Europäisches Herzflimmern
Die deutsch-französische Zusammenarbeit wurde und wird gerne als zentrales Element der europäischen Einigung beschrieben, quasi als schlagendes Herz der EU. Doch dieses schlagende Herz flimmert aktuell stark. Ein durch die Parlamentswahlen geschwächter französischer Präsident Macron und ein deutscher Bundeskanzler Scholz, der sich auch durch die Ukraine-Krise in einer schwachen Position befindet: Beide scheinen nicht die nationale und EU-weite Zugkraft zu haben, um die Entwicklung der Union voranzutreiben. Können andere Staaten dieses Vakuum füllen? Oder droht eine neue Phase der Eurosklerose?
Herzflimmern äußert sich oft als Gefühl der Unruhe oder des Unwohlseins. So ein Gefühl herrscht seit einiger Zeit bei den EU-Gipfeln der Staats- und Regierungschefs auch. Nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine scheint eines der wichtigsten Entscheidungsgremien der Europäischen Union den aktuellen Entwicklungen nur nachzuhecheln – die Stimmung ist aufgeheizt. Mit den rechtspopulistischen Regierungen in Ungarn, Polen, Österreich und bis vor kurzem in Slowenien schien kaum Fortschritt möglich. Egal ob Brexit, Kampf gegen den Klimawandel, eine gemeinsame Reaktion auf die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die Teuerungskrise: Der Europäische Rat scheint gebremst und uneinig zu sein. Und zwar mehr als sonst üblich.
Von Kriegsrivalen über Bruderkuss zum geschwächten Herzen
Zurückzuführen ist das teilweise auf die Schwäche der für die europäische Einigung so zentralen Mitgliedsländer Frankreich und Deutschland. Die jahrhundertelangen Feinde wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im Laufe der verschiedenen Entwicklungsstufen zu den wichtigsten Playern der Vereinigung, die sich in die EU entwickeln würde. Der Bruderkuss zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle 1961 nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags, die Freundschaft zwischen Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing, die Versöhnungsgeste von Helmut Kohl und François Mitterand, als sie bei der Gedenkveranstaltung 1984 am Soldatenfriedhof von Verdun beide Hände hielten. Gerhard Schröder und Jacques Chirac und letztendlich Angela Merkel und Nicolas Sarkozy sowie Emmanuel Macron – diese Verbindung war mehr als nur ein Zeichen der enger werdenden Freundschaft zwischen zwei Ländern, es war ein Symbol des Friedensprojekts der Europäischen Union.
Wo stehen wir aber jetzt, 2022? Auf beiden Seiten des Rheins sind die Regierungschefs aktuell innenpolitisch geschwächt, damit ist auch ihre Strahl- und Durchsetzungskraft auf EU-Ebene eingeschränkt. In Deutschland ist Angela Merkel, die eine tiefe Freundschaft mit Macron verband, nicht mehr Kanzlerin. Olaf Scholz, ihr Nachfolger, ist zwar überzeugter Europäer, und als ehemaliger Finanzminister steht er auch in der Tradition von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing, doch die aktuelle Krisensituation rund um den Ukraine-Krieg und sein zögerliches Handeln bei der Unterstützung der Ukraine schmälern seine Handlungsfähigkeit. Darüber hinaus muss der neue deutsche Kanzler auch noch an Einfluss und Ansehen innerhalb der EU arbeiten.
Und Emmanuel Macron muss nach der für seine Bewegung schlecht ausgegangenen Parlamentswahl im Juni 2022 erst einmal wieder innenpolitisch Tritt fassen. Der französische Präsident, der in seiner ersten Regierungsperiode auf EU-Ebene für Furore sorgte und ambitionierte Reformpläne schmiedete, wird erst noch herausfinden müssen, wie weit ihn eine jetzt notwendige Kooperation mit entweder den Konservativen oder dem teilweise EU-kritischen Linksbündnis gehen lassen wird. Diese Zweifel und Unsicherheit schmälern auf jeden Fall seine Zugkraft auf EU-Ebene.
