Wissenschaftsfeindlichkeit: Ein antidemokratischer Cocktail aus Religion, Esoterik und Verschwörungsglaube
Dieser Text ist im generischen Femininum verfasst. Männliche* Personen sind mitgemeint.
Die Wissenschaften haben seit jeher unschätzbare Erkenntnisse erbracht, die unser Leben auf vielfältige Weise verbessert, vereinfacht und verlängert haben. Wissenschaft hat jedoch nicht nur den Zweck, mittels Ingenieurinnenkunst technologische Wunder zu ermöglichen, sie bringt uns auch ein fundiertes Weltbild, Demokratie, Gleichberechtigung und Ethik.
Aber es gab schon immer Strömungen, die sich neuen Erkenntnissen widersetzten und an althergebrachtem Glauben festhielten. Als Galileo Galilei einen weltanschaulichen Streit mit der kirchlichen Obrigkeit hatte, meinten Kleriker, zu behaupten, dass sich die Erde um die Sonne drehe, sei genau solch ein Irrglaube, wie wenn jemand behaupten würde, Jesus sei nicht von einer Jungfrau geboren. So weigerte sich mancher Kirchenmann, durch Galileis Teleskop zu schauen, wo sie gesehen hätten, dass sich nicht alles um die Erde dreht. Da die Beobachtungen, die sie hätten machen können, ihren bestehenden Überzeugungen widersprachen, mussten sie Teufelszeug sein! Blinder religiöser Glaube versuchte und versucht auch heute noch, neue Erkenntnisse zu verhindern.
Nicht nur bei den althergebrachten Religionen lauert die Gefahr des blinden Glaubens und des Kadavergehorsams. Nehmen wir das Beispiel der Homöopathie, einer Pseudomedizin, die vor zweihundert Jahren erfunden wurde. Sie wurde recht erfolgreich, da sie nicht schadet, was die damalige „Schulmedizin“ oft tat. Doch schon damals hat die Wissenschaft mit Doppelblindstudien gezeigt, dass die Homöopathie nicht über den Placebo-Effekt hinaus wirkt. Viele Menschen schwören heute noch auf ihre vorgebliche heilende Wirkung. Dieser blinde Glaube an Globuli und ähnlichen Quatsch kann dazu führen, dass Menschen auf wirksame medizinische Behandlungen verzichten, und dazu, die Pharmaindustrie widerlichster Machenschaften zu bezichtigen.
Seit wir gelernt haben, Erdöl und Elektrizität zu nutzen, ist die Welt rapide geschrumpft. Heute können wir binnen vierundzwanzig Stunden überall hinreisen oder die ganze Welt binnen Millisekunden über das Internet in unser Wohnzimmer holen. Aber die Möglichkeit der globalen Vernetzung hat auch ihre Schattenseiten. Meinungen, egal wie abstrus sie sind, schaukeln sich in Echokammern und Filterblasen, also in geschlossenen Diskussionsgruppen, hoch, wobei abweichende Meinungen nicht toleriert werden. Ungläubige und Kritikerinnen werden aus jenen Gruppen hinausgedrängt, falls sie nicht freiwillig den Sumpf verlassen. Obwohl das WWW dazu erfunden wurde, wissenschaftliche Erkenntnisse zu teilen, trägt es heute zur Verbreitung von Verschwörungsmythen, Des- und Fehlinformation bei. Glaubenssätze werden also nicht nur tradiert, sie werden auch heute frei erfunden und kolportiert.
