Wie überzeugen wir die, die wir nicht erreichen können?
Wieso gibt’s bei euch so wenige Klimaleugner, Impfgegner und sonstige „Wissenschaftsskeptiker“?
„Na ja,“ zuckt meine portugiesische Frau die Achseln. „Wir lernen das halt in der Schule.“
Wissenschaftsfeindlichkeit ist ein globales Problem. Und Österreich liefert eine verstörend österreichische Lösung dafür: Kriegst eh alles, was du willst. Den Stolz auf „unseren“ Nobelpreis sowie den Glauben an die weltweite Verschwörung der Wissenschafter:innen. Die Titel-Besessenheit und Morddrohungen an die Doktor:innen der Medizin, die nicht Entwurmungsmittel, sondern Impfungen empfehlen. Alle fühlen sich angesprochen, alle bleiben gleich unzufrieden.
Wissenschaftsfeindlichkeit: Weder neu noch österreichisch
Die „Skepsis“ ist allerdings weder ein neues noch ein österreichisches Phänomen. Und ob sie sich unbedingt auf den durchschnittlichen Bildungsgrad bezieht, ist auch eine offene Frage.
Ein Beispiel, das einem sofort einfällt, ist das von Linus Pauling. Einer der Gründer der modernen Chemie und der einzige Doppel-Nobelpreisträger, dem beide Nobelpreise solo verliehen wurden, empfahl ebenfalls, Pferdedosen von Vitamin C zu sich zu nehmen. Da er diesem Ratschlag selbst tagtäglich folgte und erst mit 93 verstarb, wurde Pauling schnell zu einer der Alternativmediziner-Ikonen – obwohl die Wissenschaft, deren tatsächliche Ikone er für immer bleibt, deutlich gegen so eine Präventivtherapie spricht. Ein anderes Beispiel: Steve Jobs und seine Versuche, Krebs mit Alternativmedizin zu bewältigen. Oder dieser Bekannte von dir, der sich trotz Falter-Abo nicht impfen lässt.
Man muss zugeben, die Niveaus von Forschung und Ausbildung sind in Österreich ziemlich hoch. Nicht alle werden auf Anhieb zwischen den Schwarzweißfotos von Ludwig Boltzmann und Anton Zeilinger unterscheiden können – doch Bildungsmangel wird in unserem Land auch nicht als cool empfunden.
Das Problem der Wissenschaftsfeindlichkeit ist extrem facettenreich und lässt sich leider nicht durch ein leichtes Anziehen einer losen Schraube im Bildungssystem lösen. Es gibt kein Wundermittel gegen Wissenschaftsskepsis, ebenso wenig wie ein Allheilmittel. Ich will mich auf eine Facette fokussieren, die nicht oft genug beleuchtet wird:
Warum werden Leute überhaupt „skeptisch“?
Die meisten Skeptiker:innen sind also nicht besonders ungebildet, ganz im Gegenteil: Ein typischer Einstein-Widerleger oder Klimawandelleugner, der mich über seine Theorien mithilfe von regelmäßigen E-Mails auf dem Laufenden hält, hat einen Uni-Abschluss – oft in Ingenieurwesen – und ist sogar seit Jahren in einem technischen Bereich tätig.
Er – unter meinen Einwegkorrespondenten gibt es fast keine Frauen – weiß also genug, um sich für einen Bereich interessieren zu können, aber nicht genug, um zu verstehen, wie viel Arbeit man zuerst hineinstecken muss, bevor man überhaupt in der Lage ist, ein komplexes Thema zu beurteilen. Hier drängt sich ein Satz über den Dunning-Kruger-Effekt geradezu auf, ich werde ihn dennoch vermeiden. So eine Vereinfachung wäre einerseits durchaus grob, doch andererseits nicht grob genug, um den Ursprung der Wissenschaftsskepsis gründlich verstehen zu können.
Deswegen vereinfache ich das Ganze noch weiter, auch auf die Gefahr hin, etwas banal zu klingen: Meiner Meinung nach werden Leute zu Wissenschaftsleugnern aus genau demselben Grund, aus dem sie fast alles andere in ihrem Leben bewusst oder unbewusst tun. Weil es sich gut anfühlt.
