Kommt das nächste verlorene Jahrzehnt?
Wir stehen energiepolitisch vor einer doppelten Herausforderung. Die einseitige Abhängigkeit von immer teurer werdendem russischem Gas ist eine volkswirtschaftliche Katastrophe, der Ausstieg alternativlos. Abgesehen von den Kosten ist diese Abhängigkeit von einem Regime, welches ein paar hundert Kilometer von uns einen Angriffskrieg führt, moralisch und politisch absolut untragbar und ein notwendiges Übel, welches umgehend eingestellt werden muss. Österreich steht zugleich vor einer weiteren Herausforderung: dem Wandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft, Mobilität und Energiegewinnung.
Die Klimakrise wird immer akuter – alleine in den letzten Wochen häuften sich derart viele alarmierende Ereignisse, dass es erstaunlich ist, wie wenig politischer Wille besteht, tatsächlich etwas umzusetzen: In Italien bedrohen Rekordhitze und Dürre einen großen Teil der Ernte. Dort steht die Ausrufung des Notstands genauso bevor wie in Teilen Frankreichs, wo Rekordtemperaturen über 40 Grad herrschen und Trockenheit die Landwirtschaft und die Gesundheit der Menschen massiv bedroht. In Indien und Pakistan wurden im April und Mai bereits 50 °C gemessen und dutzende Hitzetote verzeichnet, inklusive großer landwirtschaftlicher Einbußen. In den USA sind tausende Rinder auf ihren Weiden verendet, aufgrund extremer Hitze. Und selbst wenn morgen die gesamte Welt ihre Klimapolitik entsprechend der drastischen Warnungen der Klimawissenschaft anpassen würden, müssen wir uns auf eine heißere und instabilere Welt vorbereiten. Der Handlungsbedarf ist immens, die Hindernisse sind aber groß.
Zwei Probleme, eine Lösung
Glücklicherweise gibt es Synergien, denn Politik gegen fossilen Energieverbrauch ist auch Klimapolitik. Aber die Herausforderungen werden immens sein und Anpassungen und Kompromisse von fast allen erfordern. Sie werden vor allem gegen den erbitterten Widerstand von Akteur:innen geschehen müssen, welche mehr oder weniger offen darauf hoffen, dass der Krieg in der Ukraine nicht im Interesse der Ukrainer:innen, sondern im Interesse der österreichischen Gaswirtschaft ausgeht.
Dafür braucht es sofort ernstzunehmende Schritte bei der kurzfristigen Diversifizierung der Gasversorgung. Es müssen die Alternativen ausgebaut werden: Biogas, erneuerbarer Strom und Geothermie. Diese leiden aber an Bürokratie, langen Verfahren, ausstehenden Gesetzesmaterien, mangelndem Netzausbau, langwierigen Anschlüssen, Fachkräftemangel und vor allem fehlendem politischem Willen. Es ist absolut inakzeptabel, dass nicht rund um die Uhr daran gearbeitet wird. Ähnliches gilt bei der Verbrauchsreduktion: Es gäbe kurzfristig gewaltige Potenziale, wenn man nur wolle.
Es gibt aber auch demografische Herausforderungen. Der Großteil der Wähler:innen (in Österreich, aber auch im Rest der westlichen Welt) ist mittlerweile über 50 Jahre alt. Diese Bevölkerungsgruppe wählt tendenziell Parteien, welche bei Gasausstieg und Klimawandel bisher zögerlich agiert haben, ist statistisch betrachtet weniger flexibel bei notwendigen Verhaltensanpassungen und auch – verständlicherweise – weniger gewillt, langfristige Investitionen (etwa in Sanierungen oder Heizungstausch etc.) zu tätigen. Gleichzeitig sind sowohl beim Gasausstieg als auch beim Klimaschutz die Risiken von sozialen Verwerfungen nicht unerheblich, und das Risiko, dass die Kosten ungleich verteilt werden oder Wohnen noch teurer wird, ist groß und erfordert Lösungen.
Österreich braucht schleunigst einen Kurswechsel
Österreich befindet sich ohne Übertreibung vor der größten wirtschaftlichen Herausforderung seit 1945. Laut verschiedenen Studien droht bei einem plötzlichen Lieferstopp ein Wirtschaftseinbruch von bis zu minus neun Prozent des BIP. Dabei kann die Republik auch nicht auf große Solidarität in der EU hoffen: Durch die bisherige Putin-Politik wurden genauso Sympathien verspielt wie durch die mit abfälligem Populismus gespickte Position als eine der „frugalen Vier“, wenn es um Südeuropa ging. Warum solle uns Italien mit seinen LNG-Häfen und Pipeline-Verbindungen nach Nordafrika entgegenkommen, wenn wir, frei nach Sebastian Kurz, ein Staat sind, „welcher in seinen Systemen kaputt ist“?
Österreich muss schleunigst ein Jahrzehnt energiepolitische Sabotage im Interesse Russlands rückgängig machen und gleichzeitig unser Energiesystem an die Anforderungen einer klimaneutralen Wirtschaft anpassen. Wir müssen auf europäischer Ebene Vertrauen wiedergewinnen und Vorantreiber der Europäischen Energieunion werden. Wir müssen lächerliche Partikularinteressen und Bürokratie überwinden und ins Tun kommen. Jede Woche Zögern vergrößert die Unsicherheit von Wirtschaft und Bevölkerung und ist vergeudete Zeit, die wir uns nicht leisten können. Die Zeit von Floskeln, Showpolitik und nichtssagende Pressekonferenzen ist vorbei.