicht entlassen werden können. Wir belegen also teure Krankenhausbetten und verbrennen Ressourcen im System, weil wir es nicht schaffen, genügend Infrastruktur und Mitarbeiter:innen im extramuralen Bereich zur Verfügung zu stellen. Eine absurde und vor allem teure Entwicklung für die Steuerzahler:innen in Österreich.
Schlussendlich kann ich also sagen: Der Pflegeskandal in Salzburg ist das Symptom von vielen unterlassenen Handlungen auf Bundes- und Landesebene in den vergangenen Jahren. Das Symptom allein zu bekämpfen, wird keine Lösung bringen, und wir werden weiterhin von solchen Vorfällen lesen können. Davon bin ich überzeugt.
Deswegen hätte bereits gestern die Diskussion „top-down“ stattfinden sollen, wie gute Pflege in Österreich sein soll, wie wir diese Pflege finanzieren wollen, wie wir die Fachkräfte dafür auf den Arbeitsmarkt bekommen, und was auf Landesebene getan werden muss, um einen gleichmäßig guten Standard für ganz Österreich zu erreichen.
Momentan scheitert das Ministerium aber am Föderalismus. Das Ziel, eine Bundespflegekommission einzurichten, stand bereits – aber die Bundesländer scheinen mit dem aktuellen Status quo gut leben zu können, und vor allem billiger. Auch sie müssen sich bewegen, um diese Diskussion über hochwertige Pflege zu ermöglichen. Erst dann werden Pflegeskandale der Vergangenheit angehören.
ANDREAS GRUBER wurde bereits als Kind mit Pflege sozialisiert. Er berät gemeinnützige Betreiber:innen, Projektentwickler:innen und politische Entscheidungsträger:innen bei der Entwicklung von Seniorenimmobilien. Seine tiefe Überzeugung ist, dass Seniorenimmobilien einen wesentlichen Beitrag zum guten Leben im Alter leisten und einen wichtigen sozialen Impact für die gesamte Gesellschaft bringen.