Am liebsten verweilen die meisten Leute innerhalb ihrer Komfortzone. Diese verlassen sie extrem ungern. Das betrifft selbstverständlich nicht nur die Wissenschaft – die ist den meisten vollkommen egal. Leute ziehen nicht gerne um, haben Angst vor unbekannten (oder schon bekannten?) fremden Akzenten und bevorzugen Bargeld gegenüber irgendwelchen Investitionen.
Als Physikprofessor werde ich, sehr grob gesagt, dafür bezahlt, dass ich Forschungsprobleme mithilfe der Logik und der wissenschaftlichen Methode identifiziere und letztendlich löse. Und trotzdem glaube ich nicht so fest an die Macht der logischen Argumente, wenn es sich um emotionale Entscheidungen und die Komfortzone handelt.
Geh impfen – hier sind die Statistiken und die COVID-Sterberaten. Verzichte auf Autos und Fleisch – hier sind die Temperaturmessungen mit ausführlicher Analyse von Klimaexpert:innen. Wir zerbrechen uns den Kopf: Wieso reagieren sie, sowohl die Bevölkerung als auch manche Politiker, nicht auf unsere logischen Argumente?
Die Frage, die wir uns stattdessen stellen müssen, ist aber eine andere.
Warum sollen sie auf unsere logischen Argumente überhaupt reagieren?
Was wäre ihre Motivation, unserem Ratschlag folgend, ihre Meinung – und vor allem ihr Verhalten – zu ändern?
Es ist äußerst angenehm, ausschließlich in der eigenen Blase zu leben, nur mit Gleichgesinnten zu reden und nie seine Meinung ändern zu müssen. Als Wissenschafter verstehe ich das durchwegs: In meinem Job muss ich aus meiner Komfortzone fast jeden Tag herauskommen. Wenn man radikal neue Konzepte begreifen muss, fühlt man sich fast unvermeidbar dumm – wem bitte gefällt das?
Außerdem gibt es bei Wissenschaftsskeptikern und insbesondere bei Verschwörungstheoretikern so ein Gefühl von „Ich weiß etwas, was die anderen nicht wissen“, da die Regierung, Pharmakonzerne oder die Wissenschaft die ganze Wahrheit verbergen. Ein ähnliches Gefühl: „Das weiß noch niemand!“ – doch ohne die Verschwörungsvermutung – bekommt man auch in Naturwissenschaften, wenn man etwas grundlegend Neues entdeckt. Sogar bei den erfolgreichsten Forscher:innen passiert das allerdings maximal ein paar Mal im Leben, und dieses Gefühl ohne jahrzehntelange harte Arbeit genießen zu dürfen, ist in der Tat ziemlich verlockend. Die Zugehörigkeit zu einer kleinen, aber geschlossenen Gruppe, die dem Rest der Welt den Widerstand leistet: Das verleiht auch dem Leben mehr Sinn.
Man braucht also eine extrem starke Motivation, um seine Komfortzone zu verlassen. Die Aufgabe der Politik ist es, der Bevölkerung diese Motivation zu geben.Die Herausforderung aber ist: Die Leute, die wir erreichen wollen, ignorieren nicht nur populärwissenschaftliche Artikel. Sie vertrauen in diesen Fragen auch niemandem aus der Politik.
Wie überzeugen wir denn die Leute, die uns überhaupt nicht hören?
Die wissenschaftsfeindliche Atmosphäre in der gesamten Gesellschaft ist, wie Physiker:innen es nennen würden, ein „emergentes“ Phänomen: Wie Eigenschaften von Materialien, die durch Wechselwirkungen zwischen Myriaden und Atomen entstehen, kommen auch die Charakterzüge einer Gesellschaft durch den Meinungsaustausch zwischen einzelnen Menschen zustande. Und wie dieselben Wassermoleküle einen Eiskristall, flüssiges Wasser oder gasförmigen Dampf bilden können, sind verschiedene „Aggregatzustände“ einer Gesellschaft auch möglich, obwohl sie immer noch aus denselben Bürgerinnen und Bürgern besteht.
