Zum Teufel mit der Neutralität!
Österreich, wir haben ein Problem: Unsere Neutralität hat ein Ende erreicht, sie ist lediglich ein verklärtes, hohles Konstrukt, in das man Dinge hineinprojiziert. Ein Ende ist aber immer auch ein Neuanfang, weswegen man sich hierzulande die Frage stellen muss: Wie soll Österreichs Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert aussehen? Geht man weiterhin einen schwer nachvollziehbaren Sonderweg, oder macht man endlich Nägel mit Köpfen, schafft die Neutralität ab und tritt der NATO bei?
Die Neutralität ist in Österreich seit 1955 im Verfassungsrang verankert und auch heute, fast 70 Jahre später, weitestgehend ein Tabuthema. Man spricht generell wenig über die Neutralität, noch weniger findet eine faktenbasierte und rationale Debatte über deren Abschaffung statt – am ehesten betont man in regelmäßigen Abständen die Wichtigkeit, militärisch neutral sein zu müssen. Dem liegt ein Irrglaube zugrunde, denn die Republik Österreich ist seit dem EU-Beitritt 1995 nicht mehr neutral. Und das ist auch gut so.
Vorbild Schweiz?
Die Schweiz ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Es ist ein Land mit außergewöhnlichem Wohlstand, hoher Lebensqualität und bis auf wenige Ausnahmen – die Schweiz ist beispielsweise Mitglied des Schengen-Raums – hat man es als Land im Herzen Europas geschafft, weder der Europäischen Union noch der NATO beizutreten. Man verweist hierzulande also gerne auf die Nachbarin im Westen, hat man sich für die „immerwährende Neutralität“ ja sogar die Schweiz, wo diese bereits seit 1815 existiert, zum Vorbild genommen.
Der Vergleich mit der Schweiz hinkt jedoch aus mehreren Gründen: Einerseits führt man dort eine ehrliche und offene Debatte über die Neutralität. Andererseits wäre das Land in der Lage, substanziellen militärischen Widerstand zu leisten: Österreich und die Schweiz geben zwar vergleichbar wenig Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus, jedoch erwirtschaften die Eidgenoss:innen im Vergleich zur Alpenrepublik jährlich fast doppelt so viel und haben folglich ein wesentlich höheres Budget zur Verfügung. Mehr noch: Die Schweiz hat in quasi allen Belangen einen besseren Bestand – sprich mehr Waffen, Milizen und Panzer – als Österreich.
Tratado de Lisboa: Neutralität ad absurdum
Das gewichtigste Argument, die Neutralitätsdebatte in der Vergangenheit zu lassen, ist aber im EU-Beitritt und dem Vertrag von Lissabon begründet: Österreich ist de facto seit 1995, spätestens aber seit Inkrafttreten des „Tratado de Lisboa“ 2009 nicht mehr neutral. Nun kann man darüber streiten, ob die dort festgeschriebene Unterstützungspflicht zwangsläufig militärisch sein muss, oder ob sie „nur“ wirtschaftlicher Natur sein kann (wodurch sich das angegriffene Land freilich Waffen, Munition und Fahrzeuge kaufen könnte und würde). Laut Artikel 42 Absatz 7 schulden die EU-Mitgliedstaaten einem angegriffenen EU-Staat „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“. Zum Vergleich: Der NATO-Bündnisfall fordert eine NATO-Partei laut Artikel 5 lediglich zu Maßnahmen auf, „die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“.
Zwar lässt Artikel 42 mit der irischen Klausel eine Hintertür für die österreichische Neutralität offen, realpolitisch dürfte der Druck auf Österreich im Falle eines angegriffenen EU-Staates aber so hoch sein, dass man zumindest wirtschaftliche Unterstützung und/oder Schutzausrüstung zusichern müsste. Vice versa wäre es außerdem naiv zu glauben, dass Österreich dank seiner Neutralität vor angreifenden Staaten geschützt wäre. Das Beispiel Schweiz zeigt, dass man dann zumindest in der Lage sein muss, sich verteidigen zu können, wenn man es ernst mit der Neutralität meint.
Da Österreich durch den EU-Beitritt – immerhin sind alle EU-Staaten außer Irland, Malta, Zypern und eben Österreich ebenfalls NATO-Mitglieder – aber bereits mehr als deutlich Stellung bezogen hat, dient die Schweiz sicherheitspolitisch weniger als Vorbild. Besser wäre ein Blick in den Norden.
Vorbild Finnland
Für die Finn:innen galt ein NATO-Beitritt lange Zeit als ausgeschlossen. Das ist historisch und geopolitisch begründet: Finnland hat eine über 1.300 km lange Grenze zu Russland. Außerdem haben die beiden Staaten eine kriegerische Vorgeschichte. Im Winterkrieg fiel die Sowjetunion 1939 in Finnland ein, was Finnland an der Seite der beiden Achsenmächte Deutschland und Italien 1941 zum Fortsetzungskrieg und somit zur Teilnahme am Überfall auf die Sowjetunion bewegte. Frieden konnte erst 1946 geschlossen werden – Freundschaftsvertrag inklusive. Dieser wurde mehrfach erneuert, und Finnland sicherte mit diesem lange Zeit gute Beziehungen zum östlichen Nachbarn zu. Aufgrund dieser Vorgeschichte und der geopolitischen Situation schien ein NATO-Beitritt Finnlands lange Zeit völlig ausgeschlossen – man wollte schlichtweg kein Öl ins Feuer gießen. Dann kam der 24. Februar 2022 und mit ihm Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für Finnland änderte sich damit alles, und man entschied sich, der NATO beizutreten, was Anfang 2024 geschah. Die Begründung: Eine NATO-Mitgliedschaft würde die finnische Sicherheit stärken.
Der Fall Finnlands zeigt, wie schnell es gehen kann, wenn man die Vergangenheit Vergangenheit sein lässt und sich den realpolitischen Gegebenheiten des Hier und Jetzt anpasst. Mit denselben Argumenten könnte sich auch Österreich einen Ruck geben, die Neutralität hinter sich lassen und sich für einen NATO-Beitritt aussprechen. Der erste Schritt weg von der Neutralität wurde mit dem EU-Beitritt bereits getan, eine NATO-Mitgliedschaft wäre somit nur konsequent.