Europas Stärkung: Geopolitische und geoökonomische Imperative
In einer Welt, die zunehmend von geopolitischen Spannungen und wirtschaftlichen Herausforderungen geprägt ist, ist es für Europa entscheidend, seine geopolitische und geoökonomische Position zu stärken. Der aktuelle Trend hin zu Protektionismus, Handelsrestriktionen und nationalistischem Denken bedroht die Stabilität und das Wohlstandsniveau des gesamten Kontinents.
Es gibt überzeugende Argumente, die eine stärkere Integration und Zusammenarbeit innerhalb Europas befürworten: Historische Beispiele, aktuelle Entwicklungen und geoökonomische Logik. Dazu kommt, dass Länder wie Österreich auf die EU angewiesen sind und zugleich für ein starkes Europa unerlässlich bleiben. Dieser Text soll einen Überblick über diese Argumente geben.
Historische Lektionen
Polen und die Ukraine als zwei Extreme der europäischen Integration
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel, das die Vorteile der europäischer Integration aus den letzten dreißig Jahren aufzeigt, ist die wirtschaftliche Entwicklung Polens im Vergleich zur Ukraine. Anfang der 1990er Jahre, nach dem Ende des Kalten Krieges, befanden sich beide Länder auf einem ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau, mit einem BIP pro Kopf von etwa 9.500 USD. Während es Polen gelang, sich in die europäische Struktur zu integrieren und EU-Mitglied zu werden, blieb die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine aufgrund der Spaltung zwischen pro-westlicher und pro-russischer Orientierung auf der Strecke. Nur 30 Jahre später war das BIP pro Kopf in der Ukraine nahezu unverändert geblieben – während es in Polen auf über 27.000 USD gestiegen war.
Diese beeindruckende wirtschaftliche Leistung Polens kann direkt auf die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zurückgeführt werden. Die EU ermöglichte Polen den Zugang zu einem riesigen Binnenmarkt, förderte ausländische Investitionen und bot erhebliche finanzielle Unterstützung für Infrastruktur und Entwicklung. Dieses Beispiel zeigt, dass die europäische Integration in die EU entscheidend für nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Wohlstand ist.
Es ist nicht überraschend, dass infolge der größten (und erfolgreichsten) Erweiterungswelle der EU mit dem Beitritt der zentral- und osteuropäischen Staaten in den Jahren 2004 und 2007 der russische Präsident Putin auf die Idee einer „eurasischen Wirtschaftsintegration“ kam. Er rief die Eurasische Wirtschaftsunion nach dem Muster der EU ins Leben, bis hin zu Überlegungen einer gemeinsamen Währung. Heutzutage strebt er eine Zusammenarbeit und sogar eine tiefergehende Verflechtung zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der chinesischen Seidenstraße von Xi Jinping an. In Zeiten größter geopolitischer Polarisierung und Fragmentierung wird regionale Wirtschafts- und Handelsintegration weiterhin für Stabilität sorgen. Vor diesem Hintergrund wird die europäische Integration weiterhin eine Vorreiterrolle einnehmen, um Deglobalisierungstendenzen und Entkopplungsbemühungen zwischen den systemischen Rivalen Amerika, China und Russland entgegenzuwirken.
Das Beispiel Großbritannien: Die Folgen des Brexit
Ein konkretes Beispiel, das die negativen Folgen eines tatsächlichen Austritts aus der EU verdeutlicht, ist Großbritannien. Die Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, hat erhebliche wirtschaftliche Nachteile mit sich gebracht. Schätzungen zufolge hat der Brexit die britische Wirtschaft im Vergleich zu anderen EU-Ländern um etwa fünf Prozent beeinträchtigt.
Die Wall Street Bank führt dieses Defizit auf drei Hauptfaktoren zurück: Weniger Handel, schwächere Unternehmensinvestitionen und geringere Einwanderung aus der EU. Gabriel Felbermayr, Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts WIFO, berechnet, dass das Vereinigte Königreich nach dem Brexit kaufkraftbereinigt neun Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verloren hat. Er rechnet außerdem vor, dass die 114 Euro, die man im Durchschnitt pro Kopf für die EU-Mitgliedschaft in Österreich ausgibt, etwa 3.900 Euro an Vorteilen einbringen. In Österreich würde ein „Öxit“ ein Minus von acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts bedeuten – wobei zwei Drittel davon durch den Austritt aus dem Binnenmarkt erklärt würden.
