Fatal? Egal: Neutral!
Achtung: Dieser Beitrag kann gröbere Spuren von Polemik enthalten.
Dem geneigten Leser zwei kurze Sachverhalte zur Imagination. Erstens: In Schasklappersdorf existiert (natürlich, weil Österreich) eine freiwillige Feuerwehr, jedes brennende Haus wird sofort umsichtig gelöscht, jeder überflutete Keller ausgepumpt; finanziert wird sie durch einen monatlichen Beitrag jedes Einwohners. Bis auf den Hubersepp. Der zahlt nichts, erwartet aber natürlich, dass im Fall des Falles sein Haus auch gerettet wird, weil er ja respektables Mitglied der Dorfgemeinschaft ist und überhaupt eh genug Geld da sei.
Zweitens: Der Hubersepp hat in seinem schmucken Häuschen weder Schlösser noch Alarmanlagen installiert. Dafür ein großes Schild am Gartenzaun aufgestellt, auf welchem zu lesen steht, dass der ehrbare Einbrecher Eduard bitte nicht einbrechen möge, weil im Gegenzug auch Sepp nicht in Edis Haus einsteigen werde.
Die anzunehmenden Reaktionen hinsichtlich beider kleiner Geschichten werden wohl fast ausnahmslos derartig ausfallen, als der Hubersepp einerseits ein unsolidarischer Unhold, andererseits auch ein fester Depp sei. Beides ist betreffend die dörflichen Sachverhalte nachvollziehbar und wohl auch richtig; die Vorstellung fällt schwer, der durchschnittliche Österreicher würde dies anders sehen. Nur: Vergrößert man den Maßstab und legt die beiden Anekdötchen von Schasklappersdorf auf Österreich um, sieht die Sache gleich ganz anders aus. Denn nun wird geistig Hand an das Goldene Kalb der Nachkriegsgeschichte gelegt, nämlich an das Märchen des Nutzens der „immerwährenden Neutralität“.
„Des hamma immer scho so g’macht!“
Zu Entstehung von Gesetz und Erzählung, aber auch betreffend die rechtliche Einordnung sei hier kein (digitales) Papier vergeudet, hiezu haben weit klügere Köpfe als der Autor dieser Zeilen in epischer Breite bereits ausgeführt. Kern dieser Gedanken sei vielmehr die Frage, wieso der kakanische Durchschnittsbürger derart an einer solchen Chimäre festhält und auch nur jeden Ansatz einer Diskussion als Artilleriefeuer gegen das Bierzelt ansieht. Erst kürzlich hat etwa der derzeitige Untermieter des Ballhausplatzes vermeint: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben. Die österreichische Neutralität hat gute Dienste geleistet und leistet gute Dienste. Für meinen Teil ist damit die Diskussion beendet.“ Diese Wortspende ist zuvörderst ein Paradebeispiel des österreichischen Gedankentriathlons („des hamma immer scho so g’macht, des hamma no nie so g’macht, da könnt‘ ja jeder kommen!“), dazu aber auch sehr erhellend, was das Truggebilde der Neutralität und ihrer Auswirkungen auf unser gedeihliches Existieren angeht.
Beginnen wir mit den „guten Diensten“, die die Neutralität der Republik Österreich geleistet haben soll. Diese Frage lässt der aktuelle Kanzlerich – wie, bis auf Schüssel, jeder Spitzenpolitiker – gleich einmal unbeantwortet. Wie auch, abseits der Grundlage für die heutige Verfasstheit des Alpenstaats in seiner Nachkriegsprägung (wofür man dankbar zu sein hat, widrigenfalls der Staat wohl bis 1989 ebenfalls sowjetische Satrape gewesen wäre), fällt dem Schreiberling hier partout nichts ein, welche Wohltaten die Neutralität – die ja grosso modo schlicht Bündnisfreiheit bedeutet – denn geschaffen hätte. Bevor nun mit zorngeschwellter Ader wütend der erste Kommentar unter diesen Artikel gesetzt wird, mit welchem im Brustton der Überzeugung der Autor zurechtgewiesen wird, dass ausschließlich die Neutralität Garant für ewigen Frieden im Lande der Familien Wechselberger und Krimbacher sei, möge auf den zweiten oben unternommenen Gedankenausflug verwiesen werden. Absolut nachvollziehbar reagiert man auf den Hubersepp mit Unverständnis ob seiner wolkigen Vorstellungen von Sicherheit. Wie kann man nur so blöd sein, wirkungsmächtigen Einbruchsschutz darin zu verorten, den potenziellen Panzerknacker mit lieben Worten und der Zusage eines Nichteinbruchspakts von gekonntem Geklaue abhalten zu wollen? Richtig.
