Jasmina Lukač: „Ich mache mir Sorgen, dass Serbien immer mehr der Ukraine vor dem Krieg ähnelt“
Das folgende Interview mit der Journalistin und Kolumnistin der Belgrader Qualitätszeitung Danas wurde am 14. Dezember 2023, also vor den Wahlen, per E-Mail geführt. Zu diesem Zeitpunkt kursierten auch Umfragen, die der oppositionellen, liberal-demokratischen Wahlliste „Serbien gegen Gewalt“ (SPN) auf lokaler Ebene und vor allem in Belgrad einen markanten Stimmengewinn voraussagten. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass die SNS ihre Macht zusätzlich ausbauen und die Absolute erreichen würde, obwohl Wahlmanipulationen nicht ausgeschlossen waren.
Dass die SNS die Stimmen der im Interview genannten ultrarechten Parteien quasi absorbieren und damit als einzige weit rechts stehende Partei im serbischen Parlament bleiben würde, hatte sich vor den Wahlen ebenso wenig klar abgezeichnet. Was zu diesem Zeitpunkt aber feststand, war, dass die Wahlen eine Richtungsentscheidung zwischen EU und Russland markieren würden, ähnlich wie vor dem Regimewechsel am 5. Oktober 2000. Trotz aller im Zuge des serbischen EU-Integrationsprozesses erlittenen Enttäuschungen schwingt hier auch ein Funke vorsichtiger Hoffnung mit.
Daher kann dieser Text auch als Zeitdokument und Gesellschaftsbild verstanden werden, ungeachtet aller Überraschungen am langen Wahltag, dem 17. Dezember. Eine derartige Überraschung ist, dass der Parteigründer und -chef der rechtspopulistischen Partei „Mi – Stimme aus dem Volk“ Branimir Nestorović, aus dem Stand 4,8 Prozent gewonnen hat. Der eigentlich anerkannte Arzt war zu Zeiten der Corona-Pandemie mit widersprüchlichen Aussagen zur virologischen Gefahr und seiner Impfskepsis stark präsent. Die späteren Wahlergebnisse markieren einerseits eine Zementierung von Vučićs Macht und andererseits einen Austausch unter den anderen von nun an parlamentarisch auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vertretenen Parteien.
In Serbien finden Parlaments-, Provinz- und Kommunalwahlen statt. Welche Chancen sehen Sie für die Oppositionsparteien, dieses Mal Mehrheit zu erreichen? Oder umgekehrt für Präsident Aleksandar Vučić, seine „Stabilokratie“ zu stärken?
Da wir dieses Gespräch vor den Wahlen am 17. Dezember führen, gehe ich davon aus, dass die Oppositionsparteien bei den Kommunalwahlen in der Hauptstadt Belgrad eine Mehrheit haben werden. Das ist nicht wenig, denn Belgrad ist Serbien im Kleinformat, fast ein Drittel der Bevölkerung lebt hier. Auch in weiteren 64 Gemeinden finden Wahlen statt, und dort erwarte ich, dass die Opposition mancherorts eine Mehrheit erringt – was auch ein Erfolg wäre, da Vučićs Partei bzw. seiner Partei nahestehende Personen in jeder Ortseinheit Serbiens die Macht haben.
Bei den Wahlen zum Parlament Serbiens sowie zum Parlament der Autonomen Provinz Vojvodina gehe ich davon aus, dass die Opposition insgesamt etwa so viele Stimmen gewinnen wird, wie sie derzeit hat. Sie verfügt über etwa ein Drittel der Parlamentssitze. Was die Situation nach den Wahlen betrifft, denke ich, dass Vučić Serbien auf die gleiche Weise regieren will wie Viktor Orbán in Ungarn und Milo Đukanović in Montenegro: als stabiler Autokrat unter Anwesenheit der Opposition.
Wie ist es möglich, dass der serbische Präsident überhaupt kandidiert? Namentlich?
Das ist für die Wahlen nicht so wichtig, obwohl ausländische Beobachter wie die OSZE, serbische NGOs und die Oppositionsparteien auf dieses Detail beharren. Bei dieser Gelegenheit wird meist sinnlose politische Energie verschwendet. Vučić verstößt nicht nur gegen die Regeln eines fairen Wahlverfahrens, sondern auch gegen die meisten Gesetze und die Verfassung Serbiens. Er tritt nicht als Kandidat an, sondern setzt seinen Namen als eine Art Slogan. Darunter folgen die Namen der echten Kandidaten.
