Zur militärischen Landesverteidigung Österreichs – Anspruch, Wirklichkeit und Perspektiven
Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt ein Hauptgrund der Vernachlässigung des österreichischen Bundesheers durch die Politik in den letzten Jahrzehnten an der mangelnden Kommunikation seiner Aufgaben nach dem Ende des Kalten Kriegs.
Überfliegt man heute den Landesverteidigungsplan von 1985, so erstaunt, mit welcher Klarheit damals in einem offen verfügbaren Dokument die Aufgaben des Bundesheers, seine quantitativen und qualitativen Fähigkeiten sowie seine zeitlichen Entwicklungsziele dargelegt waren. Seit 1991 war es damit – von einer (halben, s. u.) Ausnahme abgesehen – vorbei.
Beschäftigt mit jeweils aktuellen Herausforderungen – etwa den Zerfallskriegen im ehemaligen Jugoslawien seit 1991 oder den Implikationen des EU-Beitritts 1995 – erfolgten bis heute keine klaren Entscheidungen über die sicherheitspolitische Orientierung Österreichs im sich wandelnden strategischen Umfeld. Also auch keine Entscheidungen, auf deren Basis Ableitungen für eine entsprechende Entwicklung des Bundesheers zu treffen und zu kommunizieren gewesen wären. Die Kommunikation erfolgte hauptsächlich durch bundesheerintern erstellte Planungsgrundlagen, in denen versucht wurde, die militärische Substanz durch „Gesundschrumpfen“ der Strukturen des Kalten Krieges zu erhalten – begleitet vom ständigen Kampf um die Mittel, die es für eine gleichzeitige Modernisierung bräuchte.
Die ignorierte Reformkommission
Die (halbe) Ausnahme bildete die Bundesheerreformkommission „ÖBH 2010“, mit der neuerlich klare politische Richtlinien für die Entwicklung des Bundesheers erarbeitet werden sollten. Dies gelang zwar im Wesentlichen, litt aber unter mehreren grundlegenden Problemen: Die Kommission hatte „Empfehlungen“ auszusprechen. Deren Umsetzung oblag naturgemäß der Politik, und trotz aller Beteuerungen, diese Gelegenheit eines parteiübergreifenden Konsenses „eins zu eins“ umsetzen zu wollen, kam es nie zu entsprechenden gesetzlichen Regulativen, ja nicht einmal zur Erfüllung der wesentlichsten Empfehlungen.
Nach der Eurofighter-Diskussion und zwei Nationalratswahlen 2006 und 2008 mit einem Regierungswechsel war diese Chance verspielt, und man überließ das Bundesheer wieder weitgehend sich selbst, wobei bei ständig verringerten Budgets immer weniger „Substanz“ verfügbar war, auf die man es hätte „gesundschrumpfen“ können.
Ein zweites Kernproblem der Ergebnisse dieser Kommission lag in der ergebnisleitenden Grundphilosophie. In den Vorarbeiten des EU-Vertrags von Lissabon war eine Entwicklung der EU hin zu einer Verteidigungsunion im Rahmen der GESVP klar erkennbar und die Haltung Österreichs dazu damals sehr aufgeschlossen. All jenen, die heute die Ergebnisse der „Zilk-Kommission“ kritisieren, sollte daher klar sein, dass eine Ausrichtung des Bundesheers an europäischer Solidarität, enger Kooperation und konsequenter Interoperabilität mit den europäischen Partnerstreitkräften politisch gewollt war.
Mit den Nachwehen der Eurofighter-Diskussion und der parteipolitisch teilweise gehässig geführten Diskussion unter Instrumentalisierung bundesheerinterner Interessengruppen im Vorlauf der Volksbefragung über die Wehrpflicht 2013 war es dann endgültig vorbei mit einer politischen Klarheit über die Entwicklung des Bundesheers. Die politischen Präferenzen tendierten eher wieder zu EU-Skepsis, Betonung der militärischen Neutralität und von Assistenzeinsätzen für zivile Behörden. Das Ergebnis war eine beinahe zehnjährige Stagnation, bei dramatisch sinkenden Budgets substanziell gefährlich für eine Erhaltung militärischer Kernfähigkeiten.
Was soll, kann, muss das Bundesheer leisten?
