Ohne Wissenschaft keine Demokratie
„Querdenkerdemos“ sind nicht das Problem, sondern bloß ein Symptom: Wissenschaftsfeindlichkeit ist eine Gefahr, die wir ernst nehmen sollten.
Es war deprimierend, aber keine echte Überraschung: Im Herbst 2021 erschien eine Eurobarometer-Studie über die Einstellung der Bevölkerung in den einzelnen EU-Staaten zur Wissenschaft. Und wie bereits in vorangegangenen Studien wurde Österreich auch diesmal wieder ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: Es ist ein Land der Wissenschaftsfeindlichkeit.
Soll man Grundlagenforschung auch dann unterstützen, wenn sich kein unmittelbarer Nutzen daraus ergibt? In Schweden stimmen 82 Prozent zu – in Österreich nur 48, das ist EU-weit der letzte Platz. Wie viele Menschen finden, es sei im Alltag nicht nötig, über Wissenschaft Bescheid zu wissen? In Österreich mehr als die Hälfte der Bevölkerung, in Finnland nur ein Sechstel. Wird die Gentechnologie insgesamt einen positiven oder einen negativen Effekt auf unser Leben haben? Auch bei dieser Frage ist man in Österreich pessimistischer als irgendwo sonst in der EU.
Kein Luxusproblem
Das ist etwas peinlich für ein Land, das sich eigentlich für fortschrittlich, hochentwickelt und wettbewerbsfähig hält. Aber ist das so entscheidend? Angesichts all der drängenden Probleme unserer Zeit – müssen wir wirklich über solche Umfragen reden?
Ja, das müssen wir unbedingt. „Man sollte in Österreich mehr auf die Wissenschaft hören“ ist kein frommer Wunsch für die Sonntagsrede. Es fällt nicht in die Kategorie „die Leute sollten wieder mehr Goethe und Schiller lesen“ oder „die Jugend sollte wieder mehr Schach spielen“. Es geht hier nicht um ein bildungsbürgerliches Luxusproblem, sondern um eine Kernfrage für unsere Demokratie.
Demokratie bedeutet, gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden. Das kann aber nur dann gelingen, wenn wir uns gemeinsam darauf einigen, was die Fakten sind – und welche Sorte von Argumenten wir in einer demokratischen Diskussion zulassen.
„Weil ich das nun mal so will“ mag eine völlig ausreichende Begründung sein, wenn ich die Farbe meiner Küche aussuche oder mein Urlaubsziel für diesen Sommer. In einer demokratischen Diskussion bringt uns ein solches Bauchgefühl aber nicht weiter, denn andere Leute haben andere Bauchgefühle. „Weil das in meinem heiligen Buch so geschrieben steht“ mag sich auch sehr überzeugend anfühlen, doch auch das ist kein geeignetes Argument für eine politische Diskussion. Genauso wenig wie „weil mein Guru das so empfohlen hat“, „weil das ein bekannter Schlagersänger auf Telegram gepostet hat“ oder „weil mir das ein feinstoffliches Einhorn aus Atlantis telepathisch so mitgeteilt hat“.
Es geht um die Spielregeln der Demokratie
Wenn wir gemeinsam diskutieren und Lösungen finden wollen, dann müssen wir irgendwie klären, welche Argumente in der demokratischen Diskussion ernst genommen werden sollen und welche nicht. Alle Menschen sind gleich viel wert, aber nicht alle Argumente sind gleich viel wert. Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten.
Wir brauchen daher eine solide gemeinsame Basis, ein tragfähiges Fundament, auf dem wir unsere Argumentation errichten können. Und das muss die Wissenschaft sein. Wissenschaft ist eine Methode, auf nachvollziehbare, zuverlässige Weise gemeinsam klüger zu werden. Wissenschaft ist das, was für alle stimmt. Egal ob sie daran glauben oder nicht. An wissenschaftlichen Erkenntnissen können wir uns nicht vorbeischummeln, auch wenn sie uns nicht gefallen.
Zu den Spielregeln, an die wir uns in der Diskussion alle gemeinsam halten, muss der Grundsatz gehören: Wenn meine Meinung wissenschaftlich klar widerlegt wird, dann muss ich zugeben, falsch gelegen zu haben. Wenn wir das nicht anerkennen, dann können wir auch keine demokratische Diskussion führen.
Das sollte selbstverständlich sein – doch im österreichischen Parlament werden immer noch Wundermittel gegen COVID-19 angepriesen, die sich in wissenschaftlichen Untersuchungen längst als unwirksam herausgestellt haben. In den USA glaubt ein beträchtlicher Anteil der republikanischen Wähler gegen jede Evidenz, dass Donald Trump in Wirklichkeit als Präsident wiedergewählt wurde. Und in der Klimapolitik benehmen sich weltweit viele Regierungen so, als hätte es die wissenschaftlichen Berichte des Weltklimarats nie gegeben.
Wissenschaftsfeindlichkeit hat viele Gesichter. Sie reicht von bloßem Desinteresse bis hin zu Morddrohungen gegen Virologinnen und Virologen, von einer diffusen Technikfeindlichkeit bis hin zu brennenden 5G-Sendemasten, von der Familien-Whatsapp-Gruppe bis hinein ins Parlament.
Braune Esoterik und Querdenkerdemos
Dass Wissenschaftsfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit eng miteinander verknüpft sind, konnte man schon lange Zeit beobachten – wenn man genau hinsah: Die Subkultur der „braunen Esoterik“ verknüpft antiwissenschaftliche Weltanschauung mit wirren Rassenideologien, Verschwörungstheorien und antisemitischen Schrecklichkeiten.
Bei „Querdenkerdemos“ gegen COVID-Maßnahmen wurde das für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar: Dass dort alternative Esoteriker scheinbar ohne Berührungsangst neben rechten Reichsflaggenträgern marschierten, sorgte oft für Kopfschütteln und Verwunderung, ist aber eine logische Konsequenz einer Wissenschaftsfeindlichkeit, die es schon lange vor der Pandemie gab.
Eine einfache Lösung für das Problem gibt es nicht. Wissenschaftsfeindlichkeit ist in unserer Kultur tief verwurzelt, daher kann man ihr nur in unzähligen mühsamen kleinen Schritten entgegenwirken. Wir brauchen einen Kulturwandel für mehr Ehrlichkeit und Faktentreue. Wir brauchen einen Konsens darüber, dass man objektive Fakten nicht einfach unter den Teppich kehren darf, wenn sie einem nicht gefallen. Wir brauchen sachorientierte, evidenzbasierte Politik. Nicht auszudenken, welche Fortschritte damit möglich wären!
FLORIAN AIGNER ist Physiker, Wissenschaftspublizist und Autor. In seinen Büchern und Texten für Zeitungen und Radio befasst er sich hauptsächlich mit Naturwissenschaft und Technik, aber manchmal auch mit dem Gegenteil davon – nämlich wissenschaftsfeindlicher Esoterik und Verschwörungstheorien. Aigner lebt und arbeitet in Wien.