Die Aggregatzustände lassen sich durch die Wahl der äußeren Bedingungen ändern. Senkt man die Temperatur, wird Gas zur Flüssigkeit. Setzt man die Flüssigkeit unter Druck, bekommt man einen festen Kristall. Schlägt eine globale Krise zu oder intensiviert sich die Kommunikation zwischen den Menschen durch das Internet, ändert sich in der Gesellschaft auch vieles.
Das heißt, sogar dann, wenn wir nicht in der Lage sind, die einzelnen Menschen zu erreichen, können wir dennoch versuchen, den Zustand der gesamten Gesellschaft durch die Änderung der Lebensbedingungen zu beeinflussen. Wenn uns das gelingt, ändern sich nachfolgend auch die individuellen wissenschaftsfeindlichen Meinungen.
Unter Lebensbedingungen verstehe ich nicht ausschließlich die finanziellen Aspekte und die persönlichen Grundfreiheiten, obwohl diese zweifellos eine wichtige Rolle dabei spielen. Wir müssen eine neue Kultur entwickeln, indem wir die Kommunikation und den Meinungsaustausch zwischen den Menschen sowohl innerhalb Österreichs als auch international fördern. Denn sowohl Verschwörungstheorien als auch Populismus und Fremdenhass überleben nur in geschlossenen Gesellschaften.
Wir brauchen eine Kultur, in der es nicht beschämend ist, seinen Irrtum zuzugeben und seine Meinung zu ändern. Wo es als cool gesehen wird, nicht nur körperlich – wie beim Extremsport –, sondern auch geistig aus seiner Komfortzone herauszutreten. Wir brauchen mehr öffentliche Diskussion, wobei es selbstverständlich sein soll, dass nicht alle Meinungen gleich wichtig sind, obwohl alle ein Recht auf ihre eigene Meinung haben.
Zum Unterschied vom Körperlichen und Geistigen – warum glauben alle, sie können mit einem Nobelpreisträger über sein Spezialgebiet diskutieren, aber nicht mit einem Box-Champion kämpfen? Warum gibt es keine Live-Kämpfe zwischen den Klitschko-Brüdern und irgendwelchen Amateuren, die glauben, dass sie mehr vom Boxen verstehen? Das läge vielleicht zu weit außerhalb der Komfortzone der meisten Skeptiker.
Wir Wissenschafter:innen sollten der Bevölkerung erklären, dass Wissenschaft ein Prozess und keine Sammlung von „Fakten“ ist, wobei der Ablauf dieses Prozesses sehr streng von der wissenschaftlichen Methode geregelt ist. Vor allem sollten wir der Bevölkerung das Konzept von Wahrscheinlichkeit vermitteln, um der Ausrede „mein Onkel hat ja auch geraucht und getrunken und ist erst mit 98 verstorben“ ein Ende zu setzen. Wissenschaft kann noch nicht alle Fragen genau beantworten. Aber wie beim Gesellschaftssystem die Demokratie ist sie das Beste, was uns zur Verfügung steht.
Auf diese Weise – durch Förderung der Kommunikation und öffentlichen Diskussion – können wir die Wechselwirkungen zwischen den „Molekülen“ der Gesellschaft steigern und eine chaotische Flüssigkeit in einen schönen Kristall verwandeln. Ohne Druck ausüben zu müssen.
MIKHAIL (MISHA) LEMESHKO ist Professor der theoretischen Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg. Er wuchs im Südwesten Russlands auf, wo er in Rostow-am-Don Physik studierte. Mit 22 hat er Rostow für Berlin verlassen, wo er vier Jahre lang an seiner Doktorarbeit forschte. Bevor er die Professorenstelle am ISTA angenommen hat, lebte er drei Jahre lang in den U.S.A., wo er als Postdoktorand an der Harvard-Universität tätig war. Seit 2014 wohnt er in Wien und genießt das Pendeln in der falschen Richtung.