Stellt man nun die Frage nach der aktuellen Einsatzbereitschaft des Bundesheers, so geht dies nicht ohne die eben entscheidende Antwort auf die zentrale Vorfrage: Für welche Einsätze soll das Bundesheer bereit sein? Einsatzbereit zu sein heißt für Streitkräfte letztlich, zeitlich und räumlich definierte und qualitativ und quantitativ klar beschriebene Aufgaben erfüllen zu können.
Die öffentlich verfügbaren Grundlagen bzw. Informationen erlauben jedenfalls keine belastbare Überprüfung, inwieweit welche Einsätze aktuell zu bewältigen wären oder bis zu welchem Zeithorizont die Fähigkeit dazu geplant wäre. Man kann aber davon ausgehen, dass – neben der Stellung von „Experten“ in multinationalen Einsätzen – die einzigen in der Sicherheitsstrategie von 2013 und der Teilstrategie Verteidigungspolitik aus 2014 konkret genannten quantitativen Vorgaben erfüllbar sind: 12.500 Soldat:innen aus präsenten Kräften – Kaderpersonal und ausreichend ausgebildete Rekruten – für Katastrophenhilfe sowie 1.100 Soldat:innen als dauerhafte Präsenz aktiver und Milizkräfte in Auslandseinsätzen.
Dass die aktuelle Mobilmachungsstärke von insgesamt 55.000 Soldat:innen für eine „Abwehroperation“ – soll heißen, militärische Landesverteidigung gegen einen konventionellen militärischen Angriff auf Österreich – seitens des aktuellen Generalstabschefs als nicht ausreichend gesehen wird, ist selbstverständlich, kann allerdings im Licht der geringen Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer derartigen Bedrohung auch gelassen gesehen werden. Dass er diese Stärke für eine „Schutzoperation“ als ausreichend sieht, ist interessant, leider wird nicht näher erläutert, was er darunter versteht. Die Annahme, dass die Bevölkerung dies ohnehin zu verstehen hätte, wäre wohl auch verfehlt. Und dass eine aktive Überwachung des Luftraums – von einem Schutz ganz zu schweigen – in den Nachtstunden in vollem Umfang nicht möglich ist, ist ein offenes Geheimnis.
So mangelt es also immer noch an der klaren Kommunikation, was das Bundesheer zu leisten hätte, und ohne klare, politisch akkordierte Ziele wird kein „Risikobild 2023“ und kein „Aufbauplan 2032“, wie sich die internen Papiere des BMLV nennen, nachhaltig für eine adäquate Entwicklung des Bundesheers sorgen können. Zu schwankend haben sich in der Vergangenheit die politischen Präferenzen entwickelt.
Viele offene Fragen der Verteidigungspolitik
Eine unverzichtbare Bedingung für eine klare Kommunikation stellt eben eine verbindliche Richtungsentscheidung der Politik dar. Inwieweit wollen wir neutral bleiben? Inwieweit wollen wir gegebenenfalls solidarisch sein? Was können, wollen und müssen wir einsetzen, um diese Positionen auch glaubwürdig vertreten zu können? Und um das klar zu sagen: Das muss nicht bedeuten, sich zwangsläufig für alle Eventualitäten festzulegen und sich im Anlassfall keinen Handlungsspielraum mehr zu lassen. Aber um überhaupt die Möglichkeit einer Entscheidung zu haben, ob man solidarisch handeln will oder nicht, muss man zuallererst die Fähigkeit dazu haben – und zwar vorbereitet und berechenbar.
Um das etwas konkreter zu formulieren: Niemand kann aktuell verlässlich prognostizieren, wie der Krieg in der Ukraine ausgehen wird. Verbleibt danach eine potenzielle militärische Bedrohung für die zentral- und osteuropäischen Partnerstaaten der EU? Wie wollen wir uns verhalten, sollte diese Bedrohung sich konkret manifestieren? Wollen wir uns an einer gemeinsamen Verteidigung der EU konkret mit Truppen außerhalb Österreichs beteiligen? Oder uns auf den Schutz des eigenen Territoriums beschränken?