Blinder Glaube ist schädlich
Blinder Glaube bezeichnet die unkritische Annahme von Informationen oder Überzeugungen ohne evidenzbasierte Prüfung. Glauben kann man alles, wissen kann man jedoch nur das, was nachprüfbar ist. Glauben über Wissen zu stellen, ist gefährlich, da so die Fähigkeit zur rationalen Entscheidungsfindung untergraben wird und Menschen dazu gebracht werden, pseudowissenschaftliche oder offensichtlich falsche Überzeugungen zu übernehmen. Viele, eigentlich alle, Plattformen im Internet ermöglichen es, dass Verschwörungsgeschichten, die früher für sich allein standen, zu einem bunten (braunen) Spektrum alternativer Weltbilder zusammenwachsen. Wer einen Nonsens glaubt, glaubt bald jeden Nonsens, also ob man geschickt um die Wahrheit herumnavigiert. Aber das ist eine Unterstellung, denn um die Wahrheit umschiffen zu können, muss man sie kennen, man muss dafür also eine Lügnerin sein. Widersprüche werden nicht nur toleriert, sie sind geradezu erwünscht. Hauptsache man stellt sich gegen den Mainstream, gegen den wissenschaftlichen Konsens, gegen das frei verfügbare Wissen. Blinder Glaube verhindert die Einsicht eines Irrtums, das ist wohl der antiwissenschaftlichste Aspekt daran.
Jeglicher Glaube, davon bin ich überzeugt, muss sich davor schützen, entlarvt zu werden, indem Verschwörungserzählungen aufgebaut werden, die die Kritikerinnen diffamieren und dämonisieren. Dies verhindert nicht nur den Fortschritt, sondern kann auch zu sozialen Unruhen führen.
Wie Wissenschaft helfen kann
Wissenschaft ist mehr als nur eine Sammlung von Erkenntnissen, sie ist eine Methode zur Entdeckung der Wahrheit, die auf kritischem Denken, empirischen Beweisen und reproduzierbaren Experimenten basiert. Dabei kann laut Sir Karl Popper die Wahrheit niemand erkennen, selbst wenn sie sie in der Tasche hätte. Aber das macht nichts, durch Falsifikation kann man das Falsche erkennen und sich davon trennen. Das, was übrigbleibt, muss nicht zwangsweise wahr sein, doch wenn Ingenieurinnen damit Technologie realisieren können, können wir erstmal zufrieden sein. Dieser Ansatz unterscheidet die Wissenschaft fundamental von Pseudowissenschaften oder blindem Glauben. Vermarkterinnen pseudowissenschaftlicher Methoden oder Produkte würden Poppers Falsifikation niemals bei sich selbst anwenden.
Die Wissenschaft ist der eng umschlungene Tanz von Theorie und Praxis. Alles beginnt mit einer Hypothese – einer vorläufigen Erklärung für ein Phänomen. Wie man zu einer Hypothese kommt, ist egal; man kann denken, glauben, beten, träumen oder meditieren. Eine Hypothese wird durch Experiment oder Beobachtung getestet und kann sich zur Theorie entwickeln, wenn sie wiederholt durch Beweise gestützt wird. Eine wissenschaftliche Theorie ist nicht nur eine Vermutung, sie ist das Ergebnis intensiver Forschung und steht auf einem soliden Fundament aus Beweisen. Im Volksmund meint das Wort Theorie eher etwas Hypothetisches, doch eine wissenschaftliche Theorie verdient ihren Namen erst dann, wenn sie nachweislich die Welt beschreibt. Die praktische Anwendung der Wissenschaft zeigt sich in unzähligen Bereichen unseres Lebens, von der Medizin über die Technik bis hin zur Umweltforschung.
Ein zentrales Werkzeug in der medizinischen Forschung ist der Doppelblindversuch. Dieses Verfahren stellt sicher, dass weder die Versuchspersonen noch die Forscherinnen wissen, wer eine echte Behandlung und wer ein Placebo erhält. Dies minimiert die Verzerrung der Ergebnisse und liefert zuverlässige Daten über die Wirksamkeit einer Behandlung. Ich möchte noch erwähnen, dass ein Doppelblindversuch ein statistisches Verfahren ist, bei dessen Anwendung Fehler auftreten können und werden. Besonders dann, wenn man nur eine Handvoll Probandinnen heranzieht, wie es Homöopathinnen typischerweise tun, wird man in die Irre geführt. Man sollte den Doppelblindversuch in der Praxis erst dann durchführen, wenn der gesuchte Effekt eine theoretische Rechtfertigung hat.