Nur: Wieso legt man diese Vorgehensweise dann ohne mit der Wimper zu zucken als sinnvoll auf den Status des Staats um? Ein möglicher Aggressor, der völkerrechtswidrig einen Angriffskrieg startet, wird sich um eine weitere – nicht einmal allseits verbindlich verbriefte – Rechtsposition nicht scheren. Dem Einbrecher wird es wohl auch egal sein, ob er beim Einbruch eine Besitzstörung begeht. Diese rein zellstoffdünne Barriere wurde auch in der Historie mehrfach in der Luft zerfetzt bzw. durch Panzerketten zerrissen: Belgien musste diese bittere Lektion ebenso lernen wie Finnland im Winterkrieg oder eben rezent die Ukraine.
„Aber die Schweiz …!“
„Aber, aber, aber die Schweiz ist ja auch superneutral und wird nicht angegriffen?!“ – Ja, eh. Aber auch nur aufgrund der Gesamtgestaltung der Eidgenossenschaft. Nicht umsonst wurde im Zweiten Weltkrieg von deutscher Seite fröhlich gesungen „Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das nehmen wir am Rückweg ein!“. Bezogen war dies natürlich auf die erwarteten umfassenden Siege Hitlerdeutschlands an allen Fronten – die Helvetier konnten noch so neutral sein, wäre Europa an Hitler gefallen, wären sie trotzdem von der Erdkarte gefegt worden. Hinzu kommt übrigens noch das klitzekleine Faktum, dass die Schweizer aus der Militärgeschichte gelernt haben wie kein zweiter Staat. Ja, sie sind neutral – setzen aber auch alles daran, diese Neutralität mit sämtlichen Mitteln, Zähnen, Klauen und Toblerone (und flächendeckender Flugabwehr) zu verteidigen; ein Grundgedanke, der schon kollektive Charaktereigenschaft geworden ist. Die lässt uns dann (mehr oder weniger) elegant den Bogen zur ersten erdachten Geschichte in der dörflichen Idylle von Schasklappersdorf spannen. Anders als die restliche, verantwortungsvolle Dorfgemeinschaft agiert Österreich hier wie der gierige und feige Hubersepp: Wasch mich, aber mach mich nicht nass. Die Alpenrepublik versucht sich tunlichst aus jedem Konflikt herauszuhalten, maßt es sich an, gute Ratschläge zu erteilen, aber von sonstiger Unterstützung (natürlich mit historischen Ausnahmen) sind wir meilenweit entfernt – ma tscholligom, geht leider net, mia san hoid so neutral.
Dies ist aber nicht nur ein unsolidarischer, sondern auch verlogener Zugang zu Geo- und Realpolitik. Österreich hat das geografische Glück, von Staaten umgeben zu sein, die sämtlich der NATO angehören – von Schweiz und Liechtenstein einmal abgesehen. Somit sieht sich der gelernte Österreicher immer in der (trügerischen) Lage, es könne eh nichts passieren, weil durch den (gedanklichen) Minengürtel aus Mitgliedern des Nordatlantikpakts werde schon kein Feind durchkommen. Das mag prima vista schon der Wahrheit entsprechen, nur ergeben sich doch manche Problemfelder. Vorweg ist nicht für Äonen gesichert, dass jedes NATO-Mitglied ewiglich Vertragspartei des Pakts sein wird. Danach ist auch auf die faktische Verteidigungsfähigkeit der uns umgebenden Nachbarn hinzuweisen, insbesondere die deutsche Bundeswehr und deren Wehrkraft ist in derart deplorablem Zustand, dass einem angst und bange wird. Schließlich und letztlich aber hat der status quo noch eine Facette: Wie die FF Schasklappersdorf könnte auch die Gemeinschaft der uns umgebenden NATO-Staaten dann doch irgendwann auf die Idee kommen, Österreich im Fall des Falles einfach nicht beizustehen und/oder potenzielle Aggressoren durchzulassen – weil wieso auch sollte man einen parasitären Nutznießer der eigenen Verteidigungsanstrengungen, der außer heißer Luft nichts zur (zumindest europäischen) Sicherheit beiträgt, auch noch unterstützen?
Somit bleibt zu hoffen, dass zu führende Debatten über den aktuellen Stand der Neutralität nicht im Keim erstickt, sondern wirklich ergebnisoffen – hin zu echter, robuster Verteidigung der Neutralität oder eben Aufgabe dieses nur mehr folkloristischen Elements der Enzian- und Edelweißromantik – geführt werden. Zum heutigen Tage ist die Umsetzung des Neutralitätsgesetzes nämlich: nutzlos, trügerisch und zutiefst asozial.
ALEXANDER F. S. PUTZENDOPLER ist selbstständiger Rechtsanwalt in Wien. Neben seinen Schwerpunkten Vereins-, Immaterialgüter- und Wohnrecht ist er Autor zahlreicher Artikel und Beiträge zu einer liberalen Sicht auf die Gesellschaft.