Die Vertreter der Opposition sagen in einem bitteren Scherz, dass sie auch bei den Wahlen für die letzte Ortseinheit, die Ortsgemeinde, den Wahlkampf nicht gegen das dort kandidierende Mitglied von Vučićs Partei, sondern gegen Vučić selbst führen. Diese Praxis hat ihre Vorteile im Umgang mit den Wählern, aber auch ihre große Schwäche: Wenn Vučićs öffentliches Profil zusammenbricht, fällt alles zusammen, wie wenn eine Karte aus einem Kartenhaus gezogen wird – nämlich die gesamte SNS-Regierungsstruktur.
Bestimmen diese Wahlen zugleich den künftigen Weg Serbiens, also die Entscheidung zwischen EU und Russland? Schließlich ist das Parteienspektrum höchst polarisiert, z.B. Vojislav Šešeljs SRS und „Dveri“ mit den „Zavetnici“ am rechten Rand und „Serbien gegen Gewalt“ am linken, sowie alle anderen der insgesamt 18 Partei-Allianzen?
Unsere Meinungsforscher – selbst diejenigen, die direkt unter der Schirmherrschaft der Europäischen Union arbeiten, wie etwa die nichtstaatliche zivilgesellschaftliche Organisation des Instituts für Europäische Angelegenheiten –, gehen davon aus, dass mindestens 70 Prozent der serbischen Bürger auf der Seite Russlands stehen. Das zeigt sich auch bei der Frage nach der Einführung von Sanktionen. Die Unterstützung für die Europäische Union ist noch nie auf einem so niedrigen Niveau gelegen, bei unter 40 Prozent. Wenn die Bedingung für den EU-Beitritt darin besteht, dass Serbien den Kosovo anerkennen und ihm die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen ermöglichen muss, dann ist die Unterstützung für die Europäische Union noch geringer.
Von den Parteien, die Sie erwähnt haben, existiert die SRS – des vom Den Haager Kriegsverbrechertribunal Verurteilten Vojislav Šešelj – nicht unter der Wählerschaft, sie existiert künstlich. Angesichts der Mehrheitsmeinung der Bürger ist der zukünftige politische Weg Serbiens ungewiss und kann entscheidend von äußeren geopolitischen Umständen abhängen.
Besteht eine Chance, dass sich die gesamte Opposition, außer den „SPS-JS-Grünen Serbien“ und der „Koalition Hoffnung“ rund um die DSS, gegen Vučić versammelt? Oder könnte die Gesellschaft noch stärker polarisiert werden? Und warum?
Jasmina Lukač
In der serbischen Gesellschaft dient die Polarisierung für oder gegen Vučić dazu, das Ungleichgewicht zu kontrollieren, bei dem die Mehrheit der Bürger auf der Seite Russlands und gegen die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo ist, während die offizielle politische Position jene ist, dass das Land auf dem europäischen Weg und bereit sei, die Anforderungen der Europäischen Union zu erfüllen. In diesem Sinne könnte sich sehr leicht eine kritische Masse an Parteien – wie beim Sturz des Milošević-Regimes am 5. Oktober 2000 – in der Gesellschaft versammeln, die die Mehrheit der Bürger unterstützen würde, allerdings unter der Voraussetzung, dass es Unterstützung von außen gibt. Vor 23 Jahren war es die Unterstützung des Westens. Nun gut, ziehen Sie selbst die Schlussfolgerung.
Welche Einstellung haben junge Menschen zum System Vučićs und andererseits zu Europa? Repräsentieren Milica Đurđević Stamenkovski und andere die Wut der jungen Generation aufgrund der allgemeinen inneren und internationalen Situation Serbiens?
Eine inoffizielle Umfrage junger Professoren der Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Belgrad vor den Präsidentschaftswahlen 2022 ergab große Beliebtheit von Milica Đurđević Stamenkovski bei den befragten Studierenden. Ihre Bewertung in dieser Umfrage lag direkt hinter Vučić. Bei den Präsidentschaftswahlen gewann Stamenkovski 160.000 Stimmen, während die Kandidatin der pro-europäischen Partei „Zajedno i Zeleno – Left Front“ Biljana Stojković 122.000 Stimmen erhielt. Die beiden waren die einzigen beiden weiblichen Kandidatinnen.
