Das Problem mit dem Einstimmigkeitsprinzip
Europäische Politik wirkt oft abstrakt: Diverse Institutionen, die wahrscheinlich die meisten in Österreich nicht korrekt benennen und erklären könnten, treffen Entscheidungen, über die heimische Medien nur selten berichten, in einer Weise, die nur wenige verstehen. Aber eines ist ganz konkret verständlich: Auf europäischer Ebene gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Das blockiert effektive Entscheidungen – und gehört dringend abgeschafft.
In der Theorie klingt das Einstimmigkeitsprinzip nach einer guten Idee: In einem Verband aus 27 Staaten kann es immerhin gut sein, dass man selbst unter die Räder kommt. Nicht nur, weil es 26 Mitgliedstaaten gibt, die potenziell besser verhandeln können, sondern auch, weil es Größenunterschiede sind: Wenn die 20 österreichischen EU-Abgeordneten nach Straßburg fahren, treffen sie dort auf 96 Deutsche. Relativ zur Bevölkerungszahl ein guter Deal für Österreich – in absoluten Zahlen trotzdem immer noch eine deutsche Dominanz.
Um zu verhindern, dass Abgeordnete aus Deutschland, Frankreich und Italien mit ihrem großen Gewicht einfache Mehrheiten finden und über die Interessen der kleinen Länder „drüberfahren“, gibt es das Einstimmigkeitsprinzip: Wenn sich Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Georgia Meloni auf, sagen wir, eine Reform des EU-Asylrechts einigen, kann Karl Nehammer die Veto-Karte ziehen. So geschehen beim Beitritt von Rumänien und Bulgarien zum Schengener Abkommen: Die LKW-Staus von Bukarest und Sofia nach Wien gehen auf die Kappe des österreichischen Vetos.
Einfallstor für Erpressung
Ein anderer, der gerne das Einstimmigkeitsprinzip ausnutzt, ist Viktor Orbán. Der ungarische Ministerpräsident hat sein Land längst zur Scheindemokratie umgebaut: Eine Wahlniederlage für seine Partei Fidesz ist kaum möglich, Medien und Justiz sind gleichgeschaltet, sogar unliebsame Bücher werden verboten. Gleichzeitig bekommt Ungarn als EU-Mitglied enorm viel Geld aus EU-Mitteln. Verwendet wird es aber nicht für Bereiche wie Bildung und Gesundheit, sondern für seine eigenen Parteifreund:innen und Oligarch:innen.
Die Europäische Union sieht in Ungarn ihre Werte verletzt – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte. Und leitet ein Verfahren ein, finanzielle Mittel für Mitgliedstaaten einzufrieren, die wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit die „ordnungsgemäße Verwendung“ der EU-Gelder gefährden. Die Lösung ist einfach: Entweder Orbán hört damit auf, sein Land als „illiberale Demokratie“ zu führen, oder es gibt kein Geld mehr. Dieser Mechanismus würde auch greifen, wenn Österreich eine autoritäre Regierung hätte, die z.B. die Unabhängigkeit der Justiz oder die Medienfreiheit angreift.
Wäre da nicht das Einstimmigkeitsprinzip: Denn um sich „sein“ Geld zu holen – und in dem Fall geht es wirklich um Geld für Orbán, denn die ungarische Bevölkerung hat ja nichts davon –, greift Orbán einfach zu Erpressung. In der Debatte um weitere Hilfe für die Ukraine blockierte er so lange, bis durch einen Kuhhandel und einen gut getimten Toilettenbesuch eine Lösung möglich wurde. Mit der Konsequenz: Die EU hilft der Ukraine weiter, sich gegen Russland zu verteidigen. Und Orbán bekommt weiterhin Geld.
Europäische Politik statt Erpressungsmanöver
Genau diese Art von Kuhhandel ist es, die in der Praxis gegen das Einstimmigkeitsprinzip spricht. Ungarn nutzt sein Veto, um Geld auch ohne Rechtsstaatlichkeit zu bekommen, und Österreich nutzte es 2023 für Anti-Ausländer-Stimmung im Niederösterreich-Wahlkampf. Dass Rumäninnen und Rumänen, die zu uns exportieren, unnötig im Stau stehen, ist ein unnötiger Kollateralschaden von Innenpolitik, Klientelpolitik, Symbolpolitik. Viele kritisieren genau das an der Europäischen Union – sagen aber selten dazu, dass ausgerechnet Österreich damit auffällt.