Der Brexit hat außerdem gezeigt, dass die Abschottung von der EU, vor allem der Austritt aus dem Binnenmarkt, zu einem Verlust an wirtschaftlicher Dynamik und internationalem Einfluss führt. Großbritannien kämpft nun mit Handelsbarrieren, sinkenden Investitionen und einem Fachkräftemangel, der durch die Einschränkung der Einwanderung verschärft wird. Das zeigt deutlich, dass die Mitgliedschaft in der EU nicht nur wirtschaftliche Vorteile bietet, sondern auch eine entscheidende Rolle bei der Sicherstellung politischer Stabilität und internationaler Einflussnahme spielt.
Warum ein stärkeres Europa notwendig ist
Europa steht vor einer Reihe bedeutender Herausforderungen, die seine geopolitische und geoökonomische Stellung bedrohen. Trotz seiner wirtschaftlichen Stärke im Vergleich zu Amerika und China war die EU bis jetzt nie ein bedeutender geopolitischer Akteur. Angesichts der drohenden strukturellen und systemischen Krisenhaftigkeit in den nächsten 15 bis 20 Jahren ist es entscheidend, dass Europa eine proaktive strategische Rolle übernimmt, um seine Position zu festigen und seine Zukunft zu sichern. Dabei sieht sich Europa mit folgenden gravierenden Herausforderungen konfrontiert.
Die veränderte globale Ordnung
Europas geoökonomische Vorherrschaft stand lange Zeit auf drei stabilen Säulen: Sicherheit aus Amerika, Energie aus Russland und Auslagerung der Geschäfte nach China. Diese Säulen sind nun fast gleichzeitig ins Wanken geraten: Die USA haben ihre außenpolitische Prioritäten verschoben, die Energieabhängigkeit von Russland ist durch die geopolitischen Spannungen mit Europa und den tobenden Zermürbungskrieg in der Ukraine äußerst problematisch geworden, während Chinas Wirtschaftswachstum sich verlangsamt hat und der chinesische Markt zunehmend unsicher für die europäischen Unternehmen ist.
Die EU ist sterblich und kann sterben, wie Macron kürzlich in seiner Rede an der Sorbonne-Universität deutlich machte. Das liegt nicht nur am andauernden russischen Vernichtungskrieg inklusive unkonventionelle Kriegsführung gegen die europäische Sicherheitsordnung und dem steigenden Wettbewerb zwischen China und den USA – sondern auch am Erstarken der populistischen Kräfte von rechts und links auf dem Kontinent, die den Zusammenhalt der Union von innen bedrohen.
In einer stark fragmentierten und polarisierten globalen Ordnung können kleine und mittelgroße europäische Mitgliedstaaten wie Österreich, die stark exportorientiert sind, ihre wirtschaftlichen und handelspolitischen Interessen nicht mehr allein durchsetzen. Sie sind zunehmend auf die Kompetenzen und Netzwerke von institutionellen Akteuren wie der Europäischen Kommission, dem Europäischen Diplomatischen Dienst und der Europäischen Zentralbank angewiesen. Diese Institutionen sowie die kollektiven Entscheidungsgremien der EU-Mitgliedsstaaten bieten den notwendigen Rahmen, um die heutigen geoökonomischen und geopolitischen Herausforderungen zu meistern und die Interessen der Mitgliedstaaten effektiv zu vertreten.
Geopolitische Spannungen und militärische Bedrohungen
Der schlimmste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, bei dem Russland die Unterwerfung der Ukraine und die Zerstörung der europäischen Sicherheitsarchitektur anstrebt, stellt eine unmittelbare Bedrohung dar. Zusätzlich verschärft der Kalte Krieg 2.0 zwischen Amerika einerseits und China und Russland andererseits, die geopolitischen Spannungen und beeinflussen Europa negativ, insbesondere durch die Instrumentalisierung von Abhängigkeiten von Rohstoffen, Migrationswellen, Lieferketten, nukleare Erpressung und hybride Kriegsführung.