Wie stark sollte im ersten Fall der österreichische Beitrag sein? Und was bedeutet es etwa, wenn die EU die Logistik ihrer Streitkräfte über österreichisches Territorium führen will? Was müssten wir dann an Fähigkeiten zur Abwehr von Drohnen, Marschflugkörpern und gegebenenfalls sogar ballistischen Lenkwaffen aufweisen? Was zum darüber hinausgehenden Schutz der kritischen Infrastruktur und der Lebensgrundlagen der Bevölkerung?
Wohin sich das Heer entwickeln muss
Ohne einer Beantwortung dieser Fragen im Detail vorgreifen zu wollen, lassen sich aus dem Krieg in der Ukraine aber jedenfalls jetzt bereits einige Aussagen zu den grundsätzlich erforderlichen Entwicklungsrichtungen des Bundesheers ableiten:
- Jene Kräfte, die für einen Einsatz im Ausland vorgesehen sind, werden hochprofessionell zu halten sein – unerheblich, um welchen Einsatz es sich handelt bzw. ob sie aus dem aktiven oder aus dem Milizstand stammen. Inwieweit das derzeitige Dienst- und Besoldungsrecht die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Soldat:innen dafür erlaubt, hängt klarerweise auch vom quantitativen Anspruchsniveau und der Art der Einsätze ab. Die Entwicklung einer gesunden personellen Basis bei der Truppe muss jedenfalls hohe Priorität haben.
- Österreich ist gegenwärtig gegen Angriffe aus der Luft weitgehend ungeschützt – das bedeutendste Versäumnis der letzten Jahre in der Entwicklung militärischer Fähigkeiten. Niemand wird behaupten können, dass fünf einsatzbereite Eurofighter in der Lage wären, in den Luftraum eindringende Drohnen und Marschflugkörper nachhaltig abzuwehren. Fliegerabwehr in mittleren oder größeren Höhen ist nicht vorhanden. Der Herstellung eines angemessenen Schutzes des Luftraums wird daher höchste Priorität zuzumessen sein.
Dies gilt sowohl für Qualität und Quantität dafür geeigneter Flugzeuge als auch für Abwehrlenkwaffen. Ein Blick in die Schweiz, wo auf Basis wesentlich günstigerer Voraussetzungen die Entscheidungen für die zukünftigen Kapazitäten längst getroffen sind, mag dafür richtungsweisend sein. Es mutet jedenfalls etwa seltsam an, wenn die Verteidigungsministerin bei jeder Gelegenheit betont, ohnehin alle Planungspapiere in der Schublade zu haben, um dann Monate, nachdem die Mittel gesichert scheinen, noch immer keine Grundsatzentscheidung zur Alternative Aufstockung der Eurofighter-Flotte und/oder Neubeschaffung von Jet-Trainern getroffen zu haben. - Nicht nur für die Luftstreitkräfte, sondern auch für die Systeme der Landstreitkräfte gilt, dass weitere quantitative Einschränkungen nicht mehr anzudenken und darüber hinaus verbindliche Rhythmen für Anpassungen des Kampfwerts an die sich ständig verändernde Bedrohungssituation festzulegen sind. Es hätte des Krieges in der Ukraine für die Erkenntnis eigentlich nicht bedurft, um zu erkennen, dass veraltete Waffensysteme auf dem Schlachtfeld zur leichten Beute hochmoderner werden, und dass eine möglichst reibungslose Unterstützung zwischen Partnern möglichst gleiche technische Standards erfordert.
Die größte Herausforderung der österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bildet aber die Herstellung eines politischen Grundkonsenses, welche Richtung die Streitkräfteentwicklung in Österreich im Großen zu nehmen hätte.
Die Voraussetzungen dafür scheinen unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine günstig zu sein. Es wäre hoch an der Zeit, diese Gelegenheit zu nützen und in dieser letztendlich potenziell existenziellen Frage die parteiübergreifende Abstimmung zu versuchen – zum Wohl der Republik und ihrer Bevölkerung. Das sollte der Politik eigentlich ein Anliegen sein. Gelingt dies nicht, werden bald nach einer Beruhigung der Lage in Osteuropa wieder parteitaktische Überlegungen die Entwicklung des Bundesheers dominieren.
GERALD KARNER ist Offizier und Experte für Verteidigungspolitik. Bis 2006 war er im österreichischen Bundesheer tätig, zuletzt im Rang eines Brigadiers.