Dabei sollten wir uns eigentlich proeuropäisch daran beteiligen, die beste Lösung zu suchen: Sei es im Agrarbereich, wohin ein Großteil des EU-Budgets wandert, oder im Bereich Migration und Asyl, wo man seit 2014 nach einer gemeinsamen europäischen Lösung sucht. Aber auch in Bereichen wie der Regulierung großer Tech-Konzerne, beim Umgang mit künstlicher Intelligenz und beim Klimaschutz brauchen wir die europäische Ebene, denn all das wird Österreich nicht alleine regeln: Sowohl dem Weltklima als auch den großen Tech-Konzernen ist ein isolierter kleiner Alpenstaat herzlich egal.
Aber um gemeinsame europäische Entscheidungen zu ermöglichen, muss das Einstimmigkeitsprinzip weg. Und die Lösung liegt auf dem Tisch: Statt die Zustimmung von allen 27 Mitgliedstaaten für jede Entscheidung zu brauchen, könnte in Zukunft anders entschieden werden: mit einer „qualifizierten Mehrheit“.
Alternative: Die qualifizierte Mehrheit
„Qualifiziert“, das bedeutet, dass mehrere Punkte erfüllt werden müssen, um eine Mehrheit zu sichern. Eine Lösung wäre etwa, dass es mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten braucht, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten.
Warum 55 Prozent der Mitgliedstaaten? Das wären 14 Länder, die für eine Mehrheit notwendig sind (und nicht 13). Und warum 65 Prozent der Bevölkerung? Damit nicht die 14 kleinsten Staaten, die zusammen eine Bevölkerung von etwas mehr als 50 Millionen vertreten, den restlichen 400 Millionen ihren Willen aufzwingen können. Darunter wäre übrigens auch Österreich – zusammen mit Bulgarien, Dänemark, Finnland, Slowenien, die Slowakei, Irland, Kroatien, Estland, Lettland, Litauen, Zypern, Luxemburg und Malta.
Die qualifizierte Mehrheit sichert auch doppelt ab, dass alle sich Gehör verschaffen können. Denn um 14 Staaten für eine Sache zu bewegen, wird es auch kleine Länder wie Österreich brauchen – und um 65 Prozent der Bevölkerung zu vertreten, braucht man mindestens eines der größten Länder der EU. Ein solcher Interessenausgleich macht immer noch Kompromisse nötig, verunmöglicht es aber autoritären Staaten, mit EU-Geldern die Kontrolle über Medien und Justiz zu finanzieren.
EU-Wahl als erster Schritt für mehr Europa
Das einzige Problem mit diesem Vorschlag: Um das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen, braucht es? Richtig: Einen einstimmigen Beschluss. Und dass sich die Staaten, die gerade Probleme machen, selbst ihre Problemverursachungskompetenz rauben, davon ist nicht auszugehen. Dafür fehlt den Bürgerinnen und Bürgern Europas genau das Gegenteil: die europäische Problemlösungskompetenz.
Aber diese Mehrheiten können sich ändern. In Polen etwa wurde 2023 die rechte Regierung der PiS-Partei abgewählt, heute ist das Land wieder auf einem proeuropäischen Kurs. Und dass es auch mit Rechten gehen kann, zeigt das Beispiel Italien – die dortige Rechtsregierung von Georgia Meloni bleibt zwar innenpolitisch bei einem stramm rechten Kurs, erkennt aber, dass ihre außenpolitischen Interessen nur europäisch gedacht werden können. So unterstützt Italien auch mit einer rechten Regierung die Ukraine. Sehr zum Missfallen der FPÖ und anderer europäischer Rechter, die heillos zerstritten sind.
Und bis es die nationalen Mehrheiten für diesen wichtigen Schritt Richtung „mehr Europa“ gibt, bleibt vor allem eines wichtig: eine fortschrittliche, proeuropäische Mehrheit im Europäischen Parlament. Das wird am 9. Juni bei der EU-Wahl gewählt – und da wird auch darüber entschieden, ob eine bessere europäische Zusammenarbeit in den nächsten fünf Jahren realistisch ist.