Kein Defibrillator in Sicht …
Gibt es aber Kandidat:innen, die dem schwächelnden Herzen der Europäischen Integration auf die Sprünge helfen könnten? Ob ihrer Bevölkerungsgröße und wirtschaftlichen Stärke würden sich drei Länder eigentlich als Defibrillator oder gar Ersatz-Herz anbieten – Italien, Spanien und Polen. Doch alle drei Länder haben individuelle Gründe, die stärkeren Einfluss auf EU-Ebene verhindern.
- Italien hätte noch vor einigen Wochen mit dem erfahrenen Europäer Mario Draghi als Premierminister eigentlich gute Karten gehabt, doch die chaotische Italienische Innenpolitik, die er gut ein Jahr mit einer breiten Koalition in der fast das ganze politische Spektrum integriert war, in Schacht gehalten hat, hat nun auch „Super Mario“ gestürzt. Im September stehen wieder Neuwahlen ins Haus – und die, oder der neue Premierminister:in wird es nach der Implusion der Regierung Draghi wohl sehr schwer haben, längerfristig ein Standing im Europäischen Rat aufzubauen.
- Spanien leidet unter einem ähnlichen Problem: Vor allem die seit Jahren schwelende Verfassungskrise rund um die Unabhängigkeit Kataloniens bindet so viele Kräfte des Regierungschefs, dass ein stärkerer Fokus auf EU-Politik kaum möglich scheint.
- Und letztlich Polen – das sich mit seiner Annäherung an Ungarn und dem Feldzug gegen die unabhängige Justiz auf EU-Ebene selbst in ein Eck manövriert hat. Es ist schwer vorstellbar, dass sich westliche EU-Mitgliedsländer für eine Charmeoffensive Mateusz Morawieckis erwärmen könnten.
Somit bleibt die Frage: Wie geht es weiter?
Diagnose Eurosklerose?
Droht also jetzt eine längere Phase der stockenden Entwicklung der EU? Werden die nationalstaatlichen Tendenzen in Ungarn und Polen von anderen Mitgliedsländern übernommen, so wie es bereits in der Corona-Krise und in der aktuellen Gas- und Ölkrise zu sehen war und ist? Bleibt die Stimmung nach dem Brexit vergiftet? Stehen wir ohne die treibende Kraft der deutsch-französischen Partnerschaft vor einer Phase der Stagnation? Diese Situation gab es bereits einmal – von etwa Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er geriet die Integration ins Stocken – von Eurosklerose war die Rede.
Doch genau diese Episode kann und soll uns Hoffnung geben. Damals wurde der Reformdruck nach Jahren der Untätigkeit zu groß, ein neuer Schwung erfasste die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Diese Entwicklung mündete dann in einen Meilenstein der Europäischen Integration, den Vertrag von Maastricht, der die Europäische Union schuf. Ansätze für die Arbeit an einer großen strukturellen Weiterentwicklung der EU sehen wir auch heute: Die Konferenz über die Zukunft Europas hat neue Impulse gebracht, aktuell werden Ideen debattiert, die vor einigen Jahren kaum denkbar waren. Der Geist einer neuen Union ist aus der Flasche. Auch der Ukraine-Konflikt hat neue Bewegung gebracht, neben allen Grauen und Leiden der ukrainischen Bevölkerung hat Putins Angriffskrieg die Mitgliedstaaten geeint und auch dem ins Stocken geratenen Erweiterungsprozess neuen Schwung gegeben. Ob die Beitrittsperspektive für die Ukraine mehr als eine meinungsvolle Geste werden wird, muss sich noch zeigen, ebenso ob die EU nicht den Fehler macht, auf die Länder des Westbalkans zu vergessen.
Hoffnungsvolle Heilungsperspektive
Doch wenn wir als Europäer:innen aufmerksam bleiben, wenn Macron und Scholz ihre Rolle finden und die Reformbewegung der Konferenz über die Zukunft Europas weiter Fahrt aufnimmt, dann kann die aktuelle lähmende Stimmung überkommen werden. Die EU sieht aktuell die Strahlkraft, die sie besitzt. In der Ukraine kämpfen die Menschen für ein Leben in Freiheit, Demokratie und in einem Rechtsstaat. Das sind Ideale, die die EU verkörpert. Wir müssen uns dieser Strahlkraft wieder bewusst werden und dafür kämpfen – im Inneren wie nach außen. Dann kann Europas Herz wieder erstarken – und mit ihm die Bürger:innen Europas.