Die Politik in die Pflicht nehmen
Europa hat sich sein demokratisches System teuer erkauft. Wir haben das katholische Mittelalter und die nationalsozialistische Diktatur hinter uns gelassen und sind womöglich knapp am Sozialismus vorbeigeschrammt. Dennoch beeinflussen faktenfreie Ideologien die heutige Politik. Einige Länder haben immer noch ein Konkordat, also einen Staatsvertrag mit dem Vatikan, in dem dem Vatikan ungerechtfertigte Privilegien garantiert werden. Der Staat muss die Kirche nicht nur finanziell unterstützen, sondern oft wird auch notwendige Strafverfolgung von Klerikern erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Esoterische Spinnereien haben Sonderrechte im Gesundheitssystem erhalten; der Binnenkonsens erlaubt es, wirkungslose Mittelchen in Apotheken zu verkaufen, und Ärztinnen können Fortbildungspunkte in diversen Nonsens-Behandlungen erwerben. In Österreich ist die Wissenschaftsfeindlichkeit für ein reiches EU-Land extrem hoch. Die österreichische Wirtschaftskammer unterhält so manches Humbug-Gewerbe, wie Human- und Tierenergetik oder Astrologie. In Deutschland dürfen Menschen ohne jegliche wissenschaftliche Ausbildung, genannt Heilpraktikerinnen, Kranke behandeln. Österreichische Politikerinnen haben nicht nur den aus dem Esoterik-Milieu stammenden Humbug Granderwasser geadelt, sondern haben auch einen esoterischen Energieschutzring für ein Wiener Krankenhaus für knappe 100.000 Euro installieren wollen.
Europa bracht mehr Säkularismus! Althergebrachte Religionen, neu erfundene Esoteriken und andere irrationale Überzeugungssysteme müssen ihre Privilegien verlieren. Mehr noch, sie müssen einen Test auf Kompatibilität mit der Verfassung bestehen, oder anders gesagt: Glaubensfreiheit kann im 21. Jahrhundert nicht mehr über den allgemeingültigen Grundrechten stehen.
Wissenschaftsfeindlichkeit, ob in Form von Verschwörungsmythen, Pseudowissenschaften oder Religion, stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Fortschritt und das Wohl unserer offenen Gesellschaft dar. Die Demokratie muss zwar einiges aushalten können, doch scheint es nun an der Zeit zu sein, blinden Glauben in gesetzliche Schranken zu weisen. Blinder Glaube kann Menschen davon abhalten, kritische Entscheidungen auf der Grundlage von Fakten zu treffen und sie stattdessen in die Irre führen. Die Wissenschaft bietet uns Werkzeuge, um den Irrtum und die Lüge zu beseitigen und so fundierte Entscheidungen zu treffen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir uns mehr als bisher auf die Wissenschaft verlassen, um die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu meistern. Wir brauchen ein größeres Budget für Schulen, Unis und Forschungseinrichtungen. Konfessionell gebundener Religionsunterricht hat aus den Schulen zu verschwinden; Ethik, Demokratie und Religionskunde sind der bessere Weg. Ich glaube auch, dass man schon Volksschülerinnen Wissenschaft und Wissenschaftstheorie schmackhaft machen kann. Und Österreich braucht endlich ein neues Klimaschutzgesetz.
Es eilt!
MICHAEL JACHAN, geboren 1974 in Niederösterreich, ist Softwareentwickler, Wissenschaftsfreak, Skeptiker und Humanist. 2006 promovierte er an der TU Wien als Elektrotechniker und forschte an der Universität Freiburg als Signalverarbeiter in der Neurologie. Er ist Mitglied der weltweiten Skeptikerinnenbewegung und plädiert für verpflichtende Warnungen vor pseudowissenschaftlichen kommerziellen Angeboten. Im November wird sein Buch „Paranormale Behauptungen auf dem Prüfstand – Von Wünschelruten, Elektrosmog und Parapsychologie“ erscheinen. Jachan lebt und arbeitet in Wien.