Diese Wahlen in Serbien am 17. Dezember sind auch Wahlen für einen neuen jungen Führer der Rechten. Und man könnte sagen, dass es einen Kampf zwischen Milica Đurđević Stamenkovski und Miloš Jovanović von der Neuen DSS gibt. Dieser ist der Erbe der Partei und der Ideen von Vojislav Koštunica (der Slobodan Milošević im Jahr 2000 besiegte). Beide sind sogar von Beruf Anwälte. Dveri-Spitzenreiter Boško Obradović unterstützte in diesem Rennen vorerst Milica Đurđević. Milica Đurđević Stamenkovski könnte sich an junge Menschen wenden, die allen Indikatoren zufolge nicht mehr den historischen Eifer haben, die Welt zu verändern, sondern eher reagieren, wenn sie sich von etwas bedroht fühlen. Die massivsten und spontansten Demonstrationen junger Menschen fanden im Juli 2020 als Zeichen des Protests gegen die Corona-Lockdown-Maßnahmen statt.
Ist der Weg zur liberalen Demokratie aus heutiger Sicht möglich? In Ihrer Kolumne „Kula od Karata“ (Kartenhaus) haben Sie geschrieben, dass es Zeit für Hoffnung ist. Nach dem Regimewechsel hieß es bereits 2001, dass der „6. Oktobar“, also der Systemwechsel, nicht stattgefunden habe.
Ich glaube, dass ein Weg zu einer freieren und demokratischeren Gesellschaft möglich ist. Ich bin aber nicht davon überzeugt, dass es ausschließlich den sogenannten Transitionsprozess beinhaltet, den der Westen für ehemalige sozialistische Länder vorgesehen hat. Ich mache mir Sorgen, dass Serbien immer mehr der Ukraine vor dem Krieg ähnelt: dass es einen Konflikt der Oligarchen gibt, der zu einer großen Katastrophe führen kann. Zorana Mihajlović zum Beispiel, die ehemalige Energieministerin, die früher mit Vučić zusammengearbeitet hat und jetzt aber nicht mehr in der Regierung ist, erinnert mich ein bisschen an Julia Timoschenko.
Welche Verantwortung bzw. welche Fehler sehen die Bürger Serbiens auf Seiten der EU in der aktuellen Situation? Laut Eurobarometer-Daten dominiert seit zwei Jahren Euroskepsis, und gleichzeitig hält die Abwanderung von Fachkräften insbesondere unter jungen Menschen an.
Sie sind eine der wenigen aus der EU, die eine solche Frage stellt, und dafür danke ich Ihnen. Denn in der Regel betrachten Gesprächspartner aus der Europäischen Union Serbien als Teil der lokalen politischen Landschaft des Balkans, an deren Entstehung sie nicht einmal beteiligt waren, die autonom, von selbst geschaffen wurde. Und die Bürger Serbiens betrachten die Europäische Union eher als eine Kraft, die sie ständig bestraft, denn als ein freundschaftliches Bündnis, in dem sie Frieden und Gerechtigkeit, also Rechtsstaatlichkeit, finden können. Der Kosovo bleibt eine schwere Wunde im serbischen Bild der EU. Wenn die EU ihre Unterstützung für Kosovo als unabhängigen Staat aufgeben würde, wenn Kosovo als regionale Einheit ohne staatliche Merkmale dargestellt würde, würde Serbien anstandslos die Europäische Union mit all ihren Mängeln und Vorteilen akzeptieren.
Welche Veränderungen können diese Wahlen im Dialog und in den Beziehungen mit dem Kosovo und dem kosovo-albanischen Premier Albin Kurti bewirken? Wäre es an der Zeit, dass sich die politischen Eliten auf beiden Seiten mithilfe von Wahlen verändern?
Sofern Vučić durch eine mögliche Krise nach den Wahlen nicht zu sehr geschwächt und erschüttert wird, wird er seine Politik der Zugeständnisse an Kurti fortsetzen. Trotz des Anscheins eines großen gegenseitigen Konflikts lieferte Vučić stillschweigend alles, was das Ohrid-Abkommen von ihm verlangte, beispielsweise die völlige Diskontinuität mit den Institutionen Serbiens im Norden des Kosovo. Diese Wahlen am 17. Dezember dienen dazu, Vučićs Verhandlungslegitimität mit der Europäischen Union zu bestätigen.
JASMINA (SPASIĆ) LUKAČ wurde 1969 in Paraćin geboren, schloss 1993 ihr Studium an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad ab und arbeitet seitdem als Journalistin und Redakteurin bei Tages- und Wochenzeitungen, am längsten seit 1999 bei der Tageszeitung Danas. Als Co-Autorin veröffentlichte sie ein Handbuch für jüngere Kolleg:innen – „Politische Berichterstattung“ (2005) sowie den elektronischen Roman „Inverno“ (2015).