KI: Willkommen im magischen Zeitalter
Wenn die Pandemie etwas gebracht hat, dann einen neuen Boom für die Tech-Konzerne.
In den letzten Jahren, die bei uns durch Lockdowns und Social Distancing geprägt waren, lernten viele von uns, wie man diverse Alltags- und Arbeitstätigkeiten auch über Videochats schaffen kann. Für viele spielte sich das Leben noch mehr auf Social Media ab als ohnehin schon – die Aktienkurse von Facebook, Twitter, Spotify und Zoom schossen in noch nie dagewesene Höhen. (Offenlegung: Der Autor hat am Höhepunkt der Pandemie eine Twitter-Aktie gekauft und bereut es zutiefst.)
Diese Zeit brachte nicht nur verstärktes Interesse an Technologie, sondern auch eine immer lauter werdende Suche nach dem „next big thing“. Crypto-Bros und andere enthusiastische Leute mit neu geschaffenen Berufsbildern erzählten uns über den Feed, was wir unbedingt mit unserem Geld machen sollten, weil die Revolution unmittelbar bevorstünde. Bitcoin stieg, Bitcoin sank, das Metaverse wurde angekündigt, aber noch kaum genutzt. Und am Ende war die große Geschichte eine ganz andere.
Das magische KI-Zeitalter
Spätestens seit der Veröffentlichung von ChatGPT – der künstlichen Intelligenz aus dem Hause OpenAI – haben die allermeisten schon von den neuen Möglichkeiten von KI gehört. Der „Chatbot“, der eben doch etwas mehr als ein Bot ist, kann auf Fragen antworten, umformulieren und genauen Anweisungen folgen. Je kreativer die „Prompt“, also die Eingabe, die man im Chatfenster tätigt, desto kreativer auch das Ergebnis.
Schon Monate zuvor öffnete OpenAI den Zugang zur Bilderzeugungs-KI „DALL-E“, benannt nach dem Künstler Salvador Dalí. Die Alternativen Midjourney und Stable Diffusion, die von Beginn an öffentlich zugänglich waren, sorgten für Konkurrenz am Markt der künstlich erzeugten Bilder. (Anmerkung: Auch die Materie-Redaktion bebildert Artikel seit einiger Zeit mit KI-Tools, z.B. die Texte in dieser und dieser Materie.)
Mit ChatGPT kamen auch die Artikel darüber. „Dieser Artikel ist nicht von mir“ ist ein Titel, auf den ich anfangs stolz war, den aber schon bald auch viele andere nutzten. Politische Reden wurden von einer KI geschrieben, die mittlerweile sogar das Medizin-Examen in den USA meistern kann. Ein kolumbianischer Richter verwendete ChatGPT sogar für die Urteilssprechung. Schnell füllten sich Medien mit Artikeln dazu, was jetzt wieder jemand mit der KI ausprobiert hätte, was sie jetzt wieder könne. Es fühlt sich, um Anleihen bei einem britischen Sci-fi-Autor zu nehmen, „magisch“ an.
Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.
Arthur C. Clarke
Magisch fühlt sich ChatGPT deswegen an, weil der Appeal so offensichtlich klar ist. Während die Web3-Bubble immer wieder daran scheiterte zu erklären, warum eigentlich alles auf die Blockchain soll oder Dinge auch NFTs sein sollten, war auch weniger tech-affinen Menschen sofort klar: Eine KI, mit der ich chatten kann und bekomme, was ich will, ist nützlich. Das einfache Design von ChatGPT macht es umso einsteigerfreundlicher – man muss sich nicht einlesen, sondern kann sofort loschatten.
Ähnlich ist es mit DALL-E: Einfach eingeben, was man sehen will, und los geht’s. Die Alternative Midjourney ist mit ihrem Einsatz über das Programm Discord schon etwas komplizierter, aber auch leicht zu erlernen. Gerade jetzt kommen immer mehr KI-Produkte heraus, die ihre Stunde gekommen sehen und konkrete Probleme lösen können. So gibt es auch schon KIs, die Hintergrundgeräusche entfernen, Musik komponieren oder Bilder zu Videos machen. Die Use Cases sind unbegrenzt. Es sind spannende Zeiten in der Tech-Branche.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Künstliche Intelligenz hat eine dunkle Seite
Der Honeymoon war schön. Trotzdem wurde sehr schnell klar, dass so ein großer technologischer Wandel nicht nur positive Seiten haben kann. KIs werden z.B. mit fremdem Material gefüttert – Midjourney weiß, wie man einen Hund zeichnet, weil es tausende von Hundebildern gesehen hat, die von irgendjemandem fotografiert wurden. Die Profis, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen, sehen keinen Profit davon, sondern züchten unfreiwillig ihre eigene Konkurrenz heran. Das Thema „geistiges Eigentum“ wird durch künstliche Intelligenz in den nächsten Jahren wohl auf den Kopf gestellt werden.
Mittlerweile diskutieren wir auch die Nachteile von KI. Nachdem schnell klar wurde, dass mit ChatGPT auch an Schulen und Unis geschummelt werden kann, wurde der Einsatz auf einer französischen Elite-Universität schon verboten. Ob das sinnvoll ist, sei dahingestellt – immerhin kann KI auch ein neues Mittel für den Alltag werden, auf das man in der Schule vorbereitet werden sollte. Auf Twitter kursieren Geschichten von ersten Hochschulen, in denen die Nutzung sogar nahegelegt wird, weil künstliche Intelligenz in Zukunft immer wichtiger werde.
Aber schnell tun sich auch die Fragen auf, die man mit anderen neuen Technologien verbindet. Wie kann ChatGPT für Desinformation verwendet werden? Wie tricksen Leute die KI-unterstützte Version der Suchmaschine Bing aus, um zu ethisch fragwürdigen Ergebnissen zu kommen? Wie verhindert man, dass andere KI verwenden, um das eigene Gesicht in Fotos einzuarbeiten? Auch künstlich erzeugte Pornografie ist ein problematischer Trend, der sich am Horizont auftut. All das sind Fragen, mit denen sich Politik und Gesellschaft in den nächsten Jahren beschäftigen müssen.
Das positive Potenzial
Trotzdem sollten wir nicht den Fehler machen, sofort in „Doomism“ zu verfallen und nur das Schlechte zu sehen. Ja, KI ist eine neue Technologie, die momentan weitgehend unreguliert funktioniert und viele Lebensbereiche beeinflussen wird. Wir sollten nicht nur daran denken, was schiefgehen kann, sondern auch, welche positiven Veränderungen möglich sind:
In der Medizin wird KI bereits eingesetzt, um neue Heilmethoden zu erforschen – sie wird z.B. genutzt, um die Form von Proteinen festzustellen. In der Industrie werden mit ihr bereits „Prozesse optimiert“, was langweilig klingt, aber nicht nur Geld, sondern auch CO2-Emissionen einsparen kann. Und im Bildungsbereich könnte künstliche Intelligenz ein ähnlicher Gamechanger für den Unterricht sein wie das Smartphone – Stichwort „Du wirst nicht immer einen Taschenrechner dabeihaben“. Wenn das Wissen der Welt mit einer KI verbunden jederzeit zugänglich ist, geht es noch weniger als ohnehin schon ums Auswendiglernen von Fakten, sondern darum, kluge Fragen zu stellen, kritisch zu denken und zu wissen, wie man digitale Werkzeuge nutzt, um zu einer Lösung zu kommen.
Man stelle sich auch vor, was für ein gewaltiges Potenzial künstliche Intelligenz für die digitale Verwaltung hätte. Statt Beamt:innen mit der Wartung persönlicher Daten zu beschäftigen, könnten diese sich hauptsächlich darum kümmern, den Menschen eine Auskunft zu erteilen – künstliche Intelligenz bringt sie in Form, ruft sie ab und sorgt dafür, dass niemand unberechtigten Zugriff darauf bekommt. Und wenn es noch ein bisschen utopischer sein darf: Für die „wirkungsorientierte Folgenabschätzung“, also den wissenschaftlichen Begleitprozess für das Parlament, könnte KI einen enormen Mehrwert bieten. Eine Zukunft, in der plötzlich viel mehr möglich scheint als zuvor, sollten wir in der Debatte rund um die Regulierung von KI nicht aus den Augen verlieren.
Keine Angst vor der KI!
Diese Debatte wird begleitet von Ängsten, die immer aufkommen, wenn neue Technologien dominant werden. Das Buch warnte vor der Zeitung, die Zeitung vor dem Radio, das Radio vor dem Fernsehen, das Fernsehen vor dem Internet, das Internet vor Social Media. Und trotzdem lesen wir immer noch Bücher, auch wenn wir zwischendurch lieber TikToks schauen. Ein Trend, der aus dem Medienbereich kommt, wird sich auch im größeren technologischen Kontext bewahrheiten: Berufe, die durch KI wegfallen, werden neue Berufe schaffen, die durch sie erst entstehen. So wie der Fabrikarbeiter von früher heute ein Facharbeiter ist, der die Roboter kontrolliert, müssen sich die kreativen Freiberuflerinnen von heute nicht fürchten – es wird genauso auch Leute brauchen, die mit KI kreativ sein können.
Heißt das, dass wir nichts zu befürchten haben? Nein. Heißt das, dass die Welt durch KI besser wird? Vermutlich ja. Regulierungsfragen werden zu stellen sein – aber für den Moment sollten wir den magischen Beginn einer neuen technologischen Zeit genießen, die unser Leben für lange Zeit bereichern wird.