Plädoyer für eine europäische Medienplattform
Dieser Tage findet der alljährliche Eurovision Song Contest der Europäischen Rundfunkorganisation (EBU) wieder statt. Ein Paradebeispiel, wie europäische öffentlich-rechtliche Medien zusammenarbeiten und ein Zeichen an die Welt senden können. Toleranz, Liebe zur Zukunft, Achtung und Respekt für andere. Hoffentlich auch im heurigen Jahr, trotz der schrecklichen Ereignisse in Israel/Palästina. Ausgezeichnet werden dabei die Künstler:innen, die den gesamteuropäischen Geschmack am besten treffen.
Wie ist das beispielsweise mit der Berichterstattung zur Arbeit im Europäischen Parlament, dem wahrscheinlich großartigsten Parlament der Welt? Es ist keiner direkten Regierung verpflichtet, in Sachfragen wird fraktions- und nationenübergreifend nach Mehrheiten gesucht. Die Abgeordneten sind keine „Stimmabgabemaschinen“, die das abzusegnen haben, was von der jeweiligen Regierung gewünscht wird. Aber wo bleibt eigentlich der an Sachfragen orientierte Diskurs in der medialen Darstellung zur Arbeit dieses Parlaments?
Man sucht ihn vergeblich. Bis auf ganz wenige Nischenmedien – etwa Politico – beleuchten europäische Medien die Arbeit des Parlaments in Brüssel und Straßburg in der Regel aus nationaler Sicht. Das hat einen einfachen Grund: Medien werden in Europa aus den nationalen Märkten finanziert oder mit nationalen Fördermitteln. Was für eine traurige, vielleicht sogar tragische freiwillige Beschränkung und Einschränkung.
Warum es eine europäische Medienplattform braucht
Beim Aktivismus – wie er in den sozialen Medien zu finden ist – sollen die Adressat:innen von der eigenen Position überzeugt werden. Beim Journalismus dagegen, wie er in Qualitätsmedien oder öffentlich-rechtlichen Medien gelebt wird, sollen die Rezipient:innen durch die Darstellung verschiedener Blickwinkel ermächtigt werden, eigene Positionen zu beziehen.
Wenn wir also in Europa die Arbeit des Parlaments in der Berichterstattung jeweils nur aus einem nationalen Blickwinkel betrachten, dann bieten wir kaum unterschiedliche Sichtweisen auf ein Thema.
Es braucht eine EU-weite Medienplattform, die sich zum Ziel setzt, bei einem europäischen Thema die Blickwinkel der südeuropäischen Mitglieder genauso darzustellen wie jene der Menschen aus skandinavischen Ländern. Die Positionen der bevölkerungsreichen sollen genauso beleuchtet werden wie jene der kleineren Staaten, die Perspektiven der Menschen aus den „westeuropäischen“ Gründungsmitgliedern genauso wie jene aus den osteuropäischen jüngeren EU-Mitgliedern.
Das Europäische Parlament – und damit die ganze EU – geht bei der notwendigen Regulierung der Medien mit „Best Practice“-Gesetzen weltweit voran. Der Umgang mit Hate Speech, „Fake News“, der Trennung von Werbung und Information, der Schutz der eigenen Daten: In all diesen Fragen nimmt die EU nicht nur den Kampf mit falschmeldungsverbreitenden Sendern wie Russia Today auf, sondern im Sinne der Bürger:innen auch mit den internationalen Social-Media-Giganten wie Meta oder X. All diese zu regulierenden Medien werden entweder von totalitären Staaten wie Russland und China, von Populisten wie Orbán oder Trump oder von Milliardären wie Mark Zuckerberg und Elon Musk betrieben. Diese Medien sind allesamt als „aktivistisch“ und nicht als „journalistisch“ zu beschreiben.
Um aber die europäische Idee zu verbreiten, die nicht zuletzt Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum der Gesellschaft stellt, muss sich die Europäische Union durchringen, eine europäische zeitgemäße Medienplattform zu gestalten: bestehend sowohl aus traditionellen Medienangeboten als auch aus digitalen – ganz besonders in Bezug auf ein „sicheres“ und keinen privatwirtschaftlichen Interessen folgendes KI-Angebot.
Wie eine europäische Medienplattform aussehen könnte
Die liberale Demokratie hat dafür auch schon die Blaupause: das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem nach dem Vorbild der BBC. Ein Medienunternehmen im Eigentum der Bürgerinnen, mit gleichzeitig möglichst wenig Einfluss der gerade Regierenden.
Das Europäische Parlament sollte die nationalen Parlamente einladen bzw. auffordern, die Aktivitäten der jeweiligen öffentlich-rechtlichen Medienhäuser zu einem beträchtlichen Teil „europäisch“ zu organisieren und mehrsprachige, gemeinsame Mediatheken zu entwickeln. So könnten etwa 30 Prozent des Programmangebots in Richtung einer „europäischen Medienöffentlichkeit“ wirken – was ja im Sinne der EU auch nur „inländisch“ bedeutet.
Dazu könnte der Auftrag an die in der EBU versammelten öffentlich-rechtlichen Medienhäuser passen, eine KI-Plattform à la ChatGPT zu kreieren. Ein KI-Angebot, bei dem transparent und klar markiert wird, auf welche Quellen die künstliche Intelligenz zugreift: also grundsätzlich nur auf die Archive der öffentlich-rechtlichen Medienhäuser, auf die staatlich zugelassenen Universitäten, die wissenschaftlichen Akademien und andere demokratisch legitimierte und kontrollierte Einrichtungen. Diese EU-europäische öffentlich-rechtliche KI wäre ein ideales Tool für eine europäische Medienplattform, das dann auch im Bildungs- und im wissenschaftlichen Bereich eingesetzt werden könnte.
Was eine europäische Medienplattform bringt
Es geht um sicherheitspolitische Fragen, wenn wir an die Wahlmanipulationsversuche rund um „Cambridge Analytica“ denken: den Umgang mit Quellen und Fake News.
Aber es geht auch um gesundheitspolitische Fragen: Die Studie der Mental Health Days 2023 mit 7.000 befragten Kindern und jungen Erwachsenen im Alter von 10 bis 20 Jahren zeigt, dass Medienkompetenz und der regelmäßige Konsum von News in Qualitätsnachrichten dem psychischen Wohlbefinden zuträglich ist. Denn wenn ich ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet bekomme, kann ich das Thema besser einschätzen. Und vor Dingen, die ich besser kenne, habe ich weniger Angst. Umgekehrt gilt also: Sehe ich in den sozialen Medien nur Videos aus russischer Propaganda oder nur Videos von russischen Gräueltaten, dann bekomme ich mehr Angst als davor.
Eine vom Europäischen Parlament initiierte Europäische Medienplattform – naheliegenderweise eine Weiterentwicklung der EBU – wäre also nicht nur ein Weg zu mehr europäischer kultureller Identität, sondern auch ein wichtiger Faktor europäischer Sicherheitspolitik, wie auch europäischer Gesundheitspolitik im Sinne des mentalen Wohlbefindens.
Wir haben in unserer Gesellschaft die ungeheure Aufgabe, den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Nicht minder groß scheint die Aufgabe, die „Medien- und Informationskrise“ dieser Tage mit entsprechenden Maßnahmen zu bekämpfen.
GOLLI MARBOE ist Journalist, Autor und Medienexperte. Er leitet den Verein zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien und organisiert die „Mental Health Days“ an Wiener Schulen, um mit jungen Menschen über psychische Gesundheit und Medien zu sprechen. Außerdem moderiert er den Podcast „365 – über Medien reden“.