Der Rückzug der USA aus Europa zugunsten des Indo-Pazifiks zwingt Europa, mehr in seine eigene Sicherheit und Verteidigung zu investieren. Das umfasst auch die Unterstützung der Ukraine durch eine Kriegswirtschaft, wie der europäische Kommissar Breton verkündet hat. In dieser angespannten geopolitischen Lage muss Europa seine Verteidigungsfähigkeit stärken und eine größere Verantwortung innerhalb der NATO übernehmen. Die österreichische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird von diesen Entwicklungen direkt betroffen sein.
Geoökonomische Argumente
Demographische Herausforderungen und Energiekrise
Die EU hat eine alternde Bevölkerung, was zu einem steigenden Anteil des BIP für die soziale Wohlfahrt führt. Diese demographische Entwicklung stellt eine erhebliche Belastung für die öffentlichen Finanzen und Sozialleistungen dar und erfordert innovative Ansätze zur Alterssicherung und Gesundheitsversorgung. Österreich ist vom außerordentlich hohen Arbeits- und Fachkräftemangel betroffen, der sich in den nächsten Jahren aufgrund der demographischen Entwicklung voraussichtlich noch verstärken wird.
Gleichzeitig ist Europa ein energiearmer Kontinent, der unter unzureichender Energieproduktion und dem Mangel an billiger und zugänglicher Energie leidet. Diese strukturelle Energiekrise gefährdet die wirtschaftliche Stabilität und das Wachstum des Kontinents. Die Energiediversifizierung weg von russischen fossilen Brennstoffen wird sich weiterhin intensivieren. Allerdings werden EU-Länder mit hoher Abhängigkeit wie Österreich Schwierigkeiten haben, dies kurzfristig zu erreichen: Im März lag der Anteil des russischen Gas bei 93 Prozent, im Februar bei 87 Prozent und im Jänner bei 97 Prozent.
Sollte der Austritt der Ukraine aus dem Transitvertrag mit Russland bis Ende des Jahres gelingen – oder wie die OMV erstmals warnt, dass der russische Gazprom-Konzern seine Gaslieferungen an den österreichischen Mineralölkonzern einstellen könnte –, so käme es nicht nur zu einem Preisanstieg, sondern sogar zu einer neuen Energiekrise. Deshalb wird sich Österreich nicht nur auf einzelne EU-Mitgliedstaaten wie Italien, Deutschland und Norwegen verlassen, sondern auch auf die Unterstützung der EU – beispielsweise durch die kollektive Plattform für gemeinsame Gaseinkäufe.
Technologische Herausforderungen und wirtschaftliche Transformation
Während Amerika und China in der vierten industriellen Revolution führend sind, muss Europa in den Bereichen Digitalisierung, Quantentechnologie, Künstliche Intelligenz, Telekommunikation, Halbleiter und mehr aufholen. Der technologische Fortschritt und ein hohes Innovationsniveau sind entscheidend, um den Übergang zu einer modernen, wettbewerbsfähigen Wirtschaft zu meistern. Das erfordert eine engere Zusammenarbeit innerhalb der EU und verstärkte Investitionen in Forschung und Entwicklung. Auch Österreich hat in bestimmten Bereichen Vorreiterrolle in Europa wie beispielsweise Halbleiter und Quantenphysik.
Vor diesem Hintergrund ist aber der „Risikominderungs“-Ansatz der EU gegenüber China langfristig zum Scheitern verurteilt, ebenso wie der Ansatz „Wandel durch Handel“ gegenüber Russland gescheitert ist. China entwickelt sich zum dominierenden strategischen Rivalen, während Russland sich mit China im sogenannten Drachenbären-Modus der systemischen Koordinierung verbündet hat. Dieser Modus Operandi umfasst Bereiche wie Energie, Nahrungsmittelrohstoffe, Transportkorridore, Infrastruktur, Technologischen Transfer, Zusammenarbeit in internationalen und regionalen Organisation sowie militärische und Weltraumkooperation.
Europa kann sich eine strategische Äquidistanz zwischen Amerika und China langfristig nicht leisten und muss klare Positionen in dieser sich neu formierenden Systemrivalität beziehen. Kleine EU-Länder wie Österreich spüren sie noch stärker – was sich aktuell mit den Spionagevorwürfen bemerkbar macht.
Notwendige Strategien für Europas Zukunft
Angesichts dieser Herausforderungen muss Europa eine Reihe von Strategien verfolgen, um seine geopolitische und geoökonomische Stellung zu stärken. Europa muss die Verantwortung für den Ausbau des europäischen Pfeilers der NATO übernehmen. Eine professionelle EU-Armee auf freiwilliger Basis, die in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas eingesetzt werden kann, könnte die Verteidigungsfähigkeit Europas stärken.
Weiterhin sollte die EU mehr Freihandelsabkommen über die Europäische Kommission, vor allem mit Südasien (Indien), Südostasien (ASEAN) und Lateinamerika (MERCOSUR) unterzeichnen. Der intensivierte Ausbau von Nord-Süd-Handels- und Transportkorridoren ist von entscheidender Bedeutung, insbesondere über Initiativen wie die Drei-Meere-Initiative und die International Maritime Energy Company, sowie das Global Gateway mit Afrika. Darüber hinaus sollte Europa die EU-Erweiterung und -Vertiefung vorantreiben, um den Binnenmarkt zu optimieren und seine Effizienz als wichtigster BIP-Generator sicherzustellen. Investitionen in Unternehmen und Start-ups sollten Vorrang vor institutionellen Vorschriften haben. Eine funktionale Aufteilung der Rollen, Aufgaben und Prioritäten unter den EU-Mitgliedstaaten und Institutionen würde die Effizienz erhöhen.
Kurzfristig wird Europa eine Kriegswirtschaft und bessere Nord-Süd Infrastruktur vorantreiben müssen, um militärische Ausrüstung entlang des neuen Eisernen Vorhangs in Skandinavien sowie Mittel- und Osteuropa zu bewegen und die Ostflanke der NATO zu stärken. Diese Region wird in diesem Jahrzehnt auch die am schnellsten wachsende in Europa sein, was für Österreich mit Blick auf Zentral- und Osteuropa äußerst relevant sein wird. Sollten die EU-Mitglieder jedoch den aktuellen populistischen Tendenzen zum Faschismus und Marxismus erliegen und zugleich Russland erlauben, die europäische Sicherheitsordnung zu zerstören, würde Europa zum geopolitischen Hinterhof des 21. Jahrhunderts degradiert. Es ist daher entscheidend, dass Europa vereint und entschlossen handelt, um seine geopolitische und geoökonomische Zukunft zu sichern und eine führende Rolle in der Welt zu übernehmen.
Warum Länder wie Österreich auf die EU angewiesen sind
Europa steht derzeit vor der größten geopolitischen Bedrohung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder in Macrons Worten: Europa kann sterben. Gleichzeitig kämpfen viele EU-Länder mit starken populistischen Tendenzen sowohl am rechten als auch am linken Rand des politischen Spektrums. Populisten versprechen oft kurzfristige und vereinfachte Lösungen für komplexe Probleme, übernehmen aber keine Verantwortung, wenn diese Maßnahmen scheitern. In einer solchen komplexen Lage sind kollektive Lösungen unerlässlich – und genau da kommt die EU ins Spiel.
In einer Zeit, in der populistische Bewegungen zunehmend Protektionismus und nationale Isolation propagieren, ist es wichtiger denn je, die Vorteile einer starken und integrierten europäischen Union zu betonen. Historische Beispiele wie Polen und die Ukraine, aktuelle Herausforderungen in einer sich wandelnden globalen Ordnung und die negativen Folgen des Brexit zeigen klar, dass eine verstärkte Zusammenarbeit und Integration innerhalb Europas von entscheidender Bedeutung sind. Europa muss sich darauf konzentrieren, seine geopolitische und geoökonomische Position zu stärken, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.
Dies erfordert eine gemeinsame Anstrengung, um die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorteile der EU zu nutzen und gleichzeitig den populistischen Tendenzen entgegenzuwirken, die den Kontinent zu spalten drohen. Nur durch eine starke, vereinte und handlungsfähige Europäische Union können die Mitgliedstaaten ihre Interessen effektiv vertreten und ihren Wohlstand in einer zunehmend komplexen Welt sichern.
VELINA TCHAKAROVA ist Gründerin des Forschungs- und Beratungsunternehmens FACE (For A Conscious Experience e.U.) und Visiting Fellow an der Observer Research Foundation in Indien. Als geopolitische Expertin gibt sie ihre Einschätzung zu Entwicklungen der internationalen